Tom McCarthy hätte einiges zu erzählen, das in seinen Büchern nicht vorkommt: 1969 in London geboren, lebte er ab den 1990ern unter anderem auch in Prag und Amsterdam, war Barmann, Nacktmodell, Drehbuchautor, Künstler – und ist heute vor allem Essayist und Schriftsteller. Dass McCarthy kürzlich als Teilnehmer einer Berliner Jubiläumsveranstaltung zu Thomas Pynchons 1973er Opus magnum Die Enden der Parabel angekündigt war, hätte man dabei fast vorausberechnen können: Oft schon wurden die literarischen Werke des seit Jahren wieder in Berlin lebenden McCarthy mit jenen Pynchons verglichen – einmal mehr, was Der Dreh von Inkarnation betrifft, seinen fünften Roman.
Denn ähnlich wie Pynchon in Die Enden der Parabel – der großen Blaupause jeder Literatur, die sich mit der Steuerung, Kontrolle und Erfassung menschlicher Subjekte und technischer Objekte im Raum befasst – erzählt McCarthy hier von einem so universellen wie kalkulierbaren Verhältnis von Bewegung und Stillstand. Wo Pynchon der Logik der Parabel – der Flugkurve einer V2-Rakete – folgte, bringt McCarthy die abstrakte Figur eines absolut vollkommenen Bewegungskreislaufs ins Spiel.
Mark Phocan kartiert im Auftrag einer Filmproduktion Bewegungen: Als Kinetiker sorgt er sich um die technische Realisierung von rein analog nicht zu bewerkstelligenden Bewegungsabläufen für ein Science-Fiction-Epos. Die Berechnung einer möglichst realistischen Darstellung des Auseinanderfallens eines Raumschiffs im All beschäftigt ihn hierbei ebenso wie der Dreh einer Szene, für die die Bewegungen zweier kontrolliert kopulierender Motion-Capture-Akteure erfasst werden müssen. Danach werden deren Bewegungsprotokolle digital in den Film einmontiert, für eine perfekte Darstellung von Sex in Schwerelosigkeit.
Doch der Filmdreh von „Inkarnation“, so der Titel des irrwitzigen, irgendwo zwischen Star Wars und Game of Thrones angesiedelten Blockbuster-Films, ist nur einer von mehreren Erzählfäden, die McCarthy auslegt.
Ein mysteriöses Pappmodell
Da ist auch Monica Dean von der Londoner Anwaltskanzlei Dorley & Grieves, die, zuerst im dortigen Institut für Arbeitspsychologie, später in einem Archiv in Indiana, das Werk von Lillian Gilbreth studiert. Als amerikanische Vertreterin der Psychotechnik, einer psychologischen Strömung des 20. Jahrhunderts, die Mensch-Maschine-Interaktionen im Sinn ökonomischer Optimierung erforschte, dürfte Gilbreths Nachlass kostbare Hinweise für Dean beinhalten. Denn aus juristischen Gründen will sie in Gilbreths Werk einen möglichen Hinweis darauf erkunden, ob spezifische Bewegungen und ihre Wiederholungen justiziabel sein können. Auch Phocan ist für seine Arbeit auf Gilbreths Werk gestoßen. Beide, die Juristin und der Kinetiker, suchen nach „Schachtel 808“, einem mysteriös aus dem Archiv verschwundenen schwarzen Pappmodell, mit dem Gilbreth den Bewegungszyklus eines von ihr wissenschaftlich beobachteten Fabrikarbeiters mit Draht nachgezeichnet hatte. Schachtel 808, so die Vermutung, enthält den Schlüssel zu einer „vollkommenen Bewegung“, zu einer (Auftritt: Rilke) „reinen Ursprungsgeste“: „Könnte es nicht sein, dass es einen – wirklich nur einen einzigen – besten Weg gibt? Für alles, meine ich …“.
Gilbreth war eine historische Figur (auch wenn McCarthy die wissenschaftliche Rolle ihres Mannes Frank zugunsten Lillians auslegt), Schachtel 808 und Gilbreths ex-sowjetischer Forscherkollege Raivis Vanin, den Phocan schließlich zur Lösung des Rätsels aufsucht, sind allerdings Erfindungen des Romanautors. Dass sich im Buch Historisches und Wissenschaftliches mit Erfundenem vermischt, macht auch dessen Reiz aus – einige der Charaktere tragen so unauffällig die Nachnamen zeitgenössischer Medientheoretiker:innen. Überhaupt sind die (psychologisch eher karg gezeichneten) Figuren eher notwendige Markierungspunkte ihrer eigenen Bewegungen denn wirkliche Subjekte.
Der Dreh von Inkarnation ist vor allem ein Buch über die Kapitalisierung, aber auch über die technische Poesie und Mystifizierung von Bewegungen. Doch trägt das Thema für einen Roman? Wie auch in McCarthys vorherigem Werk Satin Island (2015) über einen Anthropologen, der auf den Warte-Cursor seines Bildschirms starrt und dabei am Schreiben eines allumfassenden Berichts für eine Consultingfirma scheitert, oder in seinem durch Omer Fast verfilmten Roman 8 ½ Millionen, in dem ein Mann eigene Erinnerungen durch Schauspieler immer wieder nachstellen lässt, ist das menschliche Subjekt in Der Dreh von Inkarnation Funktion eines technologischen, psychischen Regimes. Die, die diese manische Wahrnehmung der Wirklichkeit teilen, schickt McCarthy meisterhaft auf erzählerisch kaum erforschtes Gebiet, allen anderen entzaubert sich die Welt spätestens mit der Lektüre von McCarthys erbarmungslos Konzentration abverlangendem, vorläufigen Opus magnum.
Der Dreh von Inkarnation Tom McCarthy Ulrich Blumenbach (Übers.), Suhrkamp 2023, 440 S., 25 €
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