Die portugiesische Revolution hat die Diktatur gestürzt, aber da sie damit nur den Abriß eines baufälligen Gerüsts vollzog, reichte der Elan der Revolte nicht aus, die Protagonisten der Romane von António Lobo Antunes mit neuem Leben auszustatten. Die Autokraten in Der Reigen der Verdammten oder Das Handbuch der Inquisitoren dämmern moribund vor sich hin und nehmen die Gewissheit mit ins Grab, dass ihr Besitz aufgebraucht ist und alle Erbberechtigten - debil und zu einer sozial erträglichen Existenz untauglich - fürs Leben gezeichnet sind. Sie hinterlassen Monaden, die keine Erlösung finden, sich in ihren Erinnerungen verschanzen und sich verhalten wie ein langjähriger Strafgefangener, dem die anstehende Entlassung nur wie eine Bedrohung erscheinen kann. Fern davon, eine "Lokomotive der Geschichte" zu sein, wie es Marx für die bürgerlichen Revolutionen ausdrückte, und damit in wenigen Monaten die Arbeit von Jahrzehnten allmählicher Entwicklung zu vollbringen und im Bewusstsein der Zeitgenossen das Gefühl eines rascheren Vergehens der Zeit auszulösen, hat die Nelkenrevolution in den Romanen von Antunes das Zeitgefühl der Figuren nicht verändert. Dass Kollaborateure den Wandel als bedrohlich empfinden und den Blick notorisch in die Vergangenheit richten, ist einleuchtend, aber alle, die selbst auf äußerliche Weise mit dem Regime in Berührung standen, werden durch dessen Hinterlassenschaft belastet. Für sie scheint die Zeit nur die Form zu sein, in die die vorrevolutionären Erinnerungen gegossen werden, und die ihre ultimative Festigkeit beweist, wenn aktuelle Begebenheiten eingepaßt werden. Durch die Konzentration auf wenige Orte und eine nur geringfügige äußere Bewegung erzeugt Antunes den Eindruck einer beinahe stillstehenden individuellen Geschichte. Wenn eine Ortsveränderung, ein Szenenwechsel stattfindet, so sind diese ohne Auswirkungen auf das Innenleben der Figuren. Nur konsequent ist in Anweisungen an die Krokodile der innere Monolog die adäquate Technik.
Vier Frauen sind ein passiver Teil einer rechten Verschwörung gegen die portugiesische Revolution. Die Konspiration bleibt nur Episode in ihren Erinnerungsmonologen. Alle vier erhofften sich am Ende ihrer Kindheit einen sozialen Aufstieg, das Ende bitterer Armut und eine intakte Familie, die mehr Schutz bieten als Liebe gewähren sollte. In dem Maße aber, in dem der Wunsch Illusion wurde, waren sie auf sich selbst zurückgeworfen und es blieb ihnen lediglich, das abgelaufene Leben zu rekapitulieren. Fátima, die sich von ihrem Mann getrennt hat und beim Patenonkel, einem Bischof, in einer quälenden Beziehung lebt, versucht ihre Wohnung gegen äußere Eindrücke abzuschirmen, gegen die Sonnenstrahlen, die ihr nachstellen, und menschliche Annäherungen, die sie behelligen. Mimi ist taub und wurde vermählt, weil sie pflegeleicht und für eheliche Dienste tauglich war. Antunes hat ihren inneren Monolog mit einer natürlichen Ursache motiviert, und da sie auf diese Weise die Abschließung gegen die Umgebung symbolisch verkörpert, ist ihre kindliche Traumwelt besonders reich und intensiv dargestellt. Mit Hingabe versetzt sie sich in die Jugendzeit ihrer galizischen Großmutter, vertauscht die Zeiten, stellt sich vor, was wäre, wenn das jetzt großmütterliche Kind, das sie auf einem vergilbten Photo erblickt, an ihrer Seite wäre, und verwirklicht damit am konsequentesten die Vorstellungen ihres Autors. In den Monologen der Frauen verschwimmen die Zeitebenen. Die Vergangenheit ist gegenwärtig, Accessoires aus früheren Jahren leben wieder auf, entschwundene Personen sind genauso präsent wie die Ehemänner und Verschwörer.
Natürlich erinnert das Erinnern an Proust und dessen Inspirator Bergson. Aber bei Antunes, in dessen Buch Gedankenassoziationen eine ähnliche Bedeutung besitzen wie in dem seines berühmten Vorgängers, entsteht aus der Kombination kein neuer Sinn - es sei denn einer, den ein nicht endenwollender Albtraum gewährt. Bergson verglich einmal das Gedächtnis mit einem Schneeball, der auf seiner Laufbahn unterschiedliche Schichten vereint. In der Biographie des einzelnen sorgt die solcherart akkumulierte Materie für einen Grad an Spannung, der ein mehr oder weniger intensives Leben symbolisiert. Die Synchronie bei Antunes dagegen impliziert das genaue Gegenteil. Da niemand mehr etwas von seinem Leben erwartet, ist so etwas wie Gespanntheit obsolet geworden. António Lobo Antunes beschreibt in Anweisungen an die Krokodile, dass unter bestimmten Umständen Gedächtnis und Erinnerung anders funktionieren, dass sie keinen individuellen Sinn generieren, sondern destruktiv und regressiv verfahren. Mit ungeheurer Bildkraft und sprachlichen Fähigkeiten enthüllt Antunes die soziale Prägung der Gedächtnisfunktionen.
Doch die Zurückdrängung ins individuelle Erleben und die Fokussierung auf begrenzte Räume und Zeiten hat nichts Obsessives an sich, genausowenig, wie sein Festhalten am gleichen Sujet, der Nelkenrevolution und ihrer Vor- und Nachgeschichte, eine persönliche Obsession darstellt. Im Prozess der Fokussierung und Konzentration öffnet sich ein Raum unterschiedlicher Deutungen, so dass der poetische Text mit seinen elegischen Wiederholungen, seinen Assoziationen und Gegensatzpaaren - privat oder gesellschaftlich bedeutsam, früher und jetzt, Mann oder Frau - eine stets neue, aktuelle Dimension gewinnt. Immer wieder durchbricht der Autor assoziativ die Gegensätze. Eine Familienszene, bei der eine Mutter das Blut des erkrankten Mannes wegwischt und mit der Frage befasst ist, ob sich die Flecken wohl wieder entfernen lassen werden, wird verbunden mit der Imagination ermordeter Kommunisten. Nichts ist nur das, was es ist. Durch gedankliche Verknüpfung enstehen neue Bilder und unerwartete Kombinationen.
Warum sollte António Lobo Antunes beinahe drei Jahrzehnte nach der Revolution immer wieder Bücher über sie schreiben? Täte er dies, um zu beweisen, dass die Diktatur in den Körpern der Menschen noch lebendig ist, hätte er nur eine Binsenweisheit ausgesprochen.
Wie seine früheren Romane erzählt auch dieser von Macht und Gewalt, und die erzählte Zeit ist das Portugal der siebziger Jahre. Anweisungen an die Krokodile ist aber vor allem ein Roman über Wünsche und Enttäuschungen und über die Mechanismen kollektiver Erinnerung. Antunes hat ihn in einem Land geschrieben, das sich nichts mehr von sozialistischen Bodenreformen, aber alles von einer Aufnahme in die Europäische Union erhofft.
Die Geschichte produziert Erfahrungen, die sich im Gedächtnis anreichern und dort nicht nur schöpferisch tätig sind, sondern ebensogut Destruktivkraft entwickeln können. Henri Bergson beschrieb in Materie und Gedächtnis den kreativen Prozess der zeitlichen Dauer in Bildern wie Sprung, Explosion oder Feuerwerk. António Lobo Antunes hat ein Jahrhundert später mit bitterer Ironie den Epilog dazu geschrieben. Am Schluß des Buches und als Ergebnis einer internen Intrige werden die Konterrevolutionäre in die Luft gesprengt. Allerdings wurde die Explosion lange vorher in den Köpfen der todessehnsüchtigen Mimi und Fátima antizipiert. Erinnerung und Gedächtnis zerstören hier nicht nur den Sinn einer akkumulativen biographischen Erzählung, sondern mehr noch zersetzen sie eine Gesellschaft, die ständig neue Hoffnungen produziert, ohne sich um die Enttäuschungen zu scheren.
António Lobo Antunes: Anweisungen an die Krokodile, Luchterhand Verlag, München 1999, 441 S., 48,- DM
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