Selten kam eine linke Ideologiekritik, die sich mit konservativen Schriften beschäftigte, ohne den Hinweis aus, ein mühseliges und selbstquälerisches Geschäft zum Nutzen der nun aufgeklärten Allgemeinheit betrieben zu haben. Der Mangel an Distanz, der den konservativen Texten per definitionem häufig eingeschrieben ist, führt folgerichtig dazu, dass auf Distanz beruhende stilistische Mittel ausgesprochen spärlich eingesetzt werden. Wer satirischen Esprit, originelle Assoziationen oder überraschende Metaphern sucht, wird nicht zu Oswald Spengler, Houston Stewart Chamberlain oder Martin Walser greifen. Die linken Hoffnungen auf aufgeklärte Konservative, die zum intellektuellen Streit bereit und in der Lage sind, haben sicherlich verschiedene Ursachen, und gründen nicht zuletzt darin, dass die rechte Ideologie in diesem Fall einen beträchtlichen Teil ihrer Massenwirkung verlieren dürfte. Aber spätestens seit dem aggressiven Nationalismus der Jahrhundertwende sollte sich diese Hoffnung wohl erübrigen und auf die Klage über abscheuliche Stilistik und mangelnde Konsistenz beschränken.
Auf der Suche nach einem konservativen Autor, der belegt, dass auch eine andere Entwicklung der politischen Rechten möglich gewesen wäre, ist der Eichborn-Verlag schon vor einiger Zeit auf Gilbert Keith Chesterton gestoßen, den Engländer, dessen literarische Produktivität der Legende nach hervorragend mit seinem Durst korrespondierte. In der Figur des Paters Brown unternahm es Chesterton ab 1911, in der Form des Detektivromans die Moderne mit der Kirche zu versöhnen, getreu seinem zuvor veröffentlichten Credo, dass, der allgemeinen Überzeugung zuwider, die orthodoxe klerikale Lehre auch im 20. Jahrhundert die richtigen Antworten zu geben weiß. 1905 erschien seine Polemik gegen die Ketzer, drei Jahre später die von Rezensenten angemahnte Schrift über die richtige Lehre.
Chesterton stand vor dem Dilemma, dass er die Welt hervorragend gelungen, die Moderne allerdings abscheulich fand. Er hasste ihren Relativismus, ihre Leere und Gefühlskälte, die kosmopolitischen Allüren und ästhetische Überspanntheit. Aber statt nun "Antichrist!" zu schreien, versuchte er sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, polemisierte, witzelte und argumentierte. Seine Feinde schätzte er dabei so hoch, dass er sie zwar in dem Ketzer-Buch immanenter Inkohärenz überführte, aber in Orthodoxie auch nicht von ihnen lassen mochte. H.G. Wells, immer wieder G.B. Shaw, Nietzsche, die Sozialisten und kompromisslerische Theologen sind seine Favoriten, aber hinter ihnen lauert noch einer, der ihn so geärgert haben muss, dass er es nicht über sich brachte, ihn, wann immer er ihn meinte, auch zu erwähnen. Der Snob, also Oscar Wilde, verkörperte alles, was Chesterton bekämpfte, und doch konkurrierte er mit ihm und liebte die Pointe genauso wie der Dandy. Sein Humor allerdings ist bodenständiger und mehr auf Überzeugung als auf Bewunderung und den Gestus überlegener Brillanz gerichtet.
Chestertons eigener Standpunkt definiert sich meistens ex negativo. Signifikant ist auch, dass er, wenn er ihn im zweiten Teil von Orthodoxie expliziert, seinen eigenen Lebens- und Erkenntnisweg als Muster anführt. Die Industrialisierung hatte die Welt entzaubert und die Soziologie die Theologie adoptiert, indem sie ein religiöses Bedürfnis konstatierte, das die Zumutungen der instrumentellen Vernunft erträglicher gestaltete. Chesterton war einer der ersten, der die Gelegenheit erkannte. Technisch hochentwickelte Gesellschaften schreien nach einer Wiederverzauberung der Welt, danach, an Märchen und Elfen glauben zu dürfen; sie suchen nach einer einfachen Moral und flüchten sich zu den Halbwahrheiten des gesunden Menschenverstands. In seiner Verteidigung der Orthodoxie eröffnet Chesterton allerdings Möglichkeiten, die von der verteidigten Institution nicht entfernt genutzt wurden. Seine Erklärungen reichen von Ratschlägen, möglichst nicht in schlechter Stimmung mit dem Trinken zu beginnen, denn allein "das poetische Trinken, das fröhlich ist und von Herzen kommt" sei anzuempfehlen. Er verstieg sich bis zu dem Lob einer kirchlichen Lehre, die keine Farben mische, sondern die Extreme bestehen lasse, indem sie die egoistische Bereicherung anerkenne und gleichzeitig verdamme, Zölibat und Familie propagiere, mal für den Kampf und dann wider für den Frieden sei. In solch einer Lehre herrsche, so Chesterton, anders als in der holistischen Moderne, die größtmögliche Freiheit.
Als sein liebstes Stilmittel benannte Chesterton das Paradox. Warum zum Beispiel sagt man, das Weltall sei groß, wo es doch nur das Weltall gebe, folglich ein externer Maßstab fehle, so dass man genauso gut behaupten könne, es sei klein? Doch auch wenn solche Paradoxe sich häufig als Pseudo-Dialektik entpuppen, schmälert das nicht die Pointe. Mit ihr lässt sich nicht nur im Wirtshaus Eindruck schinden. Selbst wenn am nächsten Morgen der Denkfehler erkannt wird, war es bestimmt ein lustiger Abend, und das ist nicht nur für einen geschworenen Traditionalisten eine ganze Menge. Nur schade, dass Chesterton nicht den aristokratischen Salon betrat und Oscar Wilde nicht den ordinären Pub frequentierte. Seinen besten Platz aber hätte Chesterton an der Seite von Emma Peel und John Steed gehabt, in den Avengers, jener legendären Serie, die soviel Zuneigung für unzeitgemäße, skurrile britische Typen hatte. Miss Peel hätte ihn ins Herz geschlossen.
Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Eine Verteidigung der Orthodoxie gegen ihre Verächter. Aus dem Englischen neu übersetzt von Monika Noll und Ulrich Enderwitz, Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 1998, 294 S., 27, 50 EUR
Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. Eine Handreichung für die Ungläubigen. Neu übersetzt von Monika Noll und Ulrich Enderwitz, Eichborn Verlag, Die Andere Bibliothek, Frankfurt am Main 2001, 307 S., 22, 90 EUR
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