Widerständiges Material

Gratwanderung Frieder Otto Wolf sucht in "Radikale Philosophie" einen Ausweg aus dem linken Theoriedilemma

Welche Theorie radikal ist, welche sich sogar in der Konkurrenz mit anderen den Komparativ verdient, ist kein Thema mehr. Konfrontation und Polemik, diese verfeinerte Spezialität der K-Gruppen in den siebziger Jahren, sind unzeitgemäß. Für eine linke Theorie ergeben sich daraus durchaus entspannende Konsequenzen. Seit den Anfängen der Postmoderne geht es darum, verschiedene Konzepte, Thesen oder Entwürfe miteinander zu kombinieren, Synthesen zu entwickeln, statt Grenzen zu ziehen. Ursachen mag das viele haben, die Komplexität heutiger Gesellschaften, den geschwundenen Einfluss marxistischer Theorie oder die mangelnde Nachfrage nach soziologischen Modellen, denn gerade die Soziologie ist auf eine zivile Regelung sozialer Konflikte angewiesen und als Wissenschaft in hochgerüsteten Gesellschaften entbehrlich.

Eine "radikale" Theorie kann aus dieser Entwicklung ihren Vorteil ziehen, denn anders als bei Begriffen mit ehemals progressivem Gehalt wie Modernisierung oder brav gemäßigten Termini wie Reform, wurde "radikal" nicht umfunktioniert und ins genaue Gegenteil verkehrt. Es klingt immer noch verdächtig nach einem Erlass, der bei Bedarf herausgekramt werden kann; radikal ist einer noch immer besser nicht, der etwas werden will. Mit diesem Wort lässt sich also etwas anfangen.

In seinem Buch Radikale Philosophie konstatiert Frieder Otto Wolf, "dass es den Kräften der Linken seit der Krise des Marxismus bisher nicht gelungen ist, einen gemeinsamen diskursiven Raum und einen kompatiblen diskursiven Code für ihre strategische Überlegung zu finden". Ob der Verlust eines Primärcodes nun Not oder Tugend markiert, der Autor findet in der angelsächsischen radical philosophy eine Theorierichtung, die der aktuellen Lage Rechnung trägt. Er beruft sich auf die britische Zeitschrift Radical Philosophy, die seit 1972 erscheint sowie die 1982 in den USA gegründete Radical Philosophy Association. Beide sind plural ausgerichtete Einrichtungen, erstere eher theoretisch, letztere mehr politisch orientiert. Gemeinsam ist ihnen auch der Brückenschlag zwischen den radikalen Ideen der sechziger Jahre und den sozialen Bewegungen der nachfolgenden Jahrzehnte. Die Einflüsse sind jeweils zahlreich, und sie sind theoretischer wie praktischer Art, im Wissen, dass ein Zusammenhang zwischen beiden besteht - was sich nicht nach großer Erkenntnis anhört, aber in der bürgerlichen Philosophie nimmermüde ignoriert bis geleugnet wird. Wolf versucht, innerhalb der weitgespannten Debatten über "radikale Philosophie" Themenfelder abzustecken und Schwerpunkte zu setzen. Er diskutiert die Sprachphilosophie, die in den siebziger Jahren zu einer Leitwissenschaft avancierte, die Folgen für den Materiebegriff, der im Spiel von Signifikat und Signifikant keine tragende Rolle mehr übernahm oder die Theorie der Nachhaltigkeit, die von den ökologischen Bewegungen entwickelt wurde.

Eine Debatte, ob und inwieweit das alles in eine umfassende Theorie integriert werden kann, unterbleibt hier und das aus guten Gründen, denn dieser Versuch wäre selbst nicht sehr radikal. Stattdessen versucht Wolf, einen Impuls, der in allen Disziplinen und theoretischen Richtungen mehr oder weniger implizit am Werke ist, aufzudecken und als Bedingung einer "radikalen Philosophie" kenntlich zu machen. Herrschaftskritik, so der Autor, ist dasjenige Motiv, mit dem philosophische Entwürfe konfrontiert werden müssen, und das diesen damit auch gleich eine bestimmte Funktion innerhalb der Gesellschaft zuweist.

Der Versuch von Frieder Otto Wolf, die angelsächsische Richtung der radical philosophy auch hierzulande heimisch zu machen, reiht sich ein in andere theoretische Bemühungen, nach der Krise des Marxismus und der Niederlage der radikalen Bewegungen der sechziger Jahre, intellektuelle Strömungen wie Sprachphilosophie, Postmoderne, Dekonstruktion, auf ihre Verwendbarkeit in einer herrschaftskritischen Theorie zu überprüfen. Wenig Energie wird darauf verwandt, über Sinn oder Unsinn einer Rückkehr zu alten Positionen zu fabulieren, also etwa das alte, patriarchalisch geprägte Subjekt wiederzubeleben, die Widerspiegelungstheorie oder den absoluten Wahrheitsanspruch metaphysischer Provenienz zu diskutieren. Manche Gespenster sind zum Glück tatsächlich verscheucht.

Umso leichter fällt es, an eine in Vergessenheit geratene Eigenschaft radikaler Theorien zu erinnern. Der Marxismus besaß zwar immer eine polemische Qualität, aber ebenso eine beträchtliche Synthesefähigkeit, die allerdings seit den Gefechten der dreißiger Jahre bis in die siebziger hinein arg gelitten hatte. Einigkeit ist schnell darüber herzustellen, dass zum Beispiel Frauen- und Ökologiebewegung wichtige Kritikpunkte vorgebracht haben, aber die Details werden in der Grauzone von radikaldemokratischer und marxistischer Theorie verhandelt. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe hatten in ihrem vor allem im angelsächsischen Raum einflussreichen Buch Hegemonie und radikale Demokratie den "alten" Marxismus dekonstruiert und in relevanten, vor allem den politisch-ökonomischen Teilen, verabschiedet. Sie schrieben: "Der Marxismus ruht im Denken des 19. Jahrhunderts wie ein Fisch im Wasser." Andere wie etwa Daniel Bensaid in Marx for our times insistierten dagegen auf der Zäsur, die der Marxismus in Wissenschaft und Politik bedeutete.

Eine "Dekonstruktion des Marxismus" und die Kritik an seiner mangelnden Pluralität sind selbst Geschichte geworden und folglich kann Wolf eine plurale Organisation theoretischer und politischer Arbeit voraussetzen und darüber diskutieren, was unverzichtbar im Sinne eines radikalen Anspruchs sein soll. Gegen den linguistic turn führt er den Realitätsbezug von Wissenschaft und Politik an, ergänzt um einen erneuerten Materialismus, in dem Materie nichts ist, was schlicht da ist und erkannt werden kann, sondern als "widerständiges Material mit seinen Kontingenzen, Unverfügbarkeiten und Unvorhersehbarkeiten" begriffen wird.

Auf diese Weise kann eine Theorie philosophisch argumentieren und den Bezug zu politischen und sozialen Bewegungen herstellen. Häufig ähneln Modernisierungen oder Neufassungen einer radikalen Theorie einer Gratwanderung. Über die Fragen, wie weit die Revision gehen soll, wann ein Absturz in den affirmativen Mainstream droht, gehen leicht die Meinungen auseinander. Mit der radical philosophy kann das Risiko eingegangen werden, denn die von Frieder Otto Wolf beschriebenen Essentials - gegen den Relativismus der Meinungen wird auf dem Wahrheitsanspruch insistiert; Herrschaftskritik und Emanzipation sind nicht verhandelbar - sorgen für eine stabile Basis.

Konsequenzen für die politische Arbeit werden hier nur angedeutet. Radikale Philosophie favorisiert einen Diskurs über die Methode und den theoretischen Rahmen. Wolf schreibt: "›Radikale Philosophie‹ fällt laufenden Diskursen ins Wort, ohne wirklich gefragt zu sein." Das hört sich nun wieder ausgesprochen politisch an. Alle, die frustriert meinen, dass damit auch anschaulich die Möglichkeiten linker Theorie heute bezeichnet werden, können getröstet werden. In Gesellschaften, die auf Herrschaft beruhen, und nur solche kennen wir, kann es nicht anders sein.

Frieder Otto Wolf, Radikale Philosophie. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, 2002, 286 S., 24,80 EUR

www.radicalphilosophy.com

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