In der aktuellen Kumulation biographischer Arbeiten über Franz Kafka besteht eine gewisse Konsequenz. Spätestens nachdem der Freund und Nachlaßverwalter Max Brod die Fragment gebliebenen Romane Das Schloß, Der Prozeß und Amerika kurz nach Kafkas Tod Mitte der zwanziger Jahre herausgegeben und als Trilogie der Einsamkeit beworben hatte, umgab die Person hinter den Texten ein Rätsel. Wer dieser zu Lebzeiten kaum bekannte Autor war, konnte in den nachfolgenden Jahren beginnender Prominenz des früh verstorbenen Prager Schriftstellers immerhin in Grundzügen rekonstruiert werden. Wie es aber kam, dank welcher biographischen Logik diese seltsamen, teilweise fantastischen Werke möglich wurden, entzog sich den gewohnten Erklärungsmustern, die in aller Regel auf klaren Zuordnungen zwischen Leben und Werk basierten.
Die Interpreten behalfen sich mit Termini wie visionär, rätsel- oder alptraumhaft, und beriefen sich auf eine mehr oder weniger religiöse Inspiration. Aber selbst damit war nicht geklärt, wie ein Wort wie kafkaesk gebildet und in der Alltagssprache etabliert werden konnte. In der Wissenschaft existieren Begriffsbildungen wie freudianisch oder marxistisch; in der Literatur jedoch findet sich nichts vergleichbares, nicht musilianisch, joycehaft, nicht einmal proustianisch.
Die zum 125. Geburtstag erschienenen Biographien markieren eine neue Entwicklung in der Kafka-Forschung. Klaus Wagenbach war mit Franz Kafka. Biographie seiner Jugend der erste, der bereits 1958 einen neuen Weg beschritt. Selbst fünfzig Jahre später liest sich seine jetzt neu herausgegebene und um drei kleinere Texte erweiterte Rekonstruktion der Schul- und Studentenjahre des Schriftstellers und von Prags deutschsprachiger Literatenszene alles andere als veraltet; rückblickend ist die Pionierleistung von Wagenbach kaum hoch genug zu schätzen. "Kafkas dienstälteste Witwe", zu der der bekannte Verleger sich kokett befördert, umschifft souverän die ideologischen Klippen - ist diese Literatur "realistisch" oder nicht vielleicht doch "dekadent" und mit einem bürgerlichen oder sozialistischen Realismusmodell inkompatibel? Müssen die Texte zuerst doch durch eine religiöse Brille betrachtet werden? - und etablierte eine sozialgeschichtliche Methode der Lebensbeschreibung im biographischen Genre.
Die Nachfolger Reiner Stach und Peter-André Alt verdanken ihm viel, und sie haben Wagenbachs Arbeit mit ihrerseits sehr unterschiedlichen Büchern fortgeführt und nebenbei das in Deutschland kaum beheimatete Genre der umfassenden, wissenschaftlichen Biographie neu kultiviert. Bislang galt für einen Literaturwissenschaftler wie Alt das Verfassen einer Lebensgeschichte als sicherer akademischer Karrierekiller; und epische Würfe wie der von Stach kamen zuvor vorwiegend aus England, gelegentlich aus Frankreich oder den USA.
Nachdem Stach vor sechs Jahren zuerst den mittleren von insgesamt drei Bänden einer Kafka-Biographie veröffentlicht hatte, erscheint pünktlich zum Jubiläum Band drei, Die Jahre der Erkenntnis, der vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zu Kafkas Tod 1924 reicht. Stachs Zauberwort lautet Empathie - nicht in dem Sinn, dass der Autor sich in der Seele seines Objekts breit macht und mit aller historischen Distanz und wissenschaftlicher Objektivität erklärt, er wisse dort besser Bescheid als dieser selber. Stach hat eine Art biographische Hermeneutik entwickelt, die die historische Person Franz Kafka als Text begreift, der auf der Basis umfassender Kenntnis der historischen und literaturwissenschaftlichen Vorarbeiten entschlüsselt werden kann. Diese Biographie hat literarischen Anspruch; sie liest sich hervorragend und führt vom Verständnis der Person Kafka zu dem seiner literarischen Texte und der zahlreichen Rätsel, die sie aufgeben.
Zu diesen zählt nicht nur die Idee, der singuläre Einfall: Jemand wacht auf und stellt fest, dass er sich in einen riesigen Käfer verwandelt hat; aus heiterem Himmel wird ein Handlungsreisender angeklagt, niemand erfährt jedoch warum, oder wie das weitere Procedere aussehen könnte; ein Mann verurteilt seinen Sohn, vom dem er ökonomisch abhängig ist, zum Tod durch Ertrinken. Rätselhaft ist nicht nur die Idee, sondern mehr noch der Fortgang der Handlung. Wie kann es kommen, dass die Verwandlung in einen Käfer und dessen Existenz in einem bürgerlichen Haushalt irgendwann als Normalität empfunden werden kann? Warum vollzieht der Verurteilte selbst das Urteil und stürzt sich in den Fluss? Selbst die einzelnen Sätze folgen aufeinander in einer nicht dem Alltagsverstand verpflichteten Logik. Sicher lag hier der Zugriff auf die Lebensumstände des Autors nahe, der Hinweis auf den patriarchalen Vater, der lange Verbleib des "ewigen Sohnes" in dieser Familie, der freudianische Erklärungen geradezu provoziert. Aber Stach und Alt zeigen sich von Kurzschlüssen dieser Art emanzipiert.
Stachs Buch trägt der grundsätzlichen Fremdheit und Offenheit dieser Narrationen Rechnung und transponiert sie in die biographische Erzählung. Er beschreibt Kafka als passionierten Einzelgänger. Der Autor suchte durchaus Gesellschaft, bewegte sich in Literatenzirkeln, besuchte Bordelle und hatte auch nichts gegen kurzzeitige Liebschaften. Aber was diesen Solitär kennzeichnet, ist der seinem Wesen notwendige Rückzug in sich selbst - er will mit sich alleine sein, sich in seine Innenwelten begeben, die labyrinthische Züge annehmen und von Stach auch so beschrieben werden. Wie dieses seelische Interieur genau aussieht, entzieht sich der Betrachtung, es gibt Tagebücher, Briefe und die Einsicht, dass Leben und Werk eine schwer durchschaubare Wechselwirkung eingehen, die es nicht mehr zulässt, etwa die Lebensumstände zugrunde zu legen und die Erzählungen daraus abzuleiten. Plausibel war das nie, die Verlockung jedoch gerade in diesem komplizierten Fall beträchtlich.
Auch Peter-André Alt läuft nicht in diese Falle. Seine Biographie ist gleichfalls ausgezeichnet, jedoch von germanistischer Warte aus geschrieben. Alt entwickelt klare Thesen, wo Stach zögert. Kafka unterhält zum wiederholten Mal eine Beziehung zu einer deutlich jüngeren Frau, so dass ein "erotisches Grundmuster" kenntlich ist; die Wiederkehr ödipaler Konstellationen verdichtet er in der These vom "ewigen Sohn". In vielem kommen die Biographen zu gleichen Ergebnissen, wenn etwa Alt "die Schutzzonen seines Innenlebens" anspricht, ist er nicht weit von Stach entfernt. Aber sein Buch konzentriert sich stärker auf die Bezüge von Leben und Werk und ist für jene geschrieben, die Details und Gründe der literarischen Produktion erwarten (und von ihm auch nicht enttäuscht werden). Biographisch also befindet sich Kafka in besten Händen, selbst der neben all dieser Dickleibigkeit unscheinbare Band in der Suhrkamp-Reihe "BasisBiographie" von Andreas B. Kilcher ist als Einführung und Übersicht geeignet.
Zu dieser Fülle zählt ebenfalls das Kafka-Handbuch der Herausgeber Jagow und Jahraus, das den Prager Schriftsteller endlich, gemessen am Grad wissenschaftlicher Würdigung, in die erste Reihe der literarischen Stars katapultiert. Zuvor gab es bereits ein zweibändiges des renommierten Kafka-Forschers Hartmut Binder und nächstes Jahr zieht der Metzler Verlag mit noch einem Kafka-Handbuch nach (dann ist handbuchmäßig allenfalls noch Brecht konkurrenzfähig, alle anderen hat Kafka dann abgeschüttelt).
Die Beiträge im Band von Jagow und Jahraus sind von durchweg hoher Qualität - Ausnahmen gibt es immer. Kafka und seine Geschwister ist so eine und ein gutes Beispiel, wie ein Rückfall in alte Fehler immer wieder befürchtet werden muss. Der Autor entwirft die These, die in den Texten schlummernde, eigenartige Sicht der Welt, resultiere aus dem Verlust zweier Brüder, die den jungen Kafka völlig aus der Bahn geworfen und fürs Leben geprägt hätten, und das mehr als alles andere. Als Belege dienen eine psychologische Erhebung aus den USA sowie ein - so erfahren wir, dass es auch diese Einrichtung gibt - vom "Bundesverband verwaister Eltern" herausgegebener Erfahrungsbericht.
Insgesamt aber ist dieses Handbuch gelungen, die Aufteilung in Biographisches, Werk, Deutungsperspektiven und Einzelinterpretationen herausragender Werke ist sinnvoll, die Beiträge sind ergiebig. Der Essay Kafka und die Frauen zum Beispiel relativiert frühere Aussagen, nach denen auch in diesem Fall eine traditionelle Typologisierung in "Schwester, Dienstmädchen, Hure" beklagt werden muss. Stattdessen wird Kafka "zum Verbündeten eines alternativen, dekonstruktiven Feminismus avant la lettre", weil er in seiner Schreibweise die herkömmlichen Rollenzuweisungen unterlaufen habe. Die Argumentation ist schlüssig - wie überhaupt die Tendenz vorherrscht, sich in die Texte, in die einzelnen Sätze zu versenken und die Rezeptionsklischees zu umkurven.
Trotz dieser Publikationsflut zum 125. Geburtstag verschwindet der Autor nicht hinter der Sekundärliteratur. Viel stärker dominiert der Wunsch, die Kafka-Klischees einmal zu vergessen und sich neuerlich, mit veränderter Perspektive auf Texte einzulassen, die noch nicht zur Klassizität erstarrt sind. The Impossibility of Being Kafka lautete mal der Titel eines Essays im New Yorker. Aber bei wem anders als bei Kafka lässt sich lernen, dass die verrücktesten Dinge passieren. Kafka zu sein war nicht ganz einfach, ihn zu lesen ist eindeutig besser. Die Biographien erlauben keinen Zweifel: Wirklich schlimm wäre es, eines Morgens aus unruhigen Träumen zu erwachen und Franz Kafka zu sein.
Klaus Wagenbach Biographie seiner Jugend. Wagenbach, Berlin 2006, 368 S., 29,50 EUR
Reiner Stach, Franz Kafka Die Jahre der Erkenntnis. Fischer, Frankfurt am Main 2008, 729 S., 29,90 EUR
Peter-André Alt, Frank Kafka Der ewige Sohn. Eine Biographie. Beck, München 2005, 762 S., 34,90 EUR
Andreas B. Kilcher, Franz Kafka BasisBiographie. Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2008, 160 S., 7,90 EUR
Kafka-Handbuch, Hrsg. von Bettina von Jagow und Oliver Jahraus. Vandenhoeck, Göttingen 2008, 576 S., 49,90 EUR
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