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Theorie Moritz Basler und Heinz Drügh versuchen sich an einer Ästhetik der Jetztzeit. Der könnte in einer Zeit der ethisch-moralischen Überhöhung eine entscheidende Bedeutung zukommen
Ausgabe 44/2021

Auch die Literaturkritik hatte ihr Sommerthema. Mit seinem Aufsatz Der neue Midcult. Vom Wandel populärer Leseschaften als Herausforderung der Kritik, der im Heft Pop, Kultur und Kritik erschien, versuchte der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler die Debatte über die ästhetische Qualität von literarischen Texten der Gegenwart zu befeuern.

Mit „neuem Midcult“ ist nach Baßler eine Literatur gemeint, die Ethik und Ästhetik auf eine Weise zusammenbringen will, die formal uninteressant und inhaltlich banal ist – eine, wie es im Buch heißt, langweilige „Ästh-Ethik“. Baßler nennt Stella von Takis Würger und 1000 Serpentinen Angst von Olivia Wenzel, Schwarzes Herz von Jasmina Kuhnke könnte man als aktuelles Beispiel hinzufügen. Viele Gedanken dieses Aufsatzes kehren jetzt in dem Buch Gegenwartsästhetik wieder, das der Münsteraner Germanist Baßler gemeinsam mit seinem Frankfurter Kollegen Heinz Drügh verfasst hat. Die Gegenwartsliteratur, herausgefordert durch „das Politische und Ethische“, reagiere bisweilen etwas biedermeierlich. Inhaltliche, geschichtsmoralisch codierte Bedeutsamkeit (Stasi, Nationalsozialismus) und identitätspolitische Positionierung (Minderheit, Diskriminierung) verunmöglichten den kritischen Blick für die Form, so Baßler in seinem viel diskutierten Aufsatz. Im Buch wird dieser Befund nun auf die Bereiche der bildenden Kunst und der Popkultur übertragen. Für das Ethisch-Moralische in der ästhetischen Kommunikation sind dann Identität, Herkunft, Authentizität zuständig. Diese Instanzen lassen die schlichten Formen und konventionellen Erzählweisen vergessen. Es entsteht eine Mischung aus Sozialfolkore, Aufstieg-durch-Bildung-Porno und identitätspolitischem Kitsch.

Auf Hannah Arendt hören

Aus „Stilgemeinschaften“, die im ästhetischen Urteil ihre Freiheit erfahren, wie Baßler und Drügh deutlich machen, werden im Fall einer ethisch-moralischen Überhöhung Überzeugungsgemeinschaften, die sich hinter den Zaun ihrer immer schon wahren, unhinterfragbaren, nicht mehr diskutierbaren Meinung zurückziehen. So zerstört man eine „pluralistische Öffentlichkeit“; ästhetische Kommunikation könnte diesem Trend entgegenwirken. Hier sind die Autoren schnell bei Hannah Arendt. „Was sich“, schreibt Arendt in ihrem Denktagebuch, „am Geschmack zeigt, ist, welche Art Menschen zusammengehören. Und dies Zusammengehören ist weder moralischer noch theoretischer Natur, es ist das einzige, worauf Verlass ist.“ Nicht die Vernunft, sondern die Fähigkeit, über sie hinauszugehen, sich und die Wirklichkeit anders zu denken, sie sich „einzubilden“, ist das „Band zwischen den Menschen“.

Das Buch beginnt mit einer Reflexion über das Ästhetische, das die beiden Autoren als „Modus“ begreifen, der eine „komplexe Aushandlung zwischen Sinnlichkeit, Begriff und Gefühl“ darstelle. Gleichwohl ist dieser Modus nicht einfach zu verstehen. Jedenfalls scheint das Ästhetische in der Gegenwart mehr zu sein als nur die philosophische Reflexion des Kunst- und Naturschönen. Ich nehme etwas wahr, einen Film von Tarantino beispielsweise. Irgendwas – was, weiß ich nicht so genau – macht das Anschauen des Films mit mir. Ich fühle mich gut, cool, unterhalten, irgendwie bewegt und anders. So geschieht die „komplexe Aushandlung“. Ästhetik ist daher immer auch Vermittlung des Getrennten und Erlebnis seiner selbst. Gegenwartsästhetik nun ist, meinen die beiden Germanisten, mehr als früher „Faszination“ für alle möglichen Gegenstände, von Fußballspielen bis zu Computer-Games.

Faszination ist zuerst einmal ganz unbestimmt, meint nur, dass eben etwas in und mit uns geschieht. Ästhetik ist also immer auch „Spektakel“, die Kunst der Überbietung, die Kunst des noch Lautereren, noch Schrilleren, wie zum Beispiel bei Popkonzerten, aufgepushten Vernissagen und Produktpräsentationen. „Serialität“, eine weitere Eigenschaft der Ästhetik der Gegenwart, setzt den Unterschied zur Originalität, die früher für die Ästhetik wichtig war, hier nun geht es um Wiedererkennbarkeit.

Ein iPhone ist eben nicht nur ein Gebrauchsgegenstand, sondern auch Style und Statement. Und, das ist in neoliberalen Zeiten selbstverständlich, es muss für die ästhetischen Produkte und Produzenten einen Markt, Marken und Marketing geben. Beyoncé macht zwar Kunst, ist aber eben auch eine Marke. Eine solche Ästhetik ist nicht mehr elitär, sondern populär, allgegenwärtig und ein steter Begleiter unseres Lebens. Damit beschäftigt sich der erste Teil des Buches.

Der zweite Teil unterteilt die Gegenwart in Problemzonen, die die Autoren mit „Demokratisierung“, „Digitalisierung“ und „Anthropozän“ überschreiben. Bildende Kunst und Literatur intervenieren in die Gegenwart hinein, entwickeln Formen und Verfahren, in und mit denen Mensch und Natur, Mensch und Maschine, Literatur, Kunst und Bevölkerung einander begegnen. Die Ästhetik des Anthropozäns steht allerdings vor dem Problem, im Rahmen des negativen Einflusses des Menschen auf das Fortleben der Natur etwas kritisch zu reflektieren, was eigentlich die Grundlage von Ästhetik und Kunst ist: der schöpferische Mensch.

Die Ästhetik des Anthropozäns, die, wie die von Baßler und Drügh kommentierten Beispiele deutlich machen, eine Natur ohne den Menschen entwirft, ist gleichsam, auch wenn die beiden Herren das nie zugeben würden, Negativität in Reinform. Das schöpferische und kreative Subjekt wird quasi zum bad guy. Diese Ambivalenz entgeht den Autoren komplett. Ästhetik, schreiben sie, ist „faszinierte Distanz und qualifizierte Intensität“. Woran oder wodurch erkennen wir aber, ob etwas Gegenstand der Ästhetik ist oder sein kann? Warum kann man eine Erfahrung als „krass“, „creepy“, „edgy“, „cool“ beschreiben und damit anschlussfähig ästhetisch kommunizieren? Ästhetische Urteile, dies zeigen die beiden Autoren in ihrer Auseinandersetzung mit der Geschichte der philosophischen Disziplin, sind nur selten rein „ästhetisch“, vielmehr immer „gemischt“, da sind immer auch Ethik und „Begrifflichkeit“ drin. Ästhetische Urteile kratzen an den Grenzen von Erkenntnis, Ethik und Moral.

Ein Urteil aber teilt die Welt eben nicht mit, es teilt sie ein. Urteile sind daher immer Entscheidungen, auch gerade solche des Geschmacks. Und so, schreiben die Autoren gleich zu Beginn, mache allein die schiere Quantität unserer alltäglichen Geschmacksentscheidungen im Supermarkt und anderswo die Rede von der Ubiquität des Ästhetischen sinnvoll. Entscheidungen im Ästhetischen sind wiederum immer komparativ. Sie vergleichen, optimieren, sie versprechen, dass man sich nicht nur schön und cool fühlen wird, sondern durch die Entscheidung, dies oder jenes zu tragen, zu kaufen und anderes nicht, noch schöner, noch cooler werden kann. Dass so Ästhetisierung der eigenen Lebenswelt und neoliberale Optimierung zusammenkommen, sehen die Autoren, ziehen daraus aber keine Konsequenzen für die politischen Implikationen ihrer Theorie. Politisch ist das Buch absolut mutlos, leider.

Auf der einen Seite erläutern die zahlreichen Beispiele aus bildender Kunst (Donovan, Panton), Film (Tarantino vor allem), Musik (Jay Z, Deichkind) und Literatur (Leif Randt, Joshua Groß und Juan S. Guse) auf sehr erfrischende Art und Weise die Thesen der Verfasser. Leider ist die Darstellung der Möglichkeiten von „Ästhetik“ dann aber weniger frisch. Dabei ist den Autoren kaum vorzuwerfen, dass sie die pragmatische Ästhetik John Deweys übergehen, Nelson Goodman nur streifen und auch nicht über Hegels Ästhetik sinnieren, die ja die Differenz zwischen Ästhetik/Philosophie der Kunst reflektiert. Im Gegenteil, diese eingeschränkte Perspektive schmälert nicht den Ertrag des Buches, sondern macht Anschlüsse sowohl in ästhetiktheoretischer als auch in kultur- und literaturwissenschaftlicher Hinsicht möglich.

Manchmal nervt die Lektüre dennoch ein wenig, weil man an vielen Stellen den Eindruck gewinnt, die beiden Autoren schrieben nicht nur über Gegenwartsästhetik, sondern gleichsam auch als Ästheten der Gegenwart, als Theoriedandys gewissermaßen, die manchmal zu nah bei den Dingen und den Diskursen sind, über die sie schreiben.

Am Ende der Lektüre dieses elegant geschriebenen und auch ästhetisch interessanten Buches beschleicht einen so das Gefühl, Gast auf einer Ü50-Party der Kulturtheorie gewesen zu sein – bisschen Theorie-Hip-Hop der Gegenwart, aber eben auch viel aus den 80ern und 90ern.

Gegenwartsästhetik Moritz Baßler, Heinz Drügh Konstanz University Press 2021, 307 S., 28 €

Markus Steinmayr lehrt deutschsprachige Literatur an der Universität Duisburg-Essen

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