Hannah Arendt verabscheute die Kritische Theorie. Auf dem Kongreß zum 75jährigen Bestehen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erzählte Richard Sennett die Anekdote, wie er als junger Student die Philosophin fragte, was von dieser Theorie er lesen müsse, und die Antwort lakonisch gelautet haben soll: "Nothing". Ein versierter Dialektiker könnte jetzt zu bedenken geben, dass eine Leitfigur der Dialektik der Aufklärung, Odysseus, sich hintersinnig als "Niemand" ausgab, und da, im Sinne homologer Räume, der listige Grieche kulturhistorisch das explizite Gegenteil von "Niemand" geworden sei, so auch Hannah Arendts scheinbar vernichtendes Urteil nur ein versteckter Hinweis zum Erwerb der Gesammelten Schriften kritischer Theoretiker sei.
Aber damit
i.Aber damit wollte sich dann niemand bescheiden. Theoriemüdigkeit und Orientierungsmangel, dazu eine Entpolitisierung der Linken, lautete, mit Rekurs auf die der Kritischen Theorie eigentümliche Schwarzmalerei, die betrübliche Diagnose. In solch einer Situation - so die landläufige Meinung - bieten die Gesammelten Werke der Gründergeneration ein Reservoir kritischen Wissens, dem zugebilligt wird, dass es auch dem neoliberalen Kapitalismus standhält. Vor der fröhlichen Erfolgsmeldung steht jedoch die Unterscheidung zwischen der in der Theorie vergegenständlichten Erfahrung und ihrer Verwaltung in einem Institut, dem zuletzt wieder vorgehalten wurde, dass es die radikale Kapitalismuskritik zugunsten eines nebelhaften Bekrittelns von Symptomen aufgegeben habe.Tatsächlich dominiert die Theorie kommunikativen Handelns die Grundorientierung des Instituts für Sozialforschung, wie sie in dessen Arbeitsprogamm formuliert wurde. Das einstige Grand Hotel Abgrund ist zu einer Jugendherberge umgebaut worden, in der Herbergsvater Habermas den auf den Gängen tobenden "Kampf um Anerkennung" beaufsichtigt. Eine kritische Theorie allerdings sperrt sich verbindlichen Schulmeinungen; sie ist anti-systematisch und sondiert ständig - und wie sie Adorno vertrat sogar idiosynkratisch - wo die Affirmation beginnt und auf welche Weise das System vermeintliche Kritiker absorbiert. Eine Jubiläumskonferenz wird nicht entscheiden können und wollen, wer heute der rechtmäßige Erbe ist und wer nur eingebildeter Prätendent. Von ihr ist aber zu erwarten, dass sie die Bandbreite aktuell möglichen kritischen Denkens dokumentiert und damit den Beweis antritt, dass der Jubilar noch nicht aufs Altenteil gehört.Solch ein Beweis beginnt am besten mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Die These, dass der Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten ist, war unumstritten. Ebenso einhellig wurde die von Habermas ausgesprochene Ansicht geteilt, dass eine Politische Ökonomie dieser Phase noch aussteht, und nicht wenige sprachen sehnsüchtig vom Erscheinen eines neuen Marx, der sie vollbringen möge (und wenig später kritisierten sie die messianischen Erlösungshoffnungen Adornos). Wer aber nicht warten will, bis zumindest ein kollektiver Marx die Ratlosigkeit in den Köpfen ausgetrieben hat, steht heute vor einem Zwiespalt.Auf der einen Seite verlockt die Dekonstruktion der Theorie Horkheimers und vor allem Adornos. Die Basis der Frankfurter Schule wurde in den dreißiger Jahren gelegt, in Horkheimers mittlerweile legendärem Essay über Traditionelle und kritische Theorie; sie wurde mit ihren philosophischen und kulturindustriellen Implikationen ausgearbeitet, unter den Zeichen von Faschismus und Stalinismus, und gelangte in den sechziger Jahren zu ihrer bis heute anhaltenden Wirkung. Mit der Kritischen Theorie gelang es der bundesdeutschen Linken sogar, das einzige Mal in der Geschichte dieser Republik für einige Jahre eine kulturelle Hegemonie zu erlangen. (Und Konservative haben ein gutes Gedächtnis. Noch heute verübeln sie den Jakobinern die Französische Revolution.)Mittlerweile jedoch und aus der Perspektive der neuen Republik haben sich unterschiedliche Schichten von Theoriearbeit und Rezeption angehäuft, hinter denen die realen historischen Erfahrungen und die gesellschaftlichen Grundlagen der Philosophie zu verschwinden drohen. Das Kulturindustriekapitel in der Dialektik der Aufklärung bedient heute das Bedürfnis nach universellen Wahrheiten, wie sie misanthropische Intellektuelle kultivieren, genauso wie die Ansicht, dass es kein richtiges Leben im falschen gibt, es zu allen Zeiten erlaubt, in gemütlicher Runde die Ohnmacht in ungemütlichen Weltläuften zu bedauern. Wenn die Kritische Theorie keine Rückversicherung für eine resignierte Linke sein soll, müssen ihre historischen Bedingungen rekonstruiert und die immanenten Widersprüche dargestellt werden. Wie solches funktioniert, demonstrierten auf der Konferenz Albrecht Wellmer, der bei Adorno eine "postmetaphysische Selbstreflexion der Vernunft" im Widerstreit liegen sah mit einem metaphysischen, versöhnungsphilosophischen Systemzwang, der latent nihilistisch ist, oder Gertrud Koch, die argumentierte, dass Horkheimers und Adornos vernichtendes Verdikt über die Kulturindustrie weder haltbar noch nützlich ist. Schließlich sei nicht einzusehen, warum eine Flaschenpost nur in der Hoch- und nicht auch in der Massenkultur aufzufinden sei. Diese Ansicht ist nicht neu und überraschend, bildet aber den Ausgangspunkt für eine kritische Aneignung des berühmten Kapitels der Dialektik der Aufklärung.Den Versuch, kanonisiertes Denken mit realen Erfahrungen zu konterkarieren, hat umfassend Alex Demirovic unternommen, in seinem Buch Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule. Demirovic untersucht das Wirken der Theoretiker in der Zivilgesellschaft, beim Wiederaufbau des Institutes, in den öffentlichen Gremien, Institutionen, auf Kongressen und in den Seminaren und bettet die Theorie wieder in ihren Entstehungszusammenhang ein; sein Verfahren ermöglicht es, sie auch in neuen Kontexten zu erproben und Verwendbares von dem, was historisch gebunden ist, zu unterscheiden. Mit seiner Arbeit befindet sich Demirovic, und auch bewährte Frankfurter Kräfte wie Wellmer, Koch, Alfred Schmidt, in den ruhigen und sicheren Gewässern philologischer Aktivität.Auf der anderen Seite lauert der transnationale Kapitalismus, theoretisch erst in Ansätzen erfaßt, voller Untiefen und kaum allein mit den Werkzeugen Adornos, Marcuses, Horkheimers zu bezwingen. Herbergsvater Habermas warnt vor einer Ausfahrt und empfiehlt den sicheren Hafen und Obdach in seiner Kommunikationstheorie. Neben ihm existieren jedoch andere, die die Kritische Theorie neuen Möglichkeiten der Verwendung geöffnet haben. Oskar Negt und Alexander Kluge haben geradezu Gegenentwürfe zu Habermas entworfen mit Öffentlichkeit und Erfahrung und Geschichte und Eigensinn, antisystematischen Büchern, die zum kreativen, den je eigenen Bedürfnissen angepaßten Umgang einladen. In den Vereinigten Staaten demonstriert Fredric Jameson, wie unter Einbeziehung der Kritischen Theorie ein marxistisches Verständnis der Postmoderne erarbeitet werden kann (pikanterweise entdeckt er in Hollywoodfilmen, zum Beispiel denen Alan Pakulas, die Strukturen eines jetzt dechiffrierbaren Spätkapitalismus und exerziert damit eine nicht gerade buchstabengetreue Nachlaßverwaltung). In seinem Adorno-Buch ordnet er die wirkungsvollsten Texte des Frankfurter Theoretikers, Minima Moralia und Dialektik der Aufklärung, dem Genre der Reiseliteratur zu, welches seit der Entdeckung der Neuen Welt die Europäer auf den welthistorischen Stand bringt. Wie um seine unkonventionelle Zuordnung zu bestätigen, brachten die Konferenzbesucher aus den Staaten Neuigkeiten mit. Michael Walzer ("I don't doubt that a good theory is a good thing") besänftigte die Teilnehmer mit der Versicherung, dass der Mangel einer begrifflich exponierten Theorie unter bestimmten Umständen verschmerzt werden kann, und Zygmunt Baumann unterstrich die Bedeutung der Kritischen Theorie für eine demokratische Bürgergesellschaft. Tatsächlich aufregende Neuigkeiten hatte Richard Sennett im Gepäck. Er entwickelte noch einmal die Thesen seines Buches Der flexible Mensch und ergänzte sie mit Beobachtungen über neue Unternehmensstrukturen und Arbeitsbedingungen. Der neue Kapitalismus bringt, nach seinen Worten, riesige, desorganisierte Unternehmen hervor, die aus einer kleinen Leitungselite im Zentrum und gewaltigen Apparaten bestehen, die beinahe ohne betriebliche Interaktionen auskommen müssen und auf diese Weise eine neue Art von Bürokratie kreieren. Auch die Arbeitsverhältnisse in amerikanischen Konzernen haben sich gewandelt. Bei Microsoft etwa bemisst sich die Entlohnung nicht an der gearbeiteten Zeit, sondern die Gratifikation erhält, wer den innerbetrieblichen Wettbewerb gewinnt. Unterlegene Teams werden bestraft oder gefeuert.Sennett verfügt nicht über eine ausgearbeitete begriffliche Theorie; auch sein Buch Der flexible Mensch zehrt von den Erfahrungen und Beobachtungen des Autors, die nur begrenzt verallgemeinerbar sind. Aber er hat die unterschiedlichen Machtstrukturen, die der globale Kapitalismus hervorbringt, ansatzweise beschrieben und auf die politischen, sozialen und moralischen Folgen hingewiesen.Eine radikale Kapitalismuskritik, die sich auf die Kritische Theorie beruft und wesentliche Bestandteile in einem veränderten Kontext verwendbar macht, findet sich also auch auf Jubiläumskongressen des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Dass sie ihren angestammten Platz im Frankfurter Stadtteil Bockenheim einnimmt, ist aber nicht mehr selbstverständlich.
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