Auch wenn man ihn nicht gleich erkennt: Russell Crowe bei der Eröffnung des Filmfestivals in Karlovy Vary
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Es ist nicht mehr bekannt, wessen Idee es genau war, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ein Filmfestival ausgerechnet im Kurbadort Karlovy Vary anzusiedeln. Ob es der Film- und Theaterkritiker Antonín Martin Brousil selbst war, der auch bei der Gründung der berühmten Prager Filmakademie FAMU mitwirkte, oder es seinen Begegnungen mit dem Lyriker Vítězslav Nezval geschuldet ist, bleibt ein Geheimnis. Jedenfalls kann heute, zu seiner mittlerweile 57. Ausgabe, das nunmehr als KVIFF eingeführte Karlovy Vary International Film Festival auf eine lange Geschichte samt überwundener Krise und Unterbrechungen in den 90er-Jahren zurückblicken und stolz darauf verweisen, als eines der 15 wichtigsten Filmfestivals weltweit zu gelten.
Seit Kriegsbeginn in der Uk
in der Ukraine hat das Festival noch an Bedeutung dazu gewonnen. Nachdem das staatlich ausgerichtete Internationale Filmfestival Moskau, seines Zeichens das zweitälteste der Welt, 2022 im Zuge von Krieg und Sanktionen den Akkreditierungsprozess eingefroren hat, ist Karlovy Vary nun in Europa das „östlichste“ A-Festival.Aus der geografischen Lage erhofft man sich einen anderen Blick auf den Kontinent und die Grenzen, die auch im vereinten Europa noch in vielen Köpfen von Bewohner:innen und ihren politischen Führungen existieren oder gar neu entstehen. Krisen, wohin man schaut: soziale Ungleichheit, Klima, Identität, Flüchtlingstragödien, und noch dazu ein Krieg in Europa, den man vor wenigen Jahren kaum für möglich gehalten hatte.Die Rolle der IntelligenziaMit der bohrenden Frage im Kopf, ob die intellektuellen Eliten ihre Verantwortung derzeit gut meistern, treffe ich den langjährigen künstlerischen Direktor des KVIFF, Karel Och. Welche Rolle das Festival in diesen politisch schwierigen Zeiten übernehmen will, möchte ich wissen. Die öffentliche Aufmerksamkeit auf das aktuelle Geschehen wie eben auch den Krieg in der Ukraine zu lenken, lautet seine Antwort. Er sei deswegen besonders froh, dass es ihm noch spontan eine Woche vor Festivalbeginn gelungen sei, die Musikdokumentation Scream of My Blood: A Gogol Bordello Story einzuladen, die zwei Wochen zuvor auf dem Tribeca Festival in New York Weltpremiere feierte. Die Dokumentation über Eugene Hütz, den ukrainischen Frontmann der Gypsy-Punk-Gruppe Gogol Bordello, sei viel mehr als nur eine Musikdokumentation, sondern von politischer Bedeutung. Auf dem improvisierten Konzert, eines der Highlights der diesjährigen Ausgabe, erinnerte der Aktivist Hütz das Publikum an den Prager Frühling von 1968 und bat um größere Unterstützung und militärische Hilfe für die Ukraine.Eine präzisere Antwort auf die Frage nach der Rolle der Intellektuellen lieferte übrigens das Festivalprogramm selbst: Neben Tributen an den iranischen Gegenwartsfilm, den japanischen Regisseur Yasuzō Masumura und die Hollywoodstars Russell Crowe und Woody Harrelson war das Festival geprägt von Filmen über Katastrophen, Verzweiflungsdramen und moralische Dilemmas. Wenn es Humor gab, dann war er häufig schwarz. Im Konflikt zwischen Gut und Böse entschieden sich die Protagonisten nicht selten für das Böse. Die Happy Ends waren rar.Im Hauptwettbewerb kämpften elf Filme um den Kristallglobus, den Hauptpreis des Festivals. Die imposante Statuette stellt eine ausgestreckte nackte Frauenfigur dar, die einen Globus über ihren Kopf hält. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis der Zeitgeist anfängt, diese Darstellung zu überdenken. Die Lösung wäre vielleicht ein Rotationsprinzip, bei dem der Kristallglobus im Wechsel auch von einem nackten Mann gehalten wird.Aber zurück zu den Tragödien im Wettbewerb, wo der kanadische Regisseur Pascal Plante seinen gelungenen Arthouse-Thriller Red Rooms vorstellte, der vom grausamen Mord an drei minderjährigen Mädchen und den Intrigen der Ermittlung erzählte. Die deutsch-libanesische Produktion Dancing on the Edge of a Volcano von Cyril Aris beschäftigte sich mit den Folgen der vernichtenden Explosion in Beirut am 4. August 2020. Der Film bekam eine lobende Erwähnung, genauso wie die deutsch-iranische Produktion des Regisseurs Behrooz Karamizadeh Empty Nets, der die Ausweglosigkeit jüngerer Menschen im Iran zum Thema machte. Darin möchte der junge Amir zunächst nur genug Geld verdienen, um um die Hand seiner Geliebten anhalten zu können. Dann aber rutscht er in eine kriminelle und menschenunwürdige Existenz ab, kommt dabei fast ums Leben und verliert auch noch seine Geliebte. Die georgisch-bulgarische Produktion Citizen Saint (2023) von Tinatin Kajrischvilis, ausgezeichnet mit einer lobenden Erwähnung von der ökumenischen Jury, zeigt in schönstem Schwarzweiß das Leben in den Minen.Den finsteren Themen zum Trotz erfreuten sich die Festivalvorführungen großer Popularität, sowohl beim Fachpublikum als auch bei tschechischen Besucher:innen aus dem ganzen Land. Bei der Weltpremiere der bulgarisch-deutschen Koproduktion Blaga’s Lessons (2023) von Stephan Komandarev war mein Sitznachbar ein bulgarischer Arbeiter aus Blagoevgrad, der sich zufällig in der Stadt zur Kur aufgehalten hatte.In Blaga’s Lessons geht es um die pensionierte Lehrerin Blaga, die ihre ganzen Ersparnisse bei einem Trickbetrug am Telefon verliert und deswegen das Grab ihres Mannes nicht mehr bezahlen kann. Um sich aus der Notlage zu helfen, steigt Blaga selbst ins Kriminalgeschäft ein und verlässt unwiderruflich die Seite des Guten. Der Film begeisterte das Publikum vor Ort – und wurde wohlverdient sowohl mit dem Kristallglobus als auch dem ökumenischen Preis ausgezeichnet. Hauptdarstellerin Eli Skorcheva, nach über 30 Jahren erstmals wieder vor der Kamera, bekam den Preis der besten Schauspielerin. Regisseur Stephan Komandarev, in Deutschland hauptsächlich für Dokumentarfilme bekannt, widmete den Preis der Generation seiner Eltern, die als Opfer der Wende 1989 im Zenit ihres Lebens mit einer unwürdigen Existenz bestraft worden sei.Preise für die ProminenzAls bester Regisseur wurde der aus dem Iran stammende Regisseur Babak Jalali für Fremont (2023) ausgezeichnet, in dem er von der sozialen Isolation einer afghanischen Immigrantin in den USA erzählt, die als Übersetzerin für die amerikanische Armee gearbeitet hatte. Bester Schauspieler wurde Herbert Nordrum für seine Rolle in The Hypnosis (2023), der auch den FIPRESCI der Filmkritiker bekam. Der Publikumspreis der Zeitung Pravo ging an den französischen Film The Edge of the Blade (2023). Durch einen weiten Reigen von Ehrenpreisen sorgt Karlovy Vary regelmäßig dafür, dass auch die Hollywood-Prominenz nach Tschechien findet. In diesem Jahr wurde wie bereits erwähnt der Neuseeländer Russell Crowe für seinen Beitrag zum Weltkino ausgezeichnet; gewürdigt wurden außerdem die tschechische Schauspielerin Daniela Kolářová sowie die ursprünglich aus Schweden stammende Alicia Vikander, der Brite Ewan McGregor und die Amerikanerin Robin Wright.Zu den Höhepunkten des Festivals kann man aber auch Say God Bye (2023) des Schweizer Regisseurs Thomas Imbach zählen, der sich darin auf eine Pilgerreise von Zürich nach Genf zu seinem Idol Jean-Luc Godard begibt. Ein ähnliches Denkmal setzte auch der italienische Regisseur Davide Ferrario in Umberto Eco – A Library of the World (2022), der ebenfalls von einem großen europäischen Intellektuellen Abschied nimmt. Der georgische Film Smiling Georgia (2023) von Luka Beradze beschäftigt sich mit einer besonderen politischen Kampagne von 2012, die mit viel Humor aufgearbeitet wird. Wieder keine ganz leichte Kost, aber dennoch sehr sehenswert war die kongolesische Koproduktion Omen (2023) von Baloji Tshiani, ein Kaleidoskop zwischen Tradition und Moderne in Afrika. Mit dem Abschlussfilm Champions, in dem Koproduzent Woody Harrelson einen Basketballtrainer spielt, der Inklusion lernen muss, setzte das Festival dem vorausgegangenen Programm schließlich eine starke optimistische Note als Kontrapunkt.Die künstlerische Leitung des Festivals kann, anders als viele Filmfestivals gerade auch in Deutschland, auf eine stabile Sponsorenunterstützung bauen, die circa 75 Prozent des Budgets ausmacht. Die beschränkte Größe des Kurorts Karlovy Vary setzt einem exorbitanten Wachstum von Filmen und Abspielungsorten Grenzen. Man kann das auch positiv bewerten, besticht Karlovy Vary doch gerade durch seine Atmosphäre der Intimität. Auf die Frage, was die größte Herausforderung für das Festival in der Zukunft sei, nennt Karel Och denn auch den Balanceakt zwischen Größe, Wichtigkeit und Intimität.