Wer möchte in der Haut eines Autors stecken, der im September 2008, inmitten des großen Crashs, ein Buch über die Krise der Weltwirtschaft verfasst? Bis zum letzten Termin wollte Lucas Zeise aktuelle Ereignisse berücksichtigen - der 700 Milliarden Bürgschafts-Deal der US-Regierung ist noch drin, für die nachfolgenden parlamentarischen Verhandlungen reichte es nicht mehr. Aber die Leser können beruhigt sein, das Wesentliche ist enthalten.
Zeise datiert den Beginn dieser Krise auf den Sommer 2007. Die US-Investmentbank Bear Stearns ist nicht mehr liquide. Der Staat interveniert, leistet eine Risikoabsicherung von 29 Milliarden Dollar, und die Bank JP Morgan erwirbt das marode Unternehmen für 200 Millionen Dollar - allein das Verwaltungsgebäude von Bear Stearns, so rechnet Zeise vor, ist 1,5 Milliarden Dollar wert. Daraufhin schnellt der Aktienkurs von JP Morgan in die Höhe.
Bereits hier sind die Zutaten für alles weitere enthalten, die Liquiditätskrise, der Beitrag des Staates, Rettung und Verkauf. Außerdem fällt Zeise, der bei der Börsen-Zeitung in Frankfurt und der Financial Times Deutschland arbeitete (aber seine Grundkenntnisse in Politischer Ökonomie kaum dort erworben haben dürfte), nicht der kollektiven Amnesie und interessengeleiteten Blindheit anheim. Zum einen erinnert er daran, wie diese Krise zustanden kam und von klar zu identifizierenden Akteuren produziert wurde. Ein entscheidendes Datum, um die gegenwärtigen Ereignisse zu verstehen, so der Autor, sei die Reform der Londoner Börse von 1986 gewesen. Die Regierung Thatcher gab den britischen Börsenhandel damals auch für ausländische Banken frei. Es kamen Morgan Stanley, Merrill Lynch und Goldman Sachs, also eben jene Akteure, die in den folgenden zwanzig Jahren entscheidend die Privatisierungen in ganz Europa steuern sollten.
Zum anderen zieht Zeise die Verbindungen zum neoliberalen Wirtschaftsmodell, indem er die Finanzkrise als Systemkrise versteht und konstatiert, dass mit ihr die Phase der Globalisierung beendet ist, die vom Finanzmarkt dominiert ist. Sein Buch korrespondiert also mit einer verbreiteten Stimmung vom nahenden Ende einer Epoche. Tatsächlich mehren sich die Anzeichen dafür. Parlamentarische Verschiebungen lassen erkennen, dass eine neoliberale Mehrheit nicht mehr so einfach zu erlangen ist. Die Konkurrenz um Ressourcen verschärft sich, die Phrasen über die Segnungen des freien Marktes stauben in den Denkschriften auf den Gängen der Bertelsmann-Stiftung vor sich hin und die übrig gebliebenen Privatisierungsfetischisten verkrümeln sich vorerst ins Hinterzimmer.
Vor diesem Hintergrund hat Zeise eine verständlich geschriebene, instruktive Analyse verfasst, in der er dagegen votiert, die Krise auf eine bedauerliche Finanzblase, die nur einige Investmentbanken betrifft und von Staat geregelt werden kann, zu reduzieren. Indes meidet der Autor nahe liegende Großthesen wie die vom Untergang der USA oder dem Aufstieg des Krisenprofiteurs China - als einzig verbliebenem Staat, in dem die Gesetze des kapitalistischen Marktwirtschaftens nach wie vor regierten, wohingegen in den USA "der sozialistische Staat der Milliardäre und Banker" ausgerufen worden sei, wie der Publizist Artur P. Schmidt auf telepolis witzelte.
Zeise konzentriert sich auf die Wirtschaft und den Bankensektor, mit allen Vor- und Nachteilen. Er beschreibt detailliert, was an welchem Ort reguliert wurde und genau zu jenem Desaster führte, das im September 2008 für globale Aufregung sorgte. Nicht jeder Fährte folgt er immer konsequent - sicherlich auch deshalb, weil die Historisierung dieser speziellen Phase der Globalisierung noch nicht abgeschlossen ist. Ohne eine Konzentration von Reichtum, konstatiert Zeise, hätten die Finanzmärkte nicht derart dominant werden können. Die Umverteilungen seit den achtziger Jahren, sowenig sie in den aktuellen Debatten um die Milliarden schweren Finanzhilfen der Staaten eine Rolle spielen (dürfen), haben natürlich die Finanzblasen an den Börsen überhaupt erst ermöglicht - und nicht der Computer, wie Tom Wolfe scherzhaft bemerkte. Wenn über eine Rückkehr der "Realwirtschaft" geredet wird, dann gehört dazu auch jene Gesellschaft, von der Margaret Thatcher einst meinte, sie existiere gar nicht.
Diese Umverteilung hat zu erneuerten Machtstrukturen geführt. Statt über diese zu reden, schauen alle zu, wie die Finanzkrise zu weiteren staatlichen Stützaktionen und vor allem einer weiteren Konzentration auf dem Finanzsektor genutzt wird. Alle reden über Fannie Mae, Freddie Mac oder Lehman Brothers, niemand spricht über JP Morgan, also darüber, wer von der Krise profitiert und wie abermals neue Macht- und Reichtumsstrukturen entstehen. Zeise streift diese Debatten, wenn er eine demokratische Kontrolle des Finanzsektors anmahnt. Ernsthaft dürfte jetzt niemand mehr behaupten, die Autonomie der Europäischen Zentralbank sei eine gute und verteidigenswerte Idee, eine Kontrolle der Zins- und Geldpolitik folglich entbehrlich. Zu den Rating-Agenturen sagt Zeise ebenfalls das Nötige. Sie fungierten als eine Art Doktor Watson der Spekulanten, indem sie nach Gusto der Börsen und Investmentbanken Kredite und Kreditpakete bewerteten und immer zur Stelle waren, wenn große Spekulationsprojekte zusätzlicher Unterstützung bedurften.
Kontrolle und Transparenz sind die Zauberworte der Stunde. Ob es um Aufsicht über Steueroasen, Tobin-Steuer oder eine sozial gerechte Umverteilung geht - die Forderungen sind bekannt. Strittig und nicht ausgemacht ist allerdings, wie weit die Eingriffe reichen sollen. Zeise konzentriert sich auf den Finanz- und Bankensektor. Er ist misstrauisch gegenüber allzu viel Gerede über "Transparenz", im sicheren Wissen, dass gegenwärtig die affirmative Kritik eine Hausse erlebt. Kritisiert und gefordert muss etwas werden, allein um Krisenmanagement zu simulieren und Schlimmeres zu verhüten. "Die Party ist vorbei" - mit genau diesen Worten verteidigte die demokratische Präsidentin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die Weigerung der beiden amerikanischen Parteien, das 700-Milliarden-Dollar-Paket der Regierung anstandslos durchzuwinken. Sie fügte hinzu: "Die Zeit der Goldenen Fallschirme für abgehobene Wall Street Akteure ist vorüber. Die Steuerzahler werden für die Rücksichtslosigkeit der Wall Street nicht länger aufkommen."
"Steuerzahler gegen Wallstreet", mit dieser Frontstellung lässt sich wunderbar Stimmung machen, um das Systemimmanente dieser Krise, also das Ende der vom Finanzmarkt forcierten Form der Globalisierung, nicht verstehen und thematisieren zu müssen. Lucas Zeise will mit seinem Buch Ende der Party an dieser wohlfeilen Veranstaltung nicht teilnehmen. Der Autor zieht die Verbindung zu Neoliberalismus und Finanzkapital, beteiligt sich allerdings nicht an einer Diskussion, was dieser Epoche folgen könnte. Der britische Staatstheoretiker Bob Jessop forderte kürzlich statt einer Verstaatlichung der Bankenverluste eine Verstaatlichung des Sozialstaates, inklusive einer Grundsicherung für alle Bürger. An Geld scheint es nicht zu mangeln, an sozialer Fantasie hingegen schon. Betrifft die tiefste Krise nicht den Sozialstaat und die Gleichheit der Bürger in der Gesellschaft? Dagegen sind Pleiten wie die der Investmentbank Lehman Brothers Peanuts.
Lucas Zeise Ende der Party. Die Explosion im Finanzsektor und die Krise der Weltwirtschaft. Papyrossa, Köln 2008, 195 S., 12,90 EUR
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