Shashi Tharoor ist Diplomat und Schriftsteller; er arbeitet bei der UN, wurde sogar 2002, wie sein Verlag mitteilt, von Kofi Annan zum Leiter der Öffentlichkeitsabteilung ernannt, und er schreibt Romane und Sachbücher. Autoren jedoch, so lässt sich westlichen gängigen Vorstellungen entnehmen, sind nur der Realität verpflichtet, die sie also gänzlich undiplomatisch darstellen müssen.
Dieser Shashi Tharoor hat eine Biografie des Gründungsvaters des modernen Indien, Jawaharlal Nehru, geschrieben - wie zwanzig Jahre vor ihm Tariq Ali in seinem Buch Die Nehrus und die Ghandis. Ali hat sich Zeit seines bewegten Lebens durch vieles, aber nicht durch seine diplomatischen Fähigkeiten hervorgetan. In seinem Buch über die Dynastie der Nehrus und Gandhis herrscht ungeschminkter Realismus vor, wenn es um die Herrschaft der Briten in ihrer Kolonie geht, oder die Konflikte innerhalb des indischen Widerstands. Dort ist zu lesen, dass Mahatma Gandhi von Nehru auch schon mal als Bauer tituliert wurde, weil er nach Ansicht des Sohnes eines gebildeten und angesehenen Rechtsanwaltes und Absolventen der britischen Elite-Universität Oxford zu sehr in alten Mythen sich vergrabe und die Errungenschaften der europäischen Aufklärung missachte. Ali gibt auch einen Dialog zwischen den so unterschiedlichen Anführern wieder, in dem Nehru die Vorzüge der Industrialisierung hervorhob und Marx zitierte, Gandhi von der dadurch verursachten Zerstörung der Seele sprach und Nehru mit dem Verdikt "Mystizismus" antwortete.
Tharoor erzählt auch von diesen Auseinandersetzungen und er weicht bei seinem im Frühjahr auf deutsch erschienenen Porträt Nehrus im Grunde nicht von der Darstellung Alis ab. Aber er übergeht die scharfe Polemik, die in der indischen Unabhängigkeitsbewegung herrschte, er schleift die Ecken und Kanten ab und behilft sich, wo soziale Differenzen aufeinanderprallen, mit Psychologismen, indem er das Verhältnis beider als das eines weisen Alten und eines zuweilen ungebärdigen, letztlich aber treuen Sohnes beschreibt. Doch trotz dieser manchmal sehr deutlichen Milde und Abgeklärtheit gelingt Tharoor ein überzeugendes Porträt eines großen Politikers und eines Mannes, der in der westlichen Wahrnehmung häufig hinter der Friedensikone Gandhi verblasst.
Nehru aber war nicht nur der erste Ministerpräsident des unabhängigen Indien, er war dreimal hintereinander Präsident der Kongresspartei - Ali und Tharoor geben beide die Geschichte wieder, als 1937 vor Nehrus dritter Wahl anonym ein warnender Zeitungsartikel erschien, in dem ein "Cäsarentum" Nehrus befürchtet wurde, und sich nach bohrenden Recherchen als Autor niemand anderes als Nehru selbst erwies. Er moderierte in der Gründungsphase des Staates geschickt den Konflikt zwischen Hindus und Moslems, religiösem Traditionalismus und westlichem Denken. Nehru war Sozialist und Kosmopolit und Tharoor breitet viele Belege dafür aus, wie er sich einem kurzfristigen Opportunitätsdenken widersetzte, also tatsächlich große Überzeugungen mit politischem Geschick verstand.
Bertolt Brecht hatte in einem Gedicht einmal versucht, der bürgerlichen Geschichtsschreibung und ihrer Ideologie persönlicher Größe etwas entgegenzusetzen, oder, wie er es zu formulieren liebte, sie umzufunktionieren und vorzuschlagen, diese Größe danach zu bemessen, ob jemand von einer gesellschaftlichen Bewegung nur empor getragen wurde, oder sich ihr in den Weg stellte und ihr widerstand. Das klingt noch immer sehr heroisch und pathetisch, aber Tharoors Nehru-Biografie ist ein Beleg dafür, wie persönliche Integrität, Klugheit und Überzeugungskraft politisch bestimmend und für eine Nation segensreich werden können.
Die Lebensbeschreibung Nehrus und Tharoors neuer Roman über Bollywood sind nicht so unterschiedlich wie die Themen vermuten ließen. Beiden gemeinsam ist das Bestreben des Autors, als Botschafter seines Landes zu wirken. Bollywood ist weniger für ein indisches Publikum geschrieben worden, das kaum etwas Neues über das einheimische Filmbusiness erfahren dürfte. Westliche Leser haben vermutlich schon davon gehört, welch ein Pendant zu Hollywood auf dem indischen Subkontinent besteht, oder wissen vielleicht noch, dass ein den amerikanischen Verhältnissen vergleichbares Starsystem dort eingekehrt ist. Genau wissen außer Cineasten aber wohl wenige, was sich alles hinter dem Etikett "Bollywood" verbirgt, und viele von diesen dürften erhebliche Energien darauf verwendet haben, es wieder zu vergessen. Glücklicherweise liegt Bollywood nicht in Film- sondern in Buchform vor, und da es sich um einen durchaus avancierten Roman handelt, der sich formal von seinem Gegenstand distanziert, begeben wir uns mit dieser Lektüre auf eine Metaebene.
Die Geschichte hat einen richtigen Helden, Ashok Banjara, Sohn eines Ministers und Leinwandstar, ein Pendant zu Arnie, dem bedeutenden Terminator und Gouverneur. In Actionfilmen gibt Ashok eine prächtige Figur ab, doch das Verhängnis nimmt seinen Lauf, als er eine Familientradition fortsetzt und in die Politik geht. Als Hinterbänkler sitzt er seine Stunden ab, der Traum vom eigenen Ministerium verflüchtigt sich, den politischen Intriganten ist er nicht gewachsen. Als er sich wieder dem Filmbusiness zuwendet, kommt es noch ärger, denn mit seinem in der Politik ramponierten Image wird er nur mehr in Mythenschinken eingesetzt, und das ist vermutlich so, als müsste Arnie in einer Neuverfilmung von Das Gewand den Paulus spielen. Als es tiefer nimmer geht, erleidet er einen schweren Unfall und verliert das Bewusstsein. Da der Roman mehrstimmig geschrieben ist, paradieren viele Lebensgefährten am Krankenbett vorbei und erzählen dem komatösen Helden ihre Version der Geschichte.
Ästhetisch gesehen ist also Konventionalität das Thema dieses Textes. Eine Vielstimmigkeit, wie Tharoor sie hier praktiziert, würde offenkundig Actionhandlungen, wie sie im Roman mehrfach in Einschüben über lange, lange Seiten wiedergegeben werden, und die vage an die Plattenkritiken erinnern, mit denen einst Bret Eastin Ellis in seinem Roman American Psycho den Lesefluss verzähflüssigte, sprengen. Es ergibt sich ein schwer auflösbarer Gegensatz, aber wie wir wissen ist der Autor Diplomat.
Was Bollywood von Ellis´ Roman unterscheidet, ist der völlige Verzicht auf satirische Distanz. Der Erzähler möchte, auf formal dezent verschlüsselte Weise, dem Business ein wenig Modernisierung anraten, indem er gemäßigt modernistisch erzählt und seinen Roman mit einer Prise Erotik würzt - für das in diesen Dingen sehr gestrenge Bollywood sicherlich zuviel; würde das Buch zum Drehbuch, auf so manches Anstößige müsste das Publikum wohl verzichten. Nach der Lektüre des Romans steigt die Hochachtung vor einem vermutlich hochsensiblen und geschickten Mitarbeiter Kofi Annans.
Shashi Tharoor: Bollywood. Roman. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Insel, Frankfurt am Main 2006, 413 S., 22,80 EUR
Shashi Tharoor: Die Erfindung Indiens. Aus dem Leben des Pandit Nehru. Aus dem Englischen von Peter Knecht. Insel, Frankfurt am Main 2006, 312 S., 19,80 EUR
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