Linkes Leben ohne Reue

Familienbetrieb Eric Hobsbawm hat mit "Gefährliche Zeiten" eine Autobiografie geschrieben, die man tatsächlich lesen kann

Historiker schreiben zwar gerne dicke Bücher, aber nur selten Autobiographien. Sie verbringen lange Jahre ihres Lebens in Archiven und studieren Quellen und Statistiken. Aufregend oder mitteilenswert ist das nicht. Hinzu kommt, dass die Autobiographie das am meisten misshandelte Genre der Zeit ist. Die Beschreibung eines einzelnen Lebens in der Form von Bekenntnissen, die den Lesern einen Spiegel vorhalten, in den zu schauen eine persönliche Bereicherung darstellt - das ist selber eine archivarische Aussage geworden, die so gut wie keine empirische Grundlage mehr hat. Ein kurzer Blick in Buchhandlungen, auf den dort gestapelten Schwachsinn, verleidet einem das Genre gründlich.

Aber es gab die begründete Vermutung, dass die Autobiographie Eric Hobsbawms eine Ausnahme darstellen könnte. Einiges war bekannt, die Geburt 1917 in Alexandria, die Jugend in Wien und Berlin, in den dreißiger Jahren die Auswanderung nach England und dann das Leben eines kosmopolitischen linken Historikers. Vieles, was Hobsbawm in Interviews bekannt gab, hätte der interessierte Zeitgenosse gern genauer gewusst, zumal dieses Leben wie bei vielen der Altersgenossen unauflöslich mit seinem, dem extremen, katastrophischen Jahrhundert verschränkt ist. Als Historiker bot er immerhin die Gewähr, dass seine Bekenntnissucht sich in Grenzen hält. Das Ergebnis, Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, bestätigt diese Annahmen.

Über sein privates Leben gibt er so weit Auskunft, wie es nötig ist. Psychoanalytiker werden hier nicht viel finden, obwohl Hobsbawms Kindheit und Jugend reich an traumatischen Erfahrungen sind. Die Eltern starben früh, der junge Eric kam bei wechselnden Verwandten unter und besuchte sieben verschiedene Schulen. In Berlin erlebte er den Aufstieg der Nazis und ihm wurde klar, dass er einem entscheidenden Augenblick des Jahrhunderts beiwohnt. Irgendwann in diesen Jahren, in denen sein politisches Bewusstsein erwachte, fiel die Entscheidung für den Beruf des Historikers; als er ein Stipendium für Cambridge erhielt, war er sich bereits seiner beruflichen Wünsche bewusst.

Hobsbawm sucht in seinen Beschreibungen von Wien, Berlin, Cambridge nach der Perspektive dessen, der er damals war, und weiß natürlich, dass ein alt gewordener Historiker diese nicht finden kann. Auf dem Umweg über die Geschichte versucht er herauszubekommen, wie sein Leben damals gewesen sein könnte und liefert dabei hervorragende Einsichten etwa in das britische Universitätsleben, das "rote Cambridge" in den dreißiger und vierziger Jahren. In seinem berühmtesten Buch, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhundert, tauchte er immer wieder als der Autor auf, der als Zeitgenosse den großen Ereignissen beigewohnt hatte.

Seine Autobiographie kann als Ergänzung und Fortsetzung gelesen werden. Sie ist ausgezeichnet geeignet um herauszufinden, wie unter diesen Bedingungen eine Biographie verlaufen konnte, wie die großen geschichtlichen Ereignisse in Lebensläufe einbrachen, sie ablenkten, veränderten, und zugleich ein eigener Weg, ein Ausweg aus den privaten und gesellschaftlichen Katastrophen möglich wurde. Für Hobsbawm waren es die Arbeiterbewegung und der Marxismus, die eine Art Kraftzentrum bildeten. Er studierte die Theorie, der er Zeit seines Lebens anhängen sollte, und knüpfte Kontakte innerhalb der Linken, die ihm neue Länder, neue Forschungsgebiete erschlossen.

Die Jahrzehnte nach dem Krieg waren weniger aufregend; die gefährlichen Zeiten waren in Europa vorbei, und dem Historiker stellt sich die Frage, wie er sein Leben weiter erzählen soll. Politische Funktionen hat er nie übernommen; die Karriere kam mäßig voran, denn seine marxistische Überzeugung war hinreichend bekannt. Das Leben wurde langweiliger, und Hobsbawm weigert sich beharrlich, einem möglichen abflauenden Interesse durch private Plaudereien zu begegnen. Stattdessen schreibt er über die Nachkriegslinke, den Marxismus, die Achtundsechziger, die KPI, bekannte oder zu Unrecht weniger bekannte Zeitgenossen oder seine Lehrtätigkeit in New York. Persönliche Begegnungen werden nie aufs Anekdotische verkürzt. Es gibt auch keine Botschaften, die untergebracht werden müssen, und schon gar keine Rechtfertigungen, warum er immer Marxist blieb. Der Verbleib in der KP Englands nach 1956 wird kurz reflektiert - es ging in ihr sehr familiär zu, seine kritische, nicht-stalinistische Position sei hinlänglich bekannt gewesen, ausgeschlossen habe man ihn aber nicht, und so sei er halt dabei geblieben.

Warum sollte er auch etwas bereuen? Seine Überzeugung führte ihn, noch bevor er ein weltberühmter Historiker war, sicher durch die Welt. Überall fanden sich Freunde und Genossen, die ihm Erfahrungen und Anregungen boten, die er dann in seinen Büchern verarbeitet hat. Heute würde man von Netzwerken sprechen, früher leisteten die kommunistischen Parteien und universitäre Freundschaften dieselben Dienste. Für einen kosmopolitischen, linken Intellektuellen waren die fünfziger, sechziger, siebziger Jahre eine großartige Zeit. Seine Reisen nach Lateinamerika, Italien, die Lehrtätigkeiten in New York, Frankreich, halfen ihm enorm, die frühen Bücher über Sozialrebellen und andere, renitente Bewegungen zu veröffentlichen. Wenn es etwas gab, das ihn an einen Ort band, dann muss es die Historikergruppe der KP Englands gewesen sein. Über sie schreibt er fast liebevoll, wie über eine Familie, die man nicht gerne verlässt.

Für alle, die wissen wollen, wie um alles in der Welt es möglich sein kann, angesichts des Realsozialismus im 20. Jahrhundert kein Renegat zu werden, ist dieses Buch nicht geschrieben. Für Intellektuelle seiner Generation lag die Entscheidung für die kommunistische Bewegung nahe, und allen Deformationen der ursprünglichen Ideale zum Trotz gab es gute Gründe, ihnen nicht abzuschwören. Es wäre fahrlässig, sein Buch im Hinblick auf diese modische "Warum?"-Frage zu lesen. Hobsbawm hat Ein Leben im 20. Jahrhundert beschrieben - wer irgendwann im 21. oder 22. Jahrhundert wissen will, wie so etwas ausgesehen haben kann, wird ein dankbarer Leser sein.

So nebenbei hat dieser Historiker auch die Debatte um das Genre der Autobiographie souverän unterlaufen. Dient es nun qua definitionem der Mythisierung des bürgerlichen Ich, der Verklärung etwa großer Politiker und anderer kleiner Geister, und ist deshalb von einem aufrechten Linken abzulehnen? Ein wenig voreilig ist diese verbreitete, aber orthodoxe Sicht. In der Verbindung von persönlichem und gesellschaftlichem Leben wird die Geschichte, durch die Einbettung in den historischen Kontext ein möglicher Lebenslauf verständlich. Eric Hobsbawms Autobiographie ist ein Beleg, wie eine solche Methode funktionieren kann.

Eric Hobsbawm: Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert, Hanser, München 2003, 499 S., 24,90 EUR


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