Wenn es Spanien nicht gäbe, Peter Handke würde es erfinden. 1989 floh er vor dem Lärm der Geschichte nach Andalusien, um dort eine Jukebox zu suchen, in dem neuen Roman Der Bilderverlust entkommt seine Protagonistin in die unwirtlichen Hügel und Gebirgskämme der Sierra de Gredos. Notorisch wenden sich deutsche Flüchtlinge gen Süden, allein die Topographien der Sehnsuchtsländer haben sich geändert, ergrünte Kulturlandschaften stehen unter Klischee- und Tourismusverdacht, wer´s etwas Karger liebt, signalisiert die Ernsthaftigkeit dessen, der in der Fremde arbeitsam etwas hinter sich bringen will.
Wer in spanische Gebirgslandschaften aufbricht, will Felsmassen zwischen sich und sein bisheriges Leben schaffen. In Handkes Roman zieht eine kleine Karawane der Flüchtigen und Konversionswilligen über die Pyrenäen, an der Spitze eine Bankerin, die viel von sich erzählt, mit persönlichen Daten jedoch geizt und nicht einmal ihren Namen verrät; sie ist prominent, wird auf der Straße wiedererkannt und angesprochen und gilt allgemein als Ikone des Geldbetriebs. Zwar begibt sie sich nicht zum ersten Mal in die Sierra de Gredos, aber ihr jetziger Aufbruch markiert eine Zäsur, denn sie beauftragt einen seit längerem in der Mancha ansässigen Autor mit ihrer Lebensbeschreibung. Auf dem Weg zu ihm durchquert sie die Ansiedlungen Nuevo Bazar und Hondareda, trifft alte Bekannte, unter anderen eine Journalistin, die dort ihre Tätigkeit in der Boulevardjournaille abbüßt, indem sie in einem weltfernen Zeltlager nach ihrer ureigenen Geschichte forscht.
Mit seinem neuen Roman scheint Handke nach seiner proserbischen Stänkerei wieder auf alte Pfade eingeschwenkt zu sein. Er frönt der versponnenen Randgängerei, feiert die sinnliche Erfahrung, lauscht den Bächen und betrachtet Sierra-Oliven und wilde Beeren. Aber so einfach, wie es scheint, ist das nicht. Der Bildverlust ist ein komplexer Roman, der nicht nur und stärker noch als Mein Jahr in der Niemandsbucht die Summe von Handkes literarischer Arbeit darstellt, sondern darüber hinaus in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart einen exponierten Platz einnimmt.
Der Roman sperrt sich der literaturhistorischen Einordnung. Sicherlich ist die Romantik ein Referenzpunkt, ebenso wie die Moderne mit ihrem Traum von einem anderen Leben und ihren Widersprüchen wie denen zwischen Stadt und Land, Natur und Kultur, Einzelnem und Masse. Letztlich aber lässt Handkes konsequenter Anti-Realismus all das hinter sich. Die alten Widersprüche sind zwar hier noch am Werk, verflüchtigen sich allerdings in der dünnen Luft der spanischen Sierra. Die Gesellschaft der Anderen, Zurückgelassenen, bleibt den in den Bergketten Vereinzelten schmerzlich bewusst. Bomber dröhnen durch die Luft, Gewalt und Aggressionen entladen sich in Steinwürfen, einem verbrannten und zertrümmerten Auto und einer Vergewaltigung, und werden sie glücklich vergessen, erinnert binnen Kurzem der Erzähler an die drohende Gefahr eines nicht näher beschriebenen Krieges oder die in der Restwelt dominierenden Gefühle Missachtung, Hass, Ekel und Verachtung. Metaphern wie "Rabenmordmaschine" versinnbildlichen die beunruhigende Gegenwart der Gefahr. Aber diese Hinweise bleiben episodisch. Der Roman ist eine Distanzübung, soweit "bestimmte Negation" im Sinne der Dialektik Hegels wie nötig, soviel eigene und Gegen-Welt wie möglich. Vergleiche mit Traum, Märchen oder Utopie liegen nahe, oder mit einer imaginären Reise in ein unbekanntes Land, wie sie in der frühbürgerlichen Literatur beschrieben wurde, doch sie werden dem Text nicht gerecht. In der Sprache und der Form ist er konkret und gesellschaftsbezogen, zuweilen sogar auf eine Weise, die einer oft gehörten, lamentierenden Kulturkritik verpflichtet ist.
Der Erzähler klagt über den notorischen "Überschriften- und Schlagzeilen-Autor". Das Motiv der Bildüberflutung, der zufolge die vorhandene Bilderwelt restlos aufgebracht sei, kennt man selbst aus den Bildmedien, und das Lob der unverfälschten Naturerfahrung singt in schwachen Momenten selbst der Gen-Ingenieur. Originell ist Handke in der Beschreibung der Gegenwelten. Die Bewohner von Hondareda zum Beispiel besitzen einen Plan von einem "Neuen Leben", leiden jedoch an einem wesenseigenen Ungeschick, das alles Bemühen konterkariert und werden zu "Lug-und-Trug-Existenzen". Wer meint, bereits das Kraxeln in einer Sierra und Identifizieren von Wacholderbeeren genüge zu einer erfolgreichen Konversion, wird widerlegt. Vergeblichkeit und Misslingen lauern hinter jedem Strauch.
Genauso hat die Feier der Natur und der sinnlichen Anschauung ihre Tücken. Adornos Bemerkung aus der Ästhetischen Theorie trifft auch hier: "Kein Fühlender, in dem etwas von europäischer Tradition überlebt, der nicht vom Laut einer Amsel gerührt würde." Zugleich, so der Theoretiker, lauere im Gesang der Vögel das Schreckliche, und selbst wenn ein heutiger Leser den Nachsatz für übertrieben dramatisch hält, dürfte auch ein abgeklärter Postmoderner nicht die Ambivalenz der Naturerfahrung bestreiten. Häufig wird diese mit Gefühlen wie Melancholie oder Sehnsucht nach Ruhe und Frieden assoziiert, und Frieden ist denn auch eines der zentralen Wörter in Handkes Roman, natürlich keines, das unbefangen verwendet werden kann, denn genauso wie Liebe und verwandte Wörter ist es zu einer Werbephrase verkommen. Weniger der Schrecken als Banalität und Ausverkauf bedrohen demnach denjenigen, der im Angesicht der Natur auf bessere, menschenfreundlichere Gedanken kommen möchte.
Wenn denn im Roman nicht alles gelingt, stellt sich die Frage, wer eigentlich scheitert. Erzähler gibt es viele, es ist geradezu erstaunlich, wie viele von ihnen sich in einem so dünn besiedelten Gebiet wie der Sierra de Gredos finden lassen. Neben dem beauftragten Autor treten ein lokaler Geschichtsschreiber und ein Berichterstatter auf, die Bankerin und einige Nebenfiguren erhalten Gelegenheit zur Auskunft, ein Erzähler, der Erzähler genannt wird, hat kurze Auftritte und neben ihnen existieren der übliche Erzähler, der nicht im Roman auftritt, zu schweigen von dem, dessen Autorname auf dem Buchdeckel genannt ist. Der Aufdringlichste von ihnen ist sicherlich der Auftragsschreiber. Lange Jahre lebt er bereits in der Mancha und ist der Heimatsprache soweit entwöhnt, dass er ständig fragen muss, ob seine Wendungen heute überhaupt noch gebräuchlich seien. Leicht ist er als Strohmann des Autors zu identifizieren, der hinter ihm seine tümelnden Sätze und Stilblüten verstecken will, und der Leser darf rätseln, wer nun für Formulierungen wie "ein da angewehtes Nadelhölzchen" oder "allerwärts" davonrauschende Sturzbäche verantwortlich ist.
Handkes Stil ist oft schwergängig. Ewiglange Sätze, Neologismen, Inversionen, Satzsubjekte, die erst am Ende eines langen Satzes preisgegeben werden, so dass Passagen mehrfach gelesen werden müssen, damit die Bezüge verstanden werden, sorgen für Aufmerksamkeit und Konzentration bei der Lektüre. Handke macht es dem Leser nicht leicht und nimmt dadurch in Kauf, dass Ausrutscher erkannt werden. Sein neuer Roman sorgt folglich für Unterscheidungsvermögen. Adornos Amsel, ja, doch, sie ist hier vernehmlich. Vieles in diesem Buch ist geglückt und umso leichter zu entdecken, weil auch die Negativbeispiele nicht fehlen.
Der Roman ist aber gelungen, weil er nicht gelingen kann und das auch nicht verschweigt. Die Wunde, von der Adorno in Bezug auf das Naturschöne sprach, ist hier nicht geschlossen, versprochen wird keine Heilung. Das "Verwandelte-Welt-Erlebnis", das die Hauptfigur für sich reklamiert, stellt sich nur momentweise ein.
Peter Handkes Roman ist in einer "Zwischenzeit" und in einem Zwischenreich angesiedelt. "Da hat etwas angefangen. Da fängt etwas an. Da wird etwas anfangen. Ich werde da etwas anfangen." Er meidet die konkreten Bezüge und Verortungen wie die Pest und wird sie doch nicht los, imaginiert in der vorindustriellen Landschaft der Sierra de Gredos eine Fabelwelt mit eigener Zeit und eigenen Gesetzen, in die aber immer wieder Bomber und Gewalt hereinbrechen und in der das Unvermögen der Bewohner und Flüchtlinge die Geschlossenheit der Gegenwelt verhindert. Handke hat hier eine stilistische Meisterleistung vollbracht, die erst durch die Komplexität der Form zur Geltung kommt. Er evoziert mit literarischen Mitteln Bilder, ohne sich der Mode möglichst bildhaften Schreibens, sei es im beliebten und dafür prädestinierten historischen Roman oder in diversen Pop-Spielarten, an den Hals zu werfen. Der Roman steht quer zu gegenwärtigen Trends und das auch mit dem Gequengel und Gemoser gegen alles, was dem Erzähler nicht passt und was sich doch aus seiner Sierra nicht heraushalten lässt.
Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 759 S., E 29,90
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