Es ist eine Saison, die keinen monothematischen Schwerpunkt setzt, so viel ist schon mal klar. Wirtschaftskrise, NSU-Prozess – was in den Nachrichten noch allgegenwärtig ist, hat das Theater während vergangener Spielzeiten abgehakt. Jetzt herrscht wahlweise Beliebigkeit oder Vielfalt. Vom öffentlichen Interesse her gesehen, dürfte das Stück der Saison zweifellos Ferdinand von Schirachs Terror werden, das den Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs auf moralische, juristische sowie psychologische Fallstricke durchleuchtet. Mehr als ein Dutzend Theater wollen es zeigen.
Ein Überraschungserfolg könnte Die Netzwelt der hierzulande fast unbekannten US-Amerikanerin Jennifer Haley werden, mit dem das Residenztheater München an diesem Wochenende eröffnet (Regisseurin Amélie Niermeyer: „Ein sehr dichtes Drama mit mehreren Ebenen, bei dem die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen und immer wieder neu verhandelt werden. Es hat einen großartigen dramaturgischen Aufbau, ist aber kein typisches well-made play.“) Die nächste Bearbeitung steht im März in Frankfurt an.
Das inzwischen übliche Romanrecycling geht weiter, wobei Lutz Seilers erst im Vorjahr erschienener Roman Kruso (in Potsdam, Gera, Magdeburg) hervorsticht. Die Renaissance von Aldous Huxleys Dystopie Schöne neue Welt dauert ebenfalls an (Bonn seit vergangenem Freitag, Frankfurt und Potsdam folgen). Ansonsten dominieren die üblichen Verdächtigen, die vorläufig keine Habachtstellung auslösen.
Mit letzter Kraft
Dramatischeres ist von Teilen des Personals zu erwarten. In Berlin biegen Frank Castorf (64, gefühlt älter) und Claus Peymann (78), die in zwei Jahren abgelöst werden und zu eigenen Nachlassverwaltern geworden sind, polternd auf die Zielgerade ein: Walhalla ruft, aber vorher ist noch viel Zeit für Briefe und Interviews. In Düsseldorf schleppt sich Interimsleiter Günther Beelitz (76), dem nach dieser Saison der Dresdner Wilfried Schulz nachfolgen wird, mit letzter kreativer Kraft in den Ruhestand, und vielleicht verschwindet auch endlich der Zettel am Schwarzen Brett des Schauspielhauses, mittels dem ein vor Jahresfrist ausgeschiedener Intendant – auch er aus der alten Garde, die sich nicht ergibt – um Schauspiel- und Regieschüler wirbt. Die Untoten des deutschen Theaters, über die vor zwei Wochen die Zeit schrieb und damit die grassierende Delegitimierung klassischer Figuren durch ironiesüchtige Regisseure monierte, sind nicht nur auf der Bühne zu finden. Time to say goodbye.
Ob neue Intendanten aus alten Pools und unerfahrene Einsteiger wie der designierte Volksbühnen-Chef Chris Dercon das Theater reanimieren können, ist die Existenzfrage der kriselnden Sparte. Auch wenn die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in einem Grundsatzartikel („Zur Lage des Theaters“) unlängst behauptete, die Stimmung sei schlechter als die Aussichten. Schließlich würden die „Besucherzahlen“ pro Spielzeit (tatsächlich weist die zitierte Statistik des Deutschen Bühnenvereins nicht die Zahl der Besucher, sondern die der Besuche aus) seit zehn Jahren „einigermaßen stabil über fünf Millionen“ liegen.
Was der offenbar willkürlich gewählte Zeitraum kaschiert: Stabil ist nur der Trend nach unten. In der Spielzeit 1991/92 verzeichneten die Schauspielbühnen 6,1 Millionen Besuche, zwei Jahrzehnte später waren es nur noch knapp 5,3 Millionen. Dafür musste die Zahl der Veranstaltungen von 21.728 auf 23.929 ansteigen, während die durchschnittliche Auslastung von 74 auf nicht einmal 70 Prozent sank. Kurz: Mit immer mehr Aufwand erreichen die Theater immer weniger Zuspruch. Wir machen das doch für euch, sagen Intendanten und Regisseure fassungslos. Danke, wir sind dann trotzdem mal weg, entgegnen deren Zwangsfinanziers ungerührt.
Und es gibt Verluste, die keine Statistik abbildet. Noch Mitte der 90er Jahre hat das ZDF am Sonntagabend im Hauptprogramm regelmäßig Aufzeichnungen aktueller Inszenierungen gezeigt; heute werde diese, wenn überhaupt, von den Spartenkanälen versendet. Die auflagenstarke Kulturbeilage des Spiegel, die dem Theater feste Rubriken einräumte, erschien gerade zum letzten Mal; eine für Literatur wird sie ersetzen. Das Schauspiel verschwindet, ebenso leise wie unaufhaltsam, aus dem öffentlichen Raum. Versickert, zerrinnt.
Kreativität beweisen Theatermacher darin, andere und anderes für diesen Niedergang verantwortlich zu machen. Wahlweise Publikum, Träger, Youtube oder überhaupt das Internet. Es bedarf offenbar Verwegenheit, Einsicht oder beides, die Ursache im eigenen Angebot zu verorten. Verjuxt, verflacht, verspottet – die V-Waffen der mittleren, bestimmenden Regiegeneration erlegen auch den größten Gedanken und in weiterer Folge eine Kunstform, die anders als Film und Fernsehen alle Erkenntnisse der Aufmerksamkeitsforschung ignoriert und glaubt, der Zielgruppe zerfaserte Rätselabende vorsetzen zu können.
Wer sich dem verweigert und auf Verständlichkeit setzt, erntet Ungunst. Andrea Breth, einzig verbliebene Großregisseurin, mache „psychologisierendes Rumstehtheater“, war kürzlich zu lesen, und Schaubühnen-Intendant Thomas Ostermeier gilt nur weltweit etwas, nicht aber im heimischen Berlin: Produktionen seines Hauses werden bei Gastspielreisen gefeiert und sind die letzten nennenswerten Relikte einer einst florierenden theatralen Exportwirtschaft. Das ficht den FAS-Autor nicht an. Er empfiehlt eine ästhetische Zwangsbeglückung der Zwangsfinanziers, auf das die endlich einsehen mögen, dass sie realistische Konflikte und lebensnahe Charaktere – also Nachvollziehbarkeit – eben nur vom Fernsehen erwarten dürfen, aber nicht im Theater, wo Fremdheit und Verstörung zu regieren hätten.
Welche Erfolge das zeitigt, war vor wenigen Monaten in Frankfurt zu bestaunen. Sebastian Hartmann, größter Realismus- und Kontextzertrümmerer der Gegenwart, nahm sich Die Dämonen vor. Wer die Vorlage nicht kannte, verstand nichts; wer Dostojewski gelesen hatte, nicht viel mehr. Nach nur 13 Aufführungen wurde die beinahe fünfstündige Produktion abgesetzt, bei der man sich im Parkett versuchsweise sozialer Vereinsamung aussetzen konnte. So sieht sie aus, jene erfolgversprechende Theaterwelt, bei der das Publikum kein Gradmesser mehr sein soll. Nicht jeder artikuliert das so direkt wie Staffan Holm, als Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses spektakulär gescheitert. „Die Quote interessiert mich nicht“, hatte er bei einer Zuschauerkonferenz verkündet. Am Ende verloren sich auf den 700 Plätzen im Großen Haus manchmal kaum mehr als 70 Zuschauer – eine Abstimmung mit den Füßen. Anderswo wird mit der Tastatur votiert: Der kommentierende Teil der FAS-Klientel nahm die Grundthese des Artikels einmütig auseinander, was ungewollt gleichermaßen die Entfremdung zwischen Kulturjournalismus und Lesern wie die von Theater und Besuchern bezeugte.
Großes Sendungsbewusstsein
Im englischen Sprachraum kennt man den writer’s writer, den Schriftsteller, der vor allem von seinesgleichen gelesen wird. Hierzulande erschaffen manche Rezensenten, die auch sonst mit der Branche verbandelt sind, gemeinsam mit anderen, die sich auf Premierenfeiern oder in Theaterkantinen sozialisiert haben, die Figur des journalist’s theatre-maker: Regisseure wie Hartmann, die Säle leer spielen, aber zu Heilsbringern ausgerufen werden. Bei so viel Sendungsbewusstsein stören Fakten: „Überwältigendes, überregionales Interesse“ an Hartmann wollte der Kollege vom Deutschlandfunk sogar dann noch erkennen, als das in Frankfurt bereits ausgeblieben war und Zuschauer aus der Premiere geflohen waren.
Die Realität, das ist die Kernbotschaft an die Verächter des fiktionalen und nichtfiktionalen Realismus, besiegt irgendwann jede Illusion, jedes Konstrukt. Auf der Strecke bleiben kurzfristig die Glaubwürdigkeit des Feuilletons und langfristig die Zukunft der Bühnen, weil diese Medienzwitter – die nicht mehr Sprachrohr des Zuschauers sind und nicht mehr sein wollen – sie eines notwendigen Korrektivs berauben. Pädagogen nennen das „negative Verstärkung“.
Der müssen Theatermacher entsagen, so unbequem das ist. Und der Rest wird nicht Schweigen, sondern Erkenntnis sein. Einer hat es vorgemacht. „Vielleicht ist diese Welt nur die Hölle eines anderen Planeten“, ätzte Aldous Huxley, postum zum möglichen Glanzlicht der jungen Spielzeit geworden. Der Mann wusste, worüber er schreibt: Bevor er Schriftsteller wurde, war er Journalist und Theaterkritiker.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.