Bislang wurden Giovanni Arrighis Bücher nicht ins Deutsche übersetzt. Bei vielen ist das bedauerlich. Der 1937 in Italien geborene Politologe, der heute an der John Hopkins University in Baltimore Soziologie lehrt, hat in den sechziger Jahren an afrikanischen Universitäten gelehrt und einiges zur westlichen Imperialismusdebatte beigetragen. Danach begegnete er Immanuel Wallerstein und arbeitete an der Weltsystemtheorie. Eines der Ergebnisse, The Long Twentieth Century: Money, Power and the Origins of our Time, ist ein historiographisches Werk, das nach seinem Erscheinen 1994 schnell international Klassikerstatus erlangte. Eric Hobsbawms auch in Deutschland viel gerühmtes und zitiertes Age of Extremes - Das Zeitalter der Extreme ist übrigens als Entgegnung auf The Long Twentieth Century konzipiert worden.
Die Lösung des Rätsels, warum im Titel seines neuen Buches das Wort Peking herkommt, ist nicht schwer. Alles, was China im Titel trägt, bekommt gegenwärtig einen Verkaufsbonus. Als neuer Wirtschaftsgigant, als möglicher weltpolitischer Gegenspieler der USA, globaler Niedriglohnarbeiter und künftiger Ressourcenvertilger liegt das ehemalige Reich der Mitte im Fokus der Weltpolitik. Arrighis Buch, dessen amerikanische Ausgabe 2007 bereits für ausgiebige Debatten sorgte, kommt da gerade recht, behauptet der Autor doch hier, China sei in der Lage, die Vereinigten Staaten an der Spitze der Weltpolitik abzulösen, und bietet eine umfassende historische und sozialwissenschaftliche Begründung, die allen China-Enthusiasten ein solides theoretisches Gerüst bescheren wird.
Der kapitalistische Pfad
Arrighis Argumentation hat immense narrative Qualitäten. Er schreibt an einer richtig großen Story, nämlich der absehbaren oder zumindest möglichen Ersetzung der Weltmacht USA durch China. Die These ist nicht neu, Arrighis Buch allerdings liefert die bislang avancierteste Begründung. Wie der Titel Adam Smith in Beijing bereits signalisiert, geht die Reise zunächst zurück in das England des 18. Jahrhunderts, das dem bürgerlichen Ökonomen Smith die Grundlage seiner Theorie lieferte. Der Kapitalismus steckte noch in seinen Anfängen, und Smith schrieb über den freien Markt, über nationalen Wohlstand und wie dieser - entgegen der marktliberalen Interpretation dieses Ökonomen - einen starken Staat dazu befähigt, gute Lebensbedingungen für alle Bürger herzustellen. Erst danach setzte das ein, was Karl Marx als spezifisch kapitalistische Entwicklung analysierte.
Diese historische Differenz nutzt Arrighi zu einer grundsätzlichen theoretischen Gegenüberstellung. Smiths marktorientierte Entwicklung gilt jetzt als "natürlicher" Pfad, der arbeits- statt energieintensiv erfolgte. Eine nationale Wirtschaft sorgt für relativ gleichmäßig verteilten Wohlstand und befördert den Binnenhandel und die Konkurrenz unter den Unternehmen. Der kapitalistische Pfad hingegen beruhte auf einem hohen und stets steigenden Einsatz unterschiedlicher Energieträger (Kohle, Öl), der zu Lasten der Ökologie wie der Arbeiter, die freigesetzt wurden, beschritten wurde. Dieser Pfad ist exportorientiert und impliziert die "unendliche Akkumulation von Kapital und Macht" in den Händen von Kapitalbesitzern. Er ist zugleich erfolgreicher und zerstörerischer.
Arrighi wandelt hier auf den Spuren der Weltsystemtheorie, die die Abfolge hegemonialer Systeme von den italienischen Stadtrepubliken der Renaissance bis zum amerikanischen Empire verfolgte. Er verlängert diese Linie in Richtung Ostasien, indem er seine Unterscheidung zwischen arbeits- und energieintensiver Entwicklung auf China anwendet - und sich dabei auf ein schönes Wortspiel verlassen kann. Chinas ökonomische Entwicklung beruhe nämlich auf einer "industrious revolution" (Fleißrevolution), die des Westens hingegen auf einer "industrial revolution". Letztere habe zu der "speziellen Kombination aus Kapitalismus, Militarismus und Territorialismus, der die Globalisierung des europäischen Systems antrieb", geführt. Der chinesische Staat wiederum gründe auf einer wesentlich friedlichen Beziehung zu den Nachbarstaaten, und sein Modell der Entwicklung sei insgesamt konfuzianischer, also mehr auf soziales Gleichgewicht und stärker auf Anpassung an die Natur statt Beherrschung der Natur ausgerichtet.
An dieser historischen Bestandsaufnahme ist vieles überzeugend. Über die gewichtige, vielleicht sogar entscheidende Rolle, die eine rücksichtslose militärische Eroberung und Gewalt bei der Erringung der westlichen Vorherrschaft spielten, lässt sich kaum streiten. Kontroverser allerdings ist der Frage zu begegnen, ob das ehrwürdige Reich der Mitte tatsächlich anders verfuhr und Zentrum eines wesentlich zivilen Handelsnetzes war.
Sicherlich trifft Arrighis Hinweis zu, China würde gegenwärtig den ehemaligen Ländern der Dritten Welt günstigere Kredite gewähren als der IWF, die zudem frei seien von politischen Auflagen oder Drangsalierungen, wie sie im Rahmen des Washington Consensus, dem gemeinsamen Konzept von IWF und Weltbank, üblich sind. Damit aber ist noch nicht entschieden, ob dies einer grundsätzlichen Entscheidung entspringt oder lediglich dem Verhalten eines Neuankömmlings auf einem Markt entspricht, der den Kunden bessere Konditionen zubilligt, um Marktanteile zu erwerben und sich dann den allgemeinen Gepflogenheiten anzupassen.
Im Reich der Mitte
Der Ausgang ist offen; Arrighis Buch weitet die Perspektive für diese und andere Diskussionen, es ist anregend, auch wenn viele Annahmen zweifelhaft sind oder der historischen Überprüfung nicht standhalten. Fraglich ist etwa die Gegenüberstellung von westlicher "industrial revolution" und östlicher "industrious revolution". An Fleiß haben es die europäischen Fabrikarbeiter des 19. Jahrhunderts sicherlich nicht mangeln lassen - und inwieweit fernöstlicher Fleiß die Gewähr bietet, nicht in Arbeitslosigkeit und Elend zu enden, ist ebenfalls alles andere als sicher.
Dennoch fällt es schwer, diesen Thesen jegliche Plausibilität zu versagen. Die chinesische Gesellschaft befindet sich in einer äußerst widersprüchlichen Situation, folglich existieren ungleich weitere Perspektiven als im Westen. Zum einen finden sich durchaus Belege für Arrighis Argumentation. Zudem enthalten sie ein Denken in Möglichkeiten. Eine womöglich defizitäre Vorstellungskraft muss nicht das heute noch Unwahrscheinliche oder schwer Denkbare diskreditieren.
Einer viel gehörten Einschätzung zufolge befindet sich China auf dem sicheren Weg einer kapitalistischen Entwicklung, und das bedeutet im Neoliberalismus - das Beispiel der Sowjetunion im Sinn - die Produktion von gleichermaßen Superreichtum wie Armut. Nach Deng Xiao Pings "Reformen" und der Ära Jiang Zemins von 1989 bis 2002 trifft das auch zu. Danach, unter Hu Jintao und Wen Jiabao, nach zahlreichen lokalen Rebellionen und nicht mehr zu übersehenden sozialen Ungleichheiten, wurde gegengesteuert; viele westliche Ökologen loben mittlerweile die chinesische Umweltgesetzgebung - im Wissen um deren ungewisse Umsetzung, aber in der Hoffnung, staatlicher Dirigismus könne mehr bewirken als der freie Markt. Was angesichts des Desasters, das der Kapitalismus aktuell anrichtet, nicht schwer zu sein scheint.
Ob allerdings ein "neues Bandung", eine Angleichung der Machtverhältnisse zwischen den Ländern der Südhalbkugel und denen des Nordens bevorsteht, wie Arrighi in Anlehnung an die Konferenz in der indonesischen Stadt Bandung 1955 prophezeit, in der zum ersten Mal die Solidarität asiatischer und afrikanischer Länder beschworen wurde, weiß zur Zeit eher ein blinder Seher als ein empiriefester Soziologe. Unsicher ist auch das Terrain, wenn es um den Fall des untergehenden amerikanischen Empires geht. The Decline of American Capitalism hat der Marxist Lewis Corey in einer umfassenden, ökonomisch begründeten Analyse bereits 1934 vorausgesagt - kurz vor dem New Deal. "The Eagle has Crash Landed", meint nicht nur Immanuel Wallerstein heute. Nach Barack Obamas Wahl dürfte es ein paar Decline-Propheten weniger geben, aber da an den immensen ökonomischen Problemen der USA nicht zu rütteln ist, könnte Arrighi mit seiner Prognose nicht weit entfernt von der Realität liegen.
Sargnagel für den Adler
Anzuzweifeln jedoch ist seine Form der Periodisierung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätten die USA versucht, einen Weltstaat zu bilden, nach dem Vietnam-Krieg sei das Scheitern dieses Projektes offenkundig geworden und ordinäre Erpressung an die Stelle legitimen Schutzes getreten. Der "steile Rückgang der Fähigkeit der USA zur Schutzgeld-Extraktion von Klienten" ist in Arrighis Sicht so etwas wie der Sargnagel für den amerikanischen Adler.
Vielleicht kommt es tatsächlich so deftig. Genauso aber könnte vorerst nur das Ende des Washington Consensus und des Neoliberalismus eingeläutet werden. Der Konjunktiv ist in diesen aktuellen Debatten eine privilegierte Zeitform. Giovanni Arrighi hat sich auf ein offenes Feld begeben, provokative und zum Teil angreifbare Thesen aufgestellt. Häufig reizen seine Argumentationen zum Widerspruch, aber anregend ist sein Buch auf jeden Fall. Wer an einer "Genealogie des 21. Jahrhunderts", wie der Untertitel lautet, interessiert ist, findet hier reichhaltiges Material. Adam Smith ist in Beijing angekommen. Vielleicht trifft er dort ja Karl Marx und die beiden beginnen eine Konversation darüber, ob ein nationalstaatlich gebändigter, polyzentrischer Markt-Kapitalismus oder eine Fortsetzung des westlichen Imperialismus - mit wem an der Spitze auch immer - die wahrscheinlichere Perspektive für das 21. Jahrhundert ist.
Giovanni ArrighiAdam Smith in Beijing. Die Genealogie des 21. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Britta Duttke. VSA , Hamburg 2008, 518 S., 36,80 EUR
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