In den Jahren 1923 und 1924 arbeitete der Maler und Grafiker Stepan Karpov für die siegreiche Union an seinem Gemälde Völkerfreundschaft, das neben zahlreichen anderen in der Ausstellung Traumfabrik Kommunismus in der Frankfurter Kunsthalle Schirn zu sehen ist. Sein Werk zeichnet sich nicht durch eine besondere künstlerische Qualität aus: Mehrere Männer heben eine schwere Platte hoch, hinter sich ein Geschütz und Gewehre, im Hintergrund zieht ein landwirtschaftliches Fahrzeug seine Kreise, dahinter eine agrarische Siedlung, dahinter eine Industrieanlage, am Himmel ein Flugzeug. Einer der Männer hält eine rote Fahne, auf der Platte befinden sich eine Garbe Kornähren, ein Buch, ein Eichenzweig, ein rotes Tuch mit Hammer und Sichel, ein Schwungrad aus einer Fabrik sowie zuoberst die Enden einer Sackkarre.
Die Bildbeschreibung wird zur Aufzählung, denn die Propagandamaler der Sowjetunion mussten viel Material zu Einheit und Harmonie zwingen. Jede Technik ist hier dem Menschen ein Freund, Stadt und Land koexistieren glücklich, Bauer, Arbeiter und Intellektueller blicken entschlossen und zuversichtlich einer nahen Zukunft entgegen. Noch in der aufdringlichen Akkumulation der Symbole schwelt ein Funken Utopie. Leicht fällt das Urteil, dass dieser in den zeitgleichen sowjetischen Avantgarden, im Suprematismus Malewitschs, im Konstruktivismus besser aufgehoben ist, und ebenso sicher knüpfen sich daran Debatten über das Verhältnis von Massenkultur und Kitsch.
Der Kurator der Ausstellung, Boris Groys, hatte mit seinem Buch Gesamtkunstwerk Stalin eine direkte Verbindung von den Avantgarden zum sozialistischen Realismus und damit zu Stalin gezogen. Die zahlreichen Stalin-Gemälde und Plakate, der freundliche Herr, der einer Frau aus dem Volke lächelnd die Hände zum Gruße reicht, das Staatsoberhaupt, das mit offener Geste seiner Bevölkerung etwas darbietet, der besorgte Mensch, der am Todeslager Maxim Gorkis ausharrt, der geniale Führer der Völker, der würdevoll im Sessel ruht, ihm gegenüber ein Mao Tse-tung, dem ein Band Lenin noch zur Arbeit aufgegeben ist, das alles wäre somit nur die stringente Fortsetzung der utopischen Entwürfe der frühen zwanziger Jahre.
Noch die die Ausstellung abschließende Installation von Emilia und Ilya Kabakov bestätigt diese These. Vom Hauptsaal, der die großformatigsten Gemälde enthält, geht der Weg zu einer Reihe hintereinander liegender kleinerer Säle, an deren Ende sich ein Propagandawaggon der frühen Sowjetzeit befindet. Nach der Art eines kleinen Vorstadtkinos stehen einige Sitzbänke vor einer Leinwand, die eine heitere idyllische Szene darstellt. Aus Lautsprechern rieseln mythische Gesänge. Um den Waggon herum hängen an den Wänden zahlreiche Briefe von Sowjetbürgern, die ihre Mitmenschen anschwärzen, denunzieren und den Lebensalltag in der Sowjetunion als eine miefige Hölle erscheinen lassen. Diese Installation mit ihrer haarsträubenden Naivität passt zu Groys´ dürftiger These. Hier dominiert immer noch die bissige Bemühung, den Traum von einer besseren Welt ad acta zu legen und zu suggerieren, er wäre besser nicht begonnen worden, weil er erstens aussichtslos ist und zudem nur folgerichtig zu stalinistischem Kitsch führte. Die utopischen Entwürfe mutieren in dieser Sichtweise konsequent zu einer verlogenen Staatsideologie, die von einer schäbigen und kleinkarierten Realität problemlos widerlegt werden kann.
Einiges in der Ausstellung und im Katalog arbeitet aber gegen diese These. Bereits der Titel Traumfabrik weist in eine andere Richtung. Träume können gut oder schlecht sein, aber sie sind nicht verlogen; in der Fabrik produzierte Träume werden kollektiv hergestellt, aber das allein diskreditiert sie noch nicht. In begleitenden Texten wird zuweilen der Vergleich von Propaganda und Werbung gezogen. In ihm schimmert eine Ahnung herauf, dass im Zeitalter der Massenkultur Motive und Techniken der Massenbeeinflussung entwickelt wurden, die zwar in den Gesellschaftssystemen unterschiedliche Ausprägungen erfuhren, aber auch verblüffende Gemeinsamkeiten aufweisen. Susan Buck-Morss hatte in ihrem Buch Traumwelten und Katastrophen diese vergleichende Arbeit unternommen. Offensichtlich hat Boris Groys dieses auch rezipiert, aber mehr als die Ankündigung, diesen Vergleich unternehmen zu wollen, ist nicht dabei herausgekommen, zu sehr dominiert der Ansatz, die modernen Avantgarden anzuklagen. Es kann sinnvoll sein, wie es hier geschieht, Bilder von Malewitsch neben die von Heimatmalern zu platzieren. Die Feststellung, Malewitsch sei eindeutig der bessere Maler, seine Motive und Bildgestaltung jedoch den realistischen Stalinisten vergleichbar, führt sowohl an der Avantgarde als auch an der sowjetischen Massenkultur vorbei.
Wer die Tafelbilder abschreitet, kann schwerlich den Eklektizismus vieler Gemälde übersehen. Im Katalog bemühen einige sogar wagemutig den Ausdruck "postmodern", um den munteren Stilmix zu charakterisieren. Manches verdankt sich dem Impressionismus, anderes der Renaissance, der klassischen Porträtmalerei oder dem französischen Naturalismus des vorletzten Jahrhunderts. Wo es neu wurde, etwa bei der Darstellung des proletarischen Internationalismus, der Abbildung großer Menschenmengen oder politischer Versammlungen, ordnen Konvention und Ideologie das Material. Die Masse durfte nicht chaotisch erscheinen, Stalin herausgehoben, aber nicht entrückt dargestellt werden.
Die Themen der Massenkultur des 20. Jahrhunderts, die Ästhetisierung der Technik und der politischen Führung, der Versuch, die Symbole des Systems möglichst unaufdringlich zu arrangieren, das Versprühen guter Laune und familiärer Harmonie, finden sich hier wieder, allerdings in für westliche Augen ungewohnter Form. Manche Motive wie ländlicher Frieden, häusliche Beschaulichkeit und traute Zweisamkeit sind anscheinend Konstanten indoktrinierender Massenkultur. In der Sowjetunion wurde diese Bildsprache zu nicht-kommerziellen Zwecken eingesetzt; die Bilder wurden nicht kulturindustriell perfektioniert und die Doppelfunktion der Werbung, ein spezielles Produkt verkaufen zu wollen und damit gleichzeitig das westliche Konsummodell zu propagieren, entfiel. Infolgedessen wirkt diese Propaganda unfertig, wie auf halbem Wege steckengeblieben, und der Kompensation durch historisches Pathos haftet rückblickend von heute aus beinahe etwas kindisch Naives an. Das Gemälde von Erik Bulatov, Krassikow-Straße (1976), könnte auch in den fünfziger oder frühen sechziger Jahren im Westen entstanden sein, überragte da nicht ein Lenin-Plakat die vorbeieilenden Passanten wie die Wohn- und Verwaltungsgebäude - in der Art einer erklärenden Entschuldigung, aus dem bekannten und abgebildeten Grund leider keine bessere Propaganda anbieten zu können.
Traumfabrik Kommunismus. Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn vom 24. September 2003 bis 4. Januar 2004. Katalog Traumfabrik Kommunismus. Die visuelle Kultur der Stalinzeit, Hatje Cantz Verlag, 460 S., 45 EUR
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