Seit langem lag Frankfurt nicht mehr so nahe an Frankreich. Die Koinzidenz ist zu frappierend, als dass die Trendwende unbemerkt bleiben könnte. In den intellektuellen Debatten der Nachkriegszeit dominierten Distanz, Reserviertheit, wenn nicht Verdächtigungen und Misstrauen zwischen französischen und deutschen Intellektuellen. Nun hat Jacques Derrida den Adorno-Preis bekommen und eine Woche später veranstaltet das Frankfurter Institut für Sozialforschung eine Foucault-Konferenz, und zwar nicht irgendeine. Es war, nach einer Hamburger Konferenz von 1988, erst die zweite große Foucault-Hommage, die diesseits des Rheins stattfand..
Gut in Erinnerung sind noch die Verdikte, mit denen die Repräsentanten der Kritischen Theorie und ihre Verbündeten den französischen (Post-) Strukturalismus bedachten. Alfred Schmidt verteidigte einst die in Frankfurt gemeldete Aufklärung gegen den Pariser Irrationalismus, Habermas´ ein- und abschlägige Veröffentlichungen befestigten die Frontstellung und Manfred Frank sekundierte in seinen die Rezeption stark beeinflussenden Vorlesungen mit einer väterlichen Differenzierung in verdienstvolle Ansätze und bedenkliche Tendenzen, die in der Aussage gipfelten, in Foucaults Theorie reüssierten "vitalistisch-sozialdarwinistische Kategorien".
Aber die Zeiten, sie haben sich gewandelt. Die Frankfurter Schule besitzt nicht mehr jene Vorrangstellung, die sie in den siebziger Jahren und teilweise danach, in der Soziologie und in seltenen Fällen auch in öffentlichen Diskussionen einnahm. In den letzten Jahren in den Hintergrund getreten oder sogar aggressiv bedrängt, können die Erben der Kritischen Theorie bei ihrer Suche nach Verbündeten so wählerisch nicht mehr sein.
Ist Foucault jetzt nicht mehr das Andere, Irrationale, das Alien? Wie bei anderen, einflussreichen Intellektuellen hat auch nach dem Tod Foucaults 1984 eine Vervielfältigung an Deutungen eingesetzt, und die Interpreten können sich aussuchen, welchen Foucault sie bevorzugen. Fast alle deutschen Historiker - bis auf handverlesene Ausnahmen - meinen noch immer , dass sie gar keinen Foucault mögen, nicht einmal den Sozialhistoriker. Andere versuchten, beispielsweise Wilhelm Schmid, aus den späten Schriften so etwas wie eine Lebenskunst zu destillieren, und Theoretiker wie vor allen anderen der Leiter des Frankfurter Instituts, Axel Honneth, nähern den Machtanalytiker Foucault den aktuellen Ausprägungen Kritischer Theorie an.
Ein Bedürfnis nach Klärung lag nun in Frankfurt in der Luft, nach Klärung der Frage, ob der Verbündete Foucault verlässlich ist oder nicht doch ein zu flexibler Alliierter oder, mit hohem Anspruch formuliert: inwieweit dieser Theoretiker für eine heutige kritische Theorie zu gebrauchen ist.
Einigkeit herrschte bei etlichen Teilnehmern darüber, dass Foucaults Beschreibung einer Disziplinargesellschaft offenkundig aktuell sei und geeignet, die Law-and-order-Politik der westlichen Gesellschaften zu erfassen. Andere Redner stimmten darin überein, dass der Begriff der Subjektivierung, wie ihn Foucault verstand, mit aktuellen Managementkonzepten hervorragend zusammen geht. Die Referenten Hermann Kocyba (IfS Franfurt), Manfred Moldaschl (TU Chemnitz) und der Soziologe Ulrich Bröckling untersuchten in kritischer Absicht, was unter das Stichwort "Technologie des Selbst" fällt. Foucault hatte behauptet, dass die Vorstellung eines autonomen Subjekts, das als intakter Ort des Widerstands fungieren kann, genauso hinfällig sei wie die Annahme, moderne Gesellschaften würden Individuen ausschließlich repressiv konditionieren. Vielmehr legte er die Vorstellung eines Subjekts zugrunde, das "auf sich selbst einwirkt", dem Identität zugewiesen wird, die durchaus eine Entfaltung persönlicher Vermögen ermöglicht. Bröckling wies darauf hin, dass innerhalb des heutigen "Human-ressource-Managements" Kontrollstrategien immer auch "Subjektivierungsstrategien" implizieren. Er beschrieb Unternehmenspraktiken, die die Leistungen ihrer Mitarbeiter erhöhen und ihnen gleichzeitig Selbstverwirklichung suggerieren, Teamarbeit anbieten und letztlich doch nur einen "demokratisierten Panoptismus" installieren, in dem eine multiperspektivische Aufsicht herrscht. Jeder ist Beobachter von allen anderen und Selbstreflexivität Angestelltenpflicht.
Hier ist Foucault nützlich, allerdings unter Vorbehalt. Wie Klaus Ronneberger am Beispiel heutiger Disziplinargesellschaften zeigte, hat die historische Entwicklung zu Neuerungen geführt, die nicht mehr im Konzept etwa von Überwachen und Strafen aufgehen. Videoüberwachung und Panoptismus dringen aus den Mauern der Gefängnisse hinaus in die Öffentlichkeit, im Unterschied zu Foucaults Analyse von Jeremy Benthams Gefängnismodell, beruht die heutige Praxis auf einer dezentrierten Überwachung, die nicht mehr architektonisch dargestellt werden kann; zudem beruht sie auf der Zustimmung der Betroffenen.
Die modifizierte Anwendung der Thesen über die Disziplinierung und das unterworfen-produktive Subjekt stand also auf der Tagesordnung, aber auf einmal machte die Losung vom Historisieren die Runde. Nancy Fraser hatte sie aufgebracht, mit ihrer These, dass Foucault der Theoretiker des Fordismus gewesen sei, der seine empirischen Arbeiten nie über das 19. Jahrhundert hinausführte und aktuelle Entwicklungen nicht antizipieren konnte. Fraser sprach von einer privatisierten und zerstreuten Organisation der Disziplinargewalt, einer Ent-Strukturierung und Ent-Sozialisierung und fragte, in Anlehnung an Richard Sennetts Analyse des "flexiblen Menschen", wo die Selbst-Regulation in den dezentrierten Subjekten von heute liegen könnte.
Den Schlüssel zu einer Aktualisierung Michel Foucaults lieferte sie in dem Versuch, ihm einen Platz in einem historisch periodisierten Gesellschaftsmodell zuzuweisen. Fraser operierte mit den bekannten Begriffen Fordismus und Postfordismus. Aber gleichgültig, ob Foucault nun der ersten Periode zugerechnet wird, oder er, wie Thomas Lemke meinte, ein Sensorium für das Brüchig-Werden der alten Regulationsweise besaß, der Weg über die historischen Perioden führt das Unternehmen einer Aktualisierung weiter.
Seit den sechziger Jahren wollte Foucault vom Ökonomismus der Machtanalyse wegkommen. Seine Arbeiten richteten sich vor allem gegen das marxistische Basis-Überbau-Schema, aber sie entsprachen auch einer gesellschaftlichen Entwicklung. Der Kapitalismus transformierte sich, wurde nicht weniger ökonomisch, aber kultureller, so dass die Machtanalyse nicht mehr ausschließlich über die Analyse der Ökonomie funktionieren kann. Die Gesellschaftswissenschaften trugen dieser Transformation Rechnung, indem sie über den "Linguistic turn" auf den "Cultural turn" einschwenkten. Sollte Foucault weiterhin nützlich sein, müssten seine Theorien über die Disziplin, das Subjekt und die Macht überprüft, ergänzt und teilweise revidiert werden. Giorgio Agamben hat dies in Italien unternommen, Michael Hardt und Antonio Negri taten dies in einer italienisch-amerikanischen Koproduktion. In ihrem Buch Empire übernehmen sie Foucaults Konzept einer "Biomacht", deren flexible Netzwerke die kreativen Energien der Subjekte, ihre affektiven und offenen Beziehungen benötigen, wenden allerdings ein, dass die vermittelnden Institutionen, auf deren Analyse Foucault viel Mühe verwandte, wegfallen, also Subjekt und Macht direkt miteinander zu tun bekommen und infolgedessen die Chancen für Insubordination und Revolte steigen. Wer solches genauer wissen und diskutieren wollte, war in Frankfurt allerdings am falschen Platz und hätte schon nach Paris fahren und der gleichzeitig stattfindenden Marx-Konferenz und der dortigen "Empire"-Arbeitsgruppe beiwohnen müssen. Die Versuche, mit Foucault die neue Regulationsweise des Kapitalismus zu erklären, waren auf der deutschen Konferenz nicht eingeplant, Giorgio Agamben und das Duo Hardt/Negri verharrten somit in einer geradezu Foucaultschen Existenzform - sie konnten hier höchstens die "Ränder bevölkern".
Eine der typischen Foucault-Fragen war auf der Frankfurter Konferenez allerdings immer präsent: Wie ist in einem totalen System ein Widerstand möglich, der nicht notwendig innerhalb dieser Grenzen verbleiben muss? Von Judith Butler hätte der Versuch erwartet werden können, eine Antwort aus der Perspektive der Gender und Queer-Studies zu geben, aber sie leistete Verzicht, stilisierte Foucault zu einem Philosophen der Anerkennung, belieferte damit die offizielle Hausphilosophie und demonstrierte, wie friedlich es doch zugehen kann, wenn keiner die Ordnung der Dinge durch Brüche verwirrt.
Mit dem Gegenstand des Interesses, Foucault, hatte das allerdings wenig zu tun. Und so dürfte Butlers Vortrag auch in Vergessenheit geraten.Die Forschung wird sich in den nächsten Jahren verstärkt Foucaults "Paratexten" zuwenden, seinen Reden, Interviews, Einleitungen und Stellungnahmen aller Art, die in den Bänden Dits et Ecrits auf Französisch bereits vorliegen und deren erster Band in deutscher Übersetzung zeitgleich mit der Frankfurter Konferenz vorgestellt wurde. Ob Foucault sich wirklich als der Partisan erweist, den viele nicht in seinen Büchern, aber in seiner Person sehen, muss sich noch zeigen. Die Bücher gegen ihren Autor auszuspielen, ist ein altes Verfahren, das Foucault in zahlreichen Texten mit leichter Hand hintertrieben hatte. Die Verlockung wird mit jedem Band Dits et Ecrits wachsen.
Immerhin hat die Konferenz in Frankfurt angedeutet, dass produktive Verwendungen von Foucault möglich sind, wenn man seine Analysen von Macht, Subjekt und Kontrolle mit den Realitäten des neuen Kapitalismus konfrontiert. Und wenn die neue Freundschaft zwischen Paris und Frankfurt weiter gepflegt wird, erfahren wir hier sicher bald, was die Pariser Arbeitsgruppen ergeben haben.
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