Die Heilige Familie. Das Gemälde sticht heraus aus den Habseligkeiten, die die Familie bei ihrer Umsiedlung aus der Tschechoslowakei in die sowjetische Besatzungszone mit sich führt. Ein paar Kartoffeln, ein paar Rüben und das Notdürftigste an Kleidung hat man gepackt. Aber dann ist da dieses Bild, gemalt von Willi Sitte, dem Sohn, dem Bruder. Einige Jahrzehnte später wird der Journalist Aron Boks das Bild von seiner Großmutter präsentiert bekommen. Es ist noch kein typischer Sitte, da ist nichts von Kampf und Fleisch und roher Ausdruckskraft zu sehen. Aber es ist doch ein Sitte. Aus der großmütterlichen Enthüllung wird ein Buch, Nackt in die DDR heißt es. Boks nähert sich dem Künstler, der ringt, mit sich, mit dem System und
m System und mit der Kunstauffassung der anderen. Auch geht es ihm um Familiengeschichte, die mit der Zeitgeschichte überblendet wird. Drittens aber fragt Boks, was das alles mit ihm persönlich zu tun hat.Willi Sitte ist einer der großen Vier, der berühmtesten DDR-Künstler. Neben Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke und Bernhard Heisig, Vertreter der Leipziger Schule, prägte Sitte als Professor und späterer Direktor an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein nicht nur seine Studenten. Sitte war ab 1974 Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR. Damit avancierte er zu einer zentralen Figur der Kulturpolitik der DDR. Diese Position war es, die nach der „Wende“ das Bild von Sitte als Person und Maler prägte. Als „staatsnaher Künstler“, der obendrein figürlich malte, war Sitte doppelt obsolet geworden. Hinzu kam, dass er sich nie als Geläuterter zeigte. Das Ende der DDR bedeutete für ihn Untergang; die Nachwende-Bilder sprechen von Frustration und Bitterkeit. Aber das ist das Ende der Geschichte, die mit der Heiligen Familie beginnt.Boks beschaut die Fakten zu Sittes Leben nüchtern. Schlecht kommt Sitte dabei nicht weg. Boks begreift ihn, mit den Zeitgenossen, die er für das Buch befragt hat, als einen Mann, der an den Sozialismus glaubte, dessen Antifaschismus und Antiimperialismus weder aufgesetzt noch systemtreues Lippenbekenntnis waren, sondern Haltung, die er bisweilen in Agitprop-Gemälden offensiv zur Schau stellte. Seine Überzeugung ist es, die ihn am Kriegsende aus Italien, wo er erste Erfolge als Künstler feierte, in die Heimat zurückkehren lässt. Warum macht sich dieser Mann nackt, warum bleibt er nicht, wo er ein besseres Leben haben könnte? Es gilt, ein neues System aufzubauen! Willi Sittes Vater, Gründungsmitglied der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei, der in die Sowjetische Besatzungszoneumsiedeln muss, hat seine politische Überzeugung an die Söhne weitergegeben. Alle werden versuchen, den Sozialismus produktiv zu gestalten.Sittes Herkunft und Biografie sind es, die ihn für das System interessant machen, hat er doch eine einwandfreie antifaschistische Gesinnung vorzuweisen. Und wer könnte das Leben der Arbeiter in diesem Arbeiter- und Bauernstaat besser darstellen als der Bauernsohn Sitte? Allein, hieran scheitert er lange Zeit. Sitte sucht nach einer eigenen Bildsprache, wobei ihn die Entwicklung von einer altmeisterlich anmutenden Malweise über Anleihen bei Pablo Picasso und Fernand Léger führt, bis er schließlich seinen ganz eigenen, unverkennbaren Sitte-Stil findet. Fleisch, das kräftig und stramm ist, in auffällig rosarotem Farbton. In der DDR kursierte darüber ein Witz: Man wolle lieber vom Leben gezeichnet sein, als von Sitte gemalt zu werden.Die Ambivalenzen der DDRBei der Arbeiterklasse der DDR, deren Urteil Sitte in Form von einbestellten Brigaden aus volkseigenen Betrieben überkommt, fallen seine Arbeiten gnadenlos durch. Kulturfunktionäre wiederum stellen ihn unter Formalismus-Verdacht: Es handle sich um eine bourgeoise Fokussierung auf Form und Stil; Sitte vernachlässige den Inhalt – die Darstellung einer optimistischen Arbeiterklasse. Sitte stürzt in eine künstlerische Krise, die jedoch in eine Auferstehung mündet. Er wird nicht nur künstlerisch offiziell anerkannt; er steigt in den Rang des Kulturfunktionärs auf. Von den engen Freundschaften mit den Paaren Sarah und Rainer Kirsch sowie Christa und Gerhard Wolf ist zu diesem Zeitpunkt nichts mehr übrig.So präsentiert Boks Sittes Biografie als Suche nach einer Position in einer Gesellschaft, einem System, dem künstlerischen Feld, die von Krisen und sturer Selbstbehauptung geprägt sind. Boks selbst jedoch versucht ebenfalls, seine Position zu bestimmen: Ist die Verwandtschaft mit Sitte ein bedeutungsloser Zufall, der keinen Einfluss auf ihn und seine Biografie hat?Boks Buch ist ein wichtiger Beitrag in der aufgeregt geführten Debatte über die Neubewertung der DDR-Geschichte, die Katja Hoyers Buch Diesseits der Mauer auslöste (Lesen Sie das Gespräch auf Seite 17). Das Buch, das von einer anderen DDR erzählen will, ohne die Geschichte zu beschönigen, wurde in Großbritannien selbst von konservativen Blättern geradezu hymnisch besprochen, stieß in Deutschland jedoch auf harsche Kritik ( 19/2023). Was Hoyer und Boks eint, ist die Tatsache, dass beide eben nicht in der DDR sozialisiert wurden, keine Erinnerungen an das Leben in der DDR haben. Die DDR ist bei Boks eine Art von dunklem Kontinent, der nur durch Erzählungen zu erkunden ist.Willi Sittes Biografie wiederum ist nur eine exemplarische Biografie zwischen Kunst und Macht, wie sie eine Tagung zu Sitte einst nannte. Doch so wie Sittes Erfahrungen innerhalb des politischen Systems der DDR ambivalent blieben, so muss eben auch das Bild der DDR insgesamt ambivalent bleiben. Diese kognitive Dissonanz auszuhalten, die Spannung nicht aufzulösen in Richtung eines Urteils, fällt der jüngeren Generation womöglich um einiges leichter. Man muss sich nackt machen für diesen anderen Blick auf die Ambivalenzen der DDR. Boks gelingt es mit seinem Buch.Placeholder infobox-1