Buchmesse In seinem Roman „Peking Koma“ inszeniert der Exil-Literat Ma Jian das nationale Drama vom Tiananmen-Platz.Ein großartiges Buch von kunstvoller Einfachheit
Menschen kochen Essen auf einer Terrakottascheibe; andere kaprizieren sich auf den Beruf des Spiralenentferners, weil viele Frauen das Ein-Kind-Diktat der Partei unterlaufen wollen; wiederum andere glauben noch an Dämonen und prügeln einen Lehrer zu Tode, um dunklen Geistern willfährig zu sein.
All das liegt den hochmodernen Bürgern des Westens so fern, als würde es fernab der zivilisierten Welt geschehen. Der chinesische Autor Ma Jian erzählt diese und viele andere Geschichten in seinem Reisebericht "Red Dust". Drei Jahre unterwegs durch China. Solche Berichte sind von höchstem Interesse für den von der vereinheitlichenden Globalisierung erschöpften westlichen Kulturweltbürger. Längst hat er die Hoffnung aufgegeben, es könnte so e
;nnte so etwas wie eine Außenperspektive auf die Konsumgesellschaft amerikanischen Typs geben. Immerhin hatte er in früheren Zeiten Barbaren und Aliens erfunden, um den Blick von außen auf sich selbst simulieren zu können.Ein neues Kultbuch?Erstaunlicherweise scheint es dieses ganz Andere noch zu geben, so global und uniform die Welt gegenwärtig erscheint, nicht nur andere Sitten, sondern andere Formen und ästhetische Verfahren, um die Welt zu bearbeiten. Selbst die Literaturwissenschaftler hören auf das „Go East“ und entdecken alternative Erzählstrukturen in der fernöstlichen Geschichte – Romanstrukturen, die nicht auf einem Helden oder überschaubarem Personal beruhen, sondern ein kollektives Figurenensemble versammeln, das im Westen nicht seinesgleichen hat; Texte, die nicht narrativ linear organisiert sind, vielmehr einer Textur, einem Gewebe ähneln; eine Prosa, die ein „lyrisches Unbewusstes“ (Ming Dong Gu) besitzt. Der italienische Literaturwissenschaftler Franco Moretti, schlägt eine „vergleichende Morphologie“ vor, um dem literarischen Formenreichtum gerecht zu werden. Ob nun der europäische Roman tatsächlich als Abweichung vom chinesischen Entwicklungspfad begriffen werden sollte, weil in China längst eine elaborierte Romankultur bestand, als dieses Genre in Europa noch nicht einmal mit Drama und Lyrik konkurrierte, ist sicherlich noch nicht entschieden. Aber immerhin besteht mit Blick auf China die Aussicht, nicht notwendig auf die gleichen Waschmittel, die gleichen Softdrinks, die gleichen Stories zu treffen, die mit geringen Variationen auf den hiesigen Märkten zirkulieren.Jians Red Dust wurde von einigen Kritikern mit Jack Kerouacs "On the Road: The Original Scroll: (Penguin Classics Deluxe Edition)">On the road", dem Kultbuch der Beat-Generation, verglichen. Vermutlich sind einige Grundzüge dieses Berichtes vergleichbar – die Einsamkeit, die tramphafte, asoziale Existenz des Reisenden etwa. Aber die Gemeinsamkeiten sind sehr begrenzt. Jians Exodus aus seiner Gesellschaft ist durch hohen äußeren Druck erzwungen.Flucht ins GrenzgebietDer Autor, Jahrgang 1953, beschreibt präzise die Atmosphäre in Deng Xiao Pings China, als die Kampagne gegen „geistige Verschmutzung“ geschätzte eine Million Menschen ins Gefängnis, über zwanzigtausend in den Tod führte. Der Autor hat sich als Fotograf eines Pekinger Großbetriebs verdingt, fällt aber durch Unangepasstheiten aller Art auf, durch lange Haare, Disziplinlosigkeiten, mangelhafte Kenntnis der jeweiligen Parteilinie. Als die Verhaftung droht, verschwindet er, fingiert einen offiziellen Auftrag und begibt sich in den roten Staub der chinesischen Grenzlande. Er irrt durch verlassene Gebiete, riskiert sein Leben und begegnet archaischen Gemeinschaften – Gastfreundschaft und Grausamkeiten liegen nahe beieinander.Jian ist ein illusionsloser Chronist. Er beobachtet und merkt, dass er nicht finden wird, was er sucht – sich selber und China, das er fernab von Peking und Partei in den kulturellen Überlieferungen und Relikten vermutet. Wer sich gleichzeitig Faszination von und Abscheu vor einer fremden Gesellschaft erhalten will, wird von Jian durch tibetische Himmelsbestattungen geführt und erfährt Details aus der Ein-Kind-Politik, die empfindsame Gemüter so genau nicht hätten wissen wollen."Red Dust: A Path Through China">Red Dust" ist in China verboten, 2001 erschien die englische Ausgabe. Sieben Jahre später beendete Jian, der nach einem Zwischenaufenthalt in Hongkong mittlerweile in London lebt, seinen großen Roman über die Studentenbewegung und das Massaker vom 4. Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz.Großartig und auf den Punkt"Peking Koma" ist ein ungewöhnlicher, großartiger Roman. Er hat eine epische Dimension, erstreckt sich aber nur über die wenigen Wochen, die dem Massaker vorausgingen. Jian beschreibt die Demokratiebewegung, die sich zu Beginn des Jahres herausbildete und schließlich auf dem großen Platz in Peking kulminierte.Der überwiegende Teil des Buches konzentriert sich auf die Studenten – die Panzer, die über die Körper hinweg rollen, kommen kurz nur am Ende vor. Fast neunhundert Seiten lang wird penibel beschrieben, wie die Studenten sich organisierten, Sendestationen errichteten, auch untereinander Hierarchien und Konkurrenzen entwickelten, die Partei herausforderten und ungläubig den Gewaltausbruch erleiden mussten.Wie "Red Dust" ist auch "Peking Koma" in einer einfachen, klaren, aber intensiven und vorwärts drängenden Sprache geschrieben, unter völligem Verzicht auf verschachtelte Nebensätze – die Franco Moretti in seiner Analyse der globalen Romanstrukturen als typisch für die westliche Abweichung von der Entwicklung des Romangenres angesehen hatte, weil sie Komplexität und Hierarchie generierten. In Jians Syntax aber existiert keine Hierarchie. Die Sätze bewegen sich gleichmäßig voran, als wären sie konzentriert aufgefädelt worden. Weder eine Klimax noch Abschweifungen oder Unterbrechungen stören ihren Fortgang – es scheint keinen Halt für sie zu geben. Allenfalls äußere Gewalt könnte sie zu einem Ende bringen.Die formale Struktur des Romans reflektiert zusätzlich das Verhältnis von Dynamik und Stasis. Es handelt sich zwar um einen Roman; aber wie in einem epischen Theaterstück treten eine Vielzahl von Akteuren auf einer Bühne auf. Innenleben und Psychologie fehlen völlig. Auch alles, was um den Tiananmen-Platz herum passiert, welche Folgen diese Geschehnisse für die chinesische Gesellschaft haben, wird nur fragmentarisch berichtet. Es wirkt, als würde ein Kameraauge auf das Geschehen auf dem Platz fokussiert sein.Demokratie im KomaDie formale Struktur des Romans treibt die Widersprüche auf die Spitze. Dai Wei, eine Führungsfigur der Studenten, Hauptfigur des Romans – wenn man ihn so nennen will, denn im letzten Drittel erfahren wir erst, dass er groß von Gestalt ist, aber sonst so gut wie nichts Persönliches – liegt im Koma. Eine Kugel hat ihn so verwundet, dass vitale Gehirnfunktionen außer Kraft gesetzt sind. Als lebende Leiche und erstarrtes Denkmal demokratischer Hoffnungen muss er erleben, wie die Geschichte über ihn hinweg schreitet. Freunde besuchen ihn, wandern schließlich in die Vereinigten Staaten aus oder entdecken den Kapitalismus und seine Verheißungen. Natürlich liegen politische Interpretationen auf der Hand – die Demokratie liegt im Koma und alle warten darauf, dass sie wieder die Augen aufschlägt. Aber die kunstvolle Einfachheit der Konstruktion enthält vieles mehr."Peking Koma" inszeniert das nationale Drama vom 4. Juni 1989 aus der Nahperspektive der Studenten. Sie haben auf dem Tiananmen-Platz versucht, aus dem Nichts eine neue Gesellschaft zu formen, doch das Experiment wurde gewaltsam unterbrochen. Niemand wird je erfahren, wie das Stück ausgegangen wäre. Statt neuer Formen der Demokratie herrscht jetzt (die chinesische Variante des) Kapitalismus. Ist das nun eine gänzlich fremde Geschichte, weil die Theorie des „nicht-westlichen narrativen Systems“ in der chinesischen Literatur zutrifft – oder kommt uns diese Story vielleicht doch ein wenig bekannt vor?
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