Frühphase der BRD

Studie Axel Schildts grandioses Projekt über „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“ bleibt leider ein unvollendetes Fragment
Ausgabe 50/2020

Ende 1957 veröffentlichte der engagierte Parteigänger und erfolgreiche Publizist im Nationalsozialismus Kurt Ziesel das Buch Das verlorene Gewissen. Hinter den Kulissen der Presse, der Literatur und ihrer Machtträger von heute. Das Buch machte Furore, wenn auch nur heimlich, es wurde gewissermaßen unter der Decke gelesen. Zentrale Botschaft der Schrift: Eine ganze Reihe von Publizisten, die die NS-Vergangenheit anderer anprangerten, seien selbst Stichwortgeber des Nationalsozialismus gewesen. Darunter auch der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Karl Korn, ehemaliger Feuilletonchef der Wochenzeitung Das Reich. Korn, der nach 1945 für sich in Anspruch nahm, zu den Regimegegnern gehört zu haben, schwieg zunächst zu den gegen ihn gerichteten Anwürfen. Ende 1959 zirkulierte dann in Kollegenkreisen seine Besprechung des Films Jud Süß. Korn bemühte darin alle gängigen antisemitischen Klischees und zeigte sich am Ende seiner Überlegungen überzeugt: „Man spürt und erkennt aus diesem Film, daß das jüdische Problem in Deutschland innerlich bewältigt ist.“ Korn geriet nun durch die Veröffentlichung des gewissermaßen ehrlich gebliebenen Nationalsozialisten Ziesel unter Druck, er sandte Kopien dieses Beitrages unter anderem an den gerade aus dem Amt geschiedenen Bundespräsidenten Theodor Heuss, den Publizisten Walter Dirks und an Theodor W. Adorno, mit der Bitte, den Artikel wohlwollend zu begutachten. Sowohl Heuss wie auch Dirks verweigerten sich bei aller sonstigen Sympathie für den ihnen gut bekannten Korn diesem Ansinnen. Dirks plädierte dafür, „mit offenen Karten zu spielen“, und riet Korn dazu, „von dem Artikel abzurücken“. In einem sowohl an Dirks wie an Korn übersandten Brief an Korn stimmte Adorno der Position von Dirks in dieser Angelegenheit zu, um darüber hinaus auszuführen, er glaube, dass „die Leute, die hinter derartigen Dingen stehen, die unbelehrbaren Nazis sind, die einem bis ins Innerste anständigen Menschen wie Korn die Sünden vorwerfen, die sie selber begingen, weil sie nicht ertragen können, dass er besser ist als sie“. Und so bekundete Adorno dem von ihm als „bis ins Innerste anständigen Menschen“ qualifizierten Herausgeber der FAZ seine Bitte, er möge ihn wissen lassen, ob er „in Ihrer Angelegenheit öffentlich etwas tun“ könne.

Die langen 60er Jahre

Eine von heute aus betrachtet eigentümliche Position, für die Adorno aber auch explizit politische Gründe in Anspruch nehmen konnte. Denn es war Karl Korn selbst, der auch als ein Mentor des jungen Philosophiestudenten Jürgen Habermas gelten kann. Ihm eröffnete er Ende Juli 1953 die Möglichkeit, in der FAZ einen mutigen Frontalangriff gegen die von Martin Heidegger publizierten Vorlesungen aus dem Jahr 1935 zu veröffentlichen. Dabei stammte der provokante Titel „Mit Heidegger gegen Heidegger denken“ von Korn, der sich für Habermas auch dann publizistisch in die Bresche warf, als dieser in einem Beitrag in der Zeit mit dem zeitgenössisch klassischen Totschlagargument „Neomarxist“ gebrandmarkt worden war.

All das kann man in der nur als grandios zu bezeichnenden Studie von Axel Schildt über Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik nachlesen. In der Durchsicht und spezifischen Verarbeitung allein von rund 100 Nachlässen erweist sich der Historiker als ein wahrer Goldgräber. In einer kaum glaublichen Rechercheleistung durchpflügt er mit klarem Blick auf das zentrale Sujet seiner Begierde die Ideen- und Zeitungslandschaft der Bundesrepublik bis kurz vor das Jahr 1968. Dabei spricht Schildt in Referenz, aber auch mit Distanz zu dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu gerade nicht von einem „Feld“, auf dem Intellektuelle ihre Kabinettstückchen vollführen, sondern bevorzugt die Metapher der „Bühne“. In leichter Umdrehung wäre hier zu fragen, ob diese Bühne denn nicht immer auch auf einem Feld steht.

In drei langen Kapiteln zeichnet Schildt die Neuordnung des intellektuellen Medien-Ensembles in der Nachkriegszeit, die „Einübung des Gesprächs“ in der intellektuellen Öffentlichkeit der 1950er und die Rolle der Intellektuellen in der Transformation der „langen 60er Jahre“ nach. Dann bricht die Darstellung mit der ausführlich gewürdigten Studie Die Transformation der Demokratie von Johannes Agnoli ab. Dabei werden noch im Inhaltsverzeichnis die Darstellung der Rolle der Intellektuellen in der Spätphase der alten Bundesrepublik in den 1970er und 1980er Jahren sowie die ihres Wegs in die Berliner Republik in Aussicht gestellt.

Die stete Suche nach Geld

Der Grund dafür ist so einfach wie traurig: Axel Schildt verstarb im Frühjahr 2019. Es ist das Verdienst seiner langjährigen Lebenspartnerin Gabriele Kandzora und seines seit Jahrzehnten eng mit ihm zusammenarbeitenden Kollegen Detlef Siegfried, diese leider Fragment gebliebene Studie, verbunden mit einem instruktiven Nachwort, herausgegeben zu haben. Ihre Beobachtung, dass Schildt „mit Klischees und gängigen Vorurteilen“ aufräumt, „die über die Intellektuellen im Umlauf waren“, ist völlig zutreffend. Nicht immer ganz überzeugend ist der von Schildt stark gemachte Begriff des „Medien-Intellektuellen“. Bestimmten von ihm gewürdigten 68er-Intellektuellen standen die etablierten Medien doch gar nicht zur Verfügung, und trotzdem gewannen sie im Zusammenhang mit der Revolte politische Bedeutung. Wäre es hier nicht präziser gewesen, von Intellektuellen auf der steten Suche nach Geld, Geltung und Ressourcen zu sprechen, wobei die Partizipation und Teilnahme an Cliquen, Bünden und Bekanntenkreisen auch dazugehört? Gleichwohl: Selten liest man sich so gerne durch rund 800 Seiten von einem Historiker, um sich noch ein paar hundert Seiten mehr aus seiner Feder zu wünschen.

Info

Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik Axel Schildt Wallstein 2020, 896 S., 46 €

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