Literaturwissenschaftler können sich eigentlich freuen über die Debatte, die sich in den Feuilletons und im Netz an der geplanten Neuauflage des Kinderbuchs Die kleinen Hexe von Otfried Preußler entzündet hat. Es geht dabei um die Frage, ob, wie vom Verlag angekündigt, auf Wörter wie „Neger“ verzichtet werden kann (Freitag vom 10. Januar). Der Beruf des Literaturwissenschaftlers ist es, jedes Wort und jedes Komma zu beachten. In der Öffentlichkeit erscheint das oft als gelehrte Pedanterie. Hier aber entbrennt ein erbitterter Streit um einzelne Wörter, die in der Neuausgabe nicht mehr vorkommen sollen. Pedanterie? Vielleicht, aber vielleicht ist sie auch notwendig. Einzelne Wörter sind möglicherweise wichtig.
Es ist sicher kein Zufall, dass die Diskussion an einem Fall entsteht, bei dem es um „politische Korrektheit“ geht, wie die beliebte Formulierung lautet. Entschlossen eröffnen viele Beiträge weite Horizonte. Die Meinungsfreiheit stehe auf dem Spiel, es drohe Zensur, die Integrität von Geschichte und Erinnerung sei gefährdet. Oft klingt es, als sei eine vage, aber mächtige Instanz erstanden, die von nun an die Sprache überwachen wolle. Selbst die Zeit formuliert zum Streit um Preußlers Buch eine Frontstellung, die sonst eher von anderen Zeitungen bemüht wird: „Unsere liebsten Kinderbücher werden politisch korrekt umgeschrieben.“ Da sind einerseits „wir“ und das, was uns teuer ist. Und dann sind da andererseits die „anderen“, die uns das nehmen wollen. Sie werden nicht genannt, aber wirkungsvoll evoziert.
Verbot und Zensur sind empfindliche, heikle Themen. Aber ist das hier nicht eine Dramatisierung, die eher schadet? Sind die Assoziationen zu Orwells 1984, die häufig zu lesen waren, gerechtfertigt? Wer ist eigentlich jene Instanz, jenes „sie“? Um den „Staat“ oder eine andere Macht, die in „unser“ Leben eingreift, handelt es sich gerade nicht. Wäre es so, dann könnte die Diskussion gar nicht geführt werden. Wir leben in einer freiheitlichen Gesellschaft, in der es keine Zensur in Orwells Sinne gibt.
Bei den Änderungen handelt es sich zunächst um die Entscheidung eines Verlages. Das sind einzelne Personen, das ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen. Und der Verlag hat ein besonderes Recht zu der Entscheidung, schließlich kann er anders über den Text verfügen als andere. Von 1984 kann also nicht die Rede sein, nicht von Meinungsverboten oder -diktaten. Trägt nun aber nicht die Dramatisierung der Debatte genau dazu bei, dass mancher das Gefühl haben mag, er kämpfte für die Freiheit, indem er auch einmal das Wort „Neger“ sagte? Gefährlich ist das überdies, weil eine dialektische Falle gestellt wird: den Glauben, seine Freiheit gegen eine anonyme Übermacht nur behaupten zu können, indem man reflexhaft Dinge tut, die dieser Übermacht widersprechen.
Raymond Carvers Lektor
Warum also muss man von Zensur sprechen? Lässt sich die Änderung des Textes nicht als Meinungsäußerung genau identifizierbarer Instanzen verstehen? Mit einer solchen Meinungsäußerung engagiert man sich in einer Debatte. Für diese muss man die Verantwortung übernehmen, und genau das tun der Verlag und sein Autor. Der öffentliche Aufruhr ist der mögliche Preis, den man für eine solche Meinungsäußerung bezahlen muss.
Es ist auch aus anderen Gründen problematisch, den Thienemann Verlag als Zensurinstanz zu verstehen. Unterschlagen wird in der Debatte meist, dass die Änderungen im Einvernehmen mit dem Autor des Textes vorgenommen werden. Freilich: Man erfährt das aus der Presseerklärung des Verlags. Aber sollte man es allein deshalb anzweifeln und vermuten, dass ein „böser“ Verlag den „guten“ Autor unter Druck gesetzt hat? Solange Otfried Preußler nichts anderes verlauten lässt, besteht dazu kein Grund. Selbst wenn die Änderungen nicht von Preußler vorgeschlagen wurden und er sie lediglich abgesegnet hat, geschieht nichts Außergewöhnliches. Welcher literarische Text in der Moderne hat sich auf dem langen Weg vom Manuskript zum Druck nicht durch die Zusammenarbeit von Autoren und Lektoren verändert? Man muss nicht an den extremen Fall von Raymond Carver erinnern, dessen Texte ihren prägnanten Ton erst bekamen, weil sein Lektor Gordon Lish sie radikal zusammengestrichen hatte. Am Fall von Die kleine Hexe ist nicht außergewöhnlich, dass Wörter geändert werden, weil der Autor Anregungen von anderen akzeptiert und autorisiert hat. Außergewöhnlich ist lediglich, dass das zur Kenntnis der Öffentlichkeit gekommen ist – und dass sie sich in diesem Maße davon provoziert fühlt.
Philologisch gesehen, wäre die veränderte Die kleine Hexe nichts anderes als die überarbeitete, durch ihren Urheber autorisierte Neuauflage eines Textes. Das ist in der Geschichte der Literatur gang und gäbe. Goethe hat seinen Werther 1787, 13 Jahre nach der Erstausgabe, in einer neuen Fassung vorgelegt. Für die Werkausgabe am Ende seines Lebens hat er eine Reihe von Texten neu durchgearbeitet. Die Brüder Grimm haben ihre Kinder- und Hausmärchen in den fünf Auflagen von 1812 bis 1857 derart stark verändert, dass die letzten Fassungen kaum noch etwas mit den ersten zu tun haben. Natürlich spielt in solchen Fällen etwas eine Rolle, was man die „Politik“ eines Autors nennen kann: Er streicht und verändert Dinge, die er gegenwärtig nicht mehr gedruckt sehen möchte. Er stellt sein eigenes Bild her, indem er ältere Texte in einer Form arrangiert, die ihm aus späterer Perspektive angemessen erscheint. Er modifiziert seine eigene Vergangenheit, übt – wenn man schon so will – Zensur an sich selbst. Dadurch erfährt man etwas über veränderte Vorstellungen des Autors, über den Willen, in einem bestimmten Licht zu stehen. Solche Vorgänge zu beobachten und zu analysieren ist das eine. Aber wer will es einem Autor verwehren, etwas zu ändern, wenn sich seine Meinung gewandelt hat?
Reflektierte Kinder
Ein literaturwissenschaftliches Argument spielt in der gegenwärtigen Diskussion eine große Rolle. Oft wird die Historizität des Textes betont, die sich in der ursprünglichen Fassung spiegele, in der neuen aber getilgt werde. Aber selbst wenn man ausblendet, dass Preußler als Autor das Recht hat, sein gegenwärtiges Bild in der Öffentlichkeit zu gestalten – selbst dann bleibt zu fragen, ob dieses Argument dem Lesemodus eines Kinderbuchs angemessen ist. Lesen Kinder historisierend, distanzieren sie das Gelesene von sich, indem sie feststellen, dass man 1957 offenbar unverdächtigerweise von „Neger“ sprechen konnte, heutzutage aber die Sensibilität dem Begriff gegenüber gewachsen ist? Das kann man getrost bezweifeln.
Eine kritische, distanzierende Lesehaltung ist etwas Wünschenswertes. Aber man wird sie bei Kindern nicht erwarten können. Und entsprechend mag man einräumen, dass ein altes Kinderbuch mehrere Funktionen haben kann. Einerseits bietet es sich der historisierenden Lektüre von Erwachsenen dar, die sich vielleicht auch an ihre eigene Kindheit erinnern. Andererseits aber hat es eine unmittelbare Bildungsfunktion für Kinder, die das Gelesene eben nicht distanzierend reflektieren.
Die Brüder Grimm, deren Märchen immer wieder als Musterbeispiele für eine „robuste“, gewalttätige Kinderliteratur angeführt werden, haben sich auf diese zweite Lesehaltung eingelassen. In der ersten Auflage der Märchen befand sich etwa eine Erzählung namens Wie Kinder Schlachtens miteinander gespielt haben: Ein Kind spielt das Schwein, ein anderes den Schlachter, und da ein Messer zur Hand ist, wird das Schwein geschlachtet. In späteren Auflagen fehlt das Märchen.
Kein Ende der Debatte
Selbstzensur? Womöglich, aber eine im Namen der Dezenz, die die Brüder Grimm an dieser Stelle und in Bezug auf mögliche kindliche Leser für nötig hielten. Das wird ihnen nicht leicht gefallen sein, schließlich waren sie Vollblutphilologen. Die Märchen hatten sie in erster Linie für philologisch interessierte Erwachsene gesammelt, die sie historisierend lesen sollten. Aber eben auch für Kinder. Beide Funktionen des Buches wurden unvereinbar. Die Grimms mussten sie unterscheiden – und sich am Ende entscheiden.
Das soll kein Plädoyer dafür sein, dass „man“ aus „allen Kinderbüchern“ alles herausstreichen sollte, was Erwachsene als pädagogisch problematisch empfinden könnten. Wie gesagt, von einem „man“ und einer mächtigen Zensurinstanz kann nicht die Rede sein. Aber gerade deshalb darf man die Veränderung des Textes auch anders betrachten.
Durch bestimmte Wörter können sich Leser verletzt fühlen – und der Verlag und sein Autor haben sich entschieden, das nicht zuzulassen. Dadurch zensieren sie nicht als anonyme Mächte einen historischen Text und verbieten niemandem das Wort. Vielmehr verändern sie die Worte, die sie selbst verantworten müssen. Und sie tun das, damit sie diese Verantwortung weiterhin übernehmen können. Wie auch immer man dazu steht – die heftigen Reaktionen zeigen, dass der Verlag mit der Neuausgabe in einer wichtigen Debatte Stellung nimmt, die noch lange nicht hinter uns liegt.
Mark-Georg Dehrmann unterrichtet Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Hannover
Kommentarfunktion deaktiviert
Die Kommentarfunktion wurde für diesen Beitrag deaktiviert. Deshalb können Sie das Eingabefeld für Kommentare nicht sehen.