Ankunft und Abschied

Erdig In Joochen Laabs´ Roman "Späte Reise" steckt der Erzähler zwischen zwei Welten

Lange ist es her, dass die Eisenbahn eine relevante Rolle in der Literatur spielte. Ende des 19. Jahrhunderts war eine Blütezeit dieses Motivs, nicht nur um Themen wie die Beschleunigung des Lebens und seine Durchdringung mit technischen Apparaten zu beschreiben. Der Amerikaner Frank Norris demonstrierte, wieweit die Bahn und mit ihr die Organisation der nationalen Mobilität das ökonomische und politische Leben beeinflusst. In seinem Werk Oktopus gruppierte sich das Big Business um diesen Industriezweig und betrieb en passant den Ruin kleinerer, untergeordneter Industriezweige. Schnell sickerte das Motiv in den Unterhaltungsbetrieb, und ist über Hitchcock und Agatha Christies Orientexpress im Mainstream des Blockbuster-Kinos angekommen. In Steven Spielbergs Krieg der Welten rast ein brennender Hochgeschwindigkeitszug durch die amerikanische Gemeinde. Womöglich ist das ein Bild für den Kasinokapitalismus und die Brandherde, die er überall auf der Welt verursacht. So genau ist das nicht zu sagen.

Jedenfalls ist mit der Bahn literarisch kein Staat mehr zu machen. Mobil sind wir erstens sowieso, und zweitens müssen wir es gar nicht mehr sein, weil es ja das Internet gibt. Nun kommt aber der 1937 in Dresden geborene Joochen Laabs und schreibt einen Roman, in dem die gute alte Straßenbahn eine tragende Rolle spielt. Klar, denkt man, die DDR und die Langsamkeit, vom Westen überrollt, wo einst die Straßenbahn bedächtig klingelte, rauschen heute die Limousinen vorbei.

Aber ganz so einfach ist es nicht. Der in Dresden aufgewachsene Ich-Erzähler wird nach dem Untergang der DDR in eine kleine Gemeinde namens Kaisersaschern beordert. Als ausgebildeter Ingenieur und ehemaliger Straßenbahnfahrer soll er überprüfen, welche Straßenbahnen ökonomisch überflüssig sind. Im Zuge seiner Ermittlungen muss er allerdings herausfinden, dass das, was ökonomisch zweifelsfrei sinnlos ist, bezogen auf das Leben einer kleinen Gemeinde geradezu unentbehrlich sein kann. Der Erzähler erlebt, was passiert, wenn distanzierte Einschätzungen mit gelebten Erfahrungen kollidieren.

Wie kann es nun sein, dass ausgerechnet dieser Erzähler in der Lage ist, seine Wahrnehmung und sein Denken den Verhältnissen anzupassen, also so etwas Altmodisches zu tun, wie zu lernen oder sich überzeugen zu lassen?

In Rückblenden wird das Leben in der DDR erzählt, erste Liebe, erste Schwierigkeiten mit der Bürokratie, Sympathie für den Sozialismus mit menschlichem Gesicht und ansonsten viel Alltag, gemischt aus Erfolg und Frustration - das klingt, außer in der Episode mit den Panzern in Prag nicht aufregend, und Diktion und Sprachrhythmus leiten bedächtig von einem Satz zum nächsten. Wenn der Erzähler durch die Landschaften streift, ähnelt er fast ein wenig Georg Forster, der zwei Jahrhunderte zuvor den Niederrhein durchschreitet, die Beschaffenheit des Bodens und die Besonderheiten der Natur sondiert. Landschaften und Straßenbahnen sind seine Sache, und beides sorgt dafür, dass die Passagen, die vom Leben in der DDR berichten, einen dezidiert erdgebundenen, solide handwerklichen, zuweilen sogar erdigen Grundton bekommen.

Natürlich wird später der Fall der Mauer zentral. Aber Laabs wählt nicht das Genre des Wenderoman, sondern begibt sich fluchtartig in die Vereinigten Staaten. Im bürgerlichen Trauerspiel wäre ein deus ex machina erschienen, oder ein von diesem ausgesandter Bote, der den rettenden Brief oder die nötige Barschaft übergibt. Hier ist es Fred, Freund einer Cousine, der die Einladung an eine Universität in Iowa vermittelt und dafür sorgt, dass der Erzähler den heimischen Aufregungen entfliehen kann. Wenn schon Ankunft im Westen, dann auch gleich im richtigen Westen, diese Konsequenz, mit der einer aus Dresden oder Kaisersaschern direkt nach New York und dann weiter nach Iowa katapultiert wird, lässt Späte Reise aus der literarischen Produktion der Gegenwart herausragen.

Der Flug in die Vereinigten Staaten, die neue Reisefreiheit sind die Erfüllung eines schon als Kind gehegten Traumes - das ist Ost-Realität und Klischee zugleich. Originell ist die Wendung, die dieses Motiv hier erhält. Ein unabweisbares Gefühl ist das des Verlustes. Nie zuvor konnten die meisten Länder besucht werden; doch auf einmal schleicht sich der Gedanke an den Erzähler heran, ob darin nicht womöglich auch ein Vorteil liegen könnte. Auf diese Weise hat er jetzt den ersten und dazu einen unverfälschten Blick auf ein gänzlich neues Land. Die ersten Seiten des Romans, auf denen der Autor den Flug ins Unbekannte beschreibt, gehören zu den besten Passagen des Buches.

Wie in diesem, so ist es auch in anderen Fällen: Es geht um die Herstellung einer Gefühls-Balance. Überraschend gesellt sich der Trauer und der Melancholie über das, was verpasst wurde, die Freude am Neuen bei. Man könnte es die Entdeckung der Gegenwart nennen. Der Autor beschreibt auf überzeugende Weise, wie sie von einander widerstreitenden Zeiterfahrungen durchzogen wird. Die Erfahrungen in Amerika fügen etwas anderes hinzu. Ist die Situation in der DDR durch eine stete Erdung, allein schon durch Beruf und Handwerk, gezeichnet, kommt diese Dimension in den USA komplett abhanden. Es wird luftig auf dem Campus. Der Erzähler mutiert zu einem Zeitzeugen, dem die amerikanischen Gastgeber zuflüstern, was zu sagen günstig wäre, welche Metaphern über das Gefühl, an einem Wendepunkt der Geschichte zu stehen, ankommen werden. Zwischen DDR und USA gibt es keine Mitte mehr, das eine ist verloren, das andere nicht recht wirklich, mehr eine Mischung aus realen Personen und Medienkonstruktionen. Die Nebenfiguren sind nicht weniger seltsam als die Bewohner des Staatssozialismus, lediglich auf andere Weise absonderlich.

Für den Erzähler ergibt sich nun die besondere Schwierigkeit, seine Position zu bestimmen. Er steckt zwischen zwei Welten fest und ist nicht einmal mehr über die Ereignisse in Deutschland auf dem Laufenden. Eine Stimmung des Getriebenseins durchzieht dieses Buch; sie ist nicht einmal negativ konnotiert, eher deutbar im Sinne von Überraschungen, die auf jeder Etappe des Lebens warten. Laabs ist angetreten, die Reize einer späten Reise zu entdecken. Ankunft in einem, Abschied von einem anderen Land, das alles wird zu einem Klischee angesichts neuer Erfahrungen, die es jetzt möglich machen, neu über die alten nachzudenken. In diesem Roman wechseln die Amerika-Kapitel sich mit denen ab, in denen das Leben in der DDR erinnert wird. Beides gehört zusammen, so wie die amerikanische Sicht auf die sozialen Umwälzungen in Deutschland und frühe, zu Ulbrichts Zeiten gehegte Reiseträume miteinander kommunizieren. Laabs kombiniert unterschiedliche Zeiten, verschiedene Zeiten zu einem hervorragenden Roman, der vieles, was zum Klischee geronnen ist, wieder in Bewegung versetzt.

Joochen Laabs: Späte Reise, Steidl, Göttingen 2006, 604 S., 22 EUR


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