History Faking

Weichzeichner Wenn die Ehrung eines Firmengründers an dunklen Flecken scheitern könnte, schlägt die Stunde der Geschichtsagenturen
Ausgabe 22/2015

Geschichte ist zugleich Kapital und Hypothek. Das gilt gerade auch für deutsche Unternehmen, bei denen technische Pioniertaten und eine, im düsteren internationalen Maßstab, schon frühzeitig etablierte betriebliche Fürsorge hinter späterem Fehlverhalten verschwinden. Zwar ist die Finanzierung der NSDAP durch das Großkapital längst mittels quellenkritischer Forschungen widerlegt, von Arisierung, Aufrüstung und Weltkrieg profitierte es jedoch mehr als der Mittelstand. „Gleich nach dem ersten Tank kam Dr. Rasche von der Dresdner Bank“, wurde schon während der NS-Epoche über Karl Rasche gespottet, Vorstandssprecher der damals führenden deutschen Bank und einer der Hauptakteure bei der wirtschaftlichen Ausbeutung besetzter Länder. Über diverse Industrielle kursierten ähnliche Verse.

Auch später lagen Glanz und Elend beim Tafelsilber der Deutschland AG nahe beisammen, sie prägen noch heute das Image und bestätigen William Faulkners Diktum „Geschichte war nicht, sie ist“. Die Janusköpfigkeit der Vergangenheit offenbart sich in vielen Unternehmen, aber selten so zwingend wie bei Daimler, wo Stolz und Scham mentale Nachbarn sein sollten. Die seitlichen, technisch nicht notwendigen Lufteinlässe der aktuellen SL-Baureihe sind eine stilistische Reminiszenz an den 300 SL, der 1954 die Renaissance der deutschen Autoindustrie einläutete. Anderes verdunkelt die Erfolgsgeschichte der Stuttgarter. Etwa, dass der Konzern später den Handel mit dem Apartheidregime in Südafrika noch intensivierte, als andere Firmen längst das Land verlassen hatten. Über seinen Ableger Mercedes-Benz South Africa wartete das Unternehmen Fahrzeuge der Sicherheitsbehörden und agierte auch sonst so, dass Anti-Apartheid-Aktivist Abdul Minty Daimler Ende der 1980er-Jahre zu Recht „als lebensnotwendigen Partner der südafrikanischen Kriegsindustrie“ bezeichnen konnte.

Blumenschmuck statt Leichen

Alte Sünden gelten vielerorts als toxische Verschlusssache, die man kontrollieren möchte. Geschichtsagenturen, vor allem von freiberuflichen Historikern betrieben, nehmen sich dieser Aufgabe von der kleinen Chronik zum Firmenjubiläum bis zur detaillierten Biografie des Gründers an. Wie viele solcher Dienstleister existieren, ist unbekannt. Etwa drei Dutzend dürften es sein, schätzen Brancheninsider, Tendenz steigend. History Marketing hat Konjunktur. Je härter der globale Wettbewerb, desto stärker das Interesse, die eigene Firmengeschichte als werbendes Alleinstellungsmerkmal zu nutzen. Genuines Element dieser Angebote ist der Zielkonflikt zwischen der behaupteten Wissenschaftlichkeit, die Neutralität und Ergebnisoffenheit verlangt, und der Kundenorientierung, die genau das ausschließt. Wer bestellt und bezahlt, möchte selten die Leichen aus dem eigenen Archivkeller ausgegraben wissen, sondern den Blumenschmuck finden, der die Gräber verschönert. Der Historiker wird zum Anwalt, die Wissenschaft zur Dienstmagd.

Dabei ragt Gregor Schöllgen heraus, Ordinarius für Neuere Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und exzellenter Kenner der deutschen Außenpolitik. Das von ihm gegründete und geleitete „Zentrum für Angewandte Geschichte“ (Slogan: „Wir kapitalisieren Geschichte“) gehört zur Universität, arbeitet aber eigenständig und wird seit seiner Gründung vor fast einem Jahrzehnt intern wie extern kritisiert. Einen „Bärendienst“ hätte Schöllgens Selbstverständnis den Geisteswissenschaften und der FAU erwiesen, monierte der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät bereits 2007.

Tatsächlich tut Schöllgen alles, um diesen Vorwurf zu bestätigen. Wer seine Auftragsarbeiten über Rüstungsunternehmer Karl Diehl, Lebensmittelfabrikant Theo Schöller, Automobilzulieferer Max Brose und Quelle-Gründer Gustav Schickedanz liest, glaubt sich auf einer Zeitreise in die frühe Adenauer-Ära. Alle sind anständig geblieben, nur die Zeiten waren schlimm. Das Narrativ vom visionären, gutwilligen Fabrikanten wird von Schöllgen mittels nahezu gleich lautender Formulierungen gepflegt. Vorwürfen, in den Werken von Diehl, Brose und Schöller seien Zwangsarbeiter misshandelt worden, stellt Schöllgen unisono den Einwand entgegen, „mit der Tolerierung von Misshandlungen“ hätte der Unternehmer „sehenden Auges jenes knappe, also kostbare Arbeitskräftereservoir gefährdet, das ihm während des Krieges zur Verfügung steht und auf das er, wie alle Unternehmer in vergleichbarer Situation, angewiesen ist“.

Nach dieser Logik hätte es nirgendwo Misshandlungen und auch nicht den Holocaust geben dürfen. Tatsächlich blieb selbst der NS-Führung, wie sich etwa dem Protokoll der Wannseekonferenz entnehmen lässt, die Widersprüchlichkeit eigener Ziele nicht verborgen. Im KZ-Komplex Auschwitz, wo ausgebeutet und vernichtet wurde, drückt sich dieser Dissens architektonisch aus. Wann immer wirtschaftliche oder militärische Belange mit der Rassenideologie kollidierten, wurde dieser Priorität eingeräumt. Beispielsweise wurde der Wehrmacht noch gegen Kriegsende dringend benötigter Transportraum zugunsten letzter Züge in die Vernichtungslager verweigert.

Wenn es an Fakten mangelt, greift Schöllgen auch zu den Ergebnissen offenbar posthumer Gewissenserforschung. So sei Brose 1933 der NSDAP beigetreten, „um Ungemach von seiner Firma und von der Wirtschaft der Stadt abzuhalten“. Belege, die dieses diffus gezeichnete Bedrohungsszenario konkretisieren, liefert Schöllgen nicht, er belässt es bei allgemeinen Ausführungen.

Das ist kein Einzelfall. Wiederholt verdichtet er Annahmen und Unterstellungen zu Tatsachen, aus denen wenige Zeilen später die Kausalketten seiner Heldenerzählungen wuchern. Zwar habe man, schreibt Schöllgen über den Textilfabrikanten Wilhelm Schaeffler, „trotz intensiver Recherchen“ nichts über Anzahl und Lebensverhältnisse seiner Zwangsarbeiter ermitteln können, es könne aber als „gesichert gelten“, „dass sich Wilhelm Schaeffler gegenüber Polen, Juden und Ausländern stets korrekt verhalten hat“. Schlussfolgerungen aus eingeräumtem Nichtwissen: Geisteswissenschaft funktioniert gemeinhin anders.

In Coburg wurde aus theoretischer Apologetik praktische Geschichtsklitterung. Von Schöllgen mit der entlastenden Monografie des Großvaters Max Brose munitioniert, forderte Michael Stoschek, Vorsitzender der Gesellschafterversammlung des Automobilzulieferers, jahrelang die Benennung einer Straße nach dem Wehrwirtschaftsführer und Abwehrbeauftragten Brose, der in einem überlieferten Dokument seine Belegschaft vor „Humanitätserscheinungen“ beim Umgang mit Kriegsgefangenen warnte.

Forschung light

Diese Episode dokumentiert, wie historische Bewältigung misslingen kann. Dagegen setzen Daimler und Siemens, die ebenfalls Zwangsarbeiter beschäftigten, auf Offenheit und nicht auf Geschichtsagenturen. Daimler hat seine Vergangenheit in einer 17-bändigen Schriftenreihe aufgearbeitet, Siemens 2011 das Siemens Historical Institute (SHI) mit der gleichen Zielsetzung gegründet. Zudem sind, wie auf Anfrage mitgeteilt wird, die Archive beider Unternehmen für Historiker wie Journalisten „grundsätzlich“ (Siemens) oder zumindest – abgesehen von „Beständen, die einer Sperrfrist unterliegen“ (Daimler) – weitgehend zugänglich.

Beim Deutschen Historikerverband besteht man auf Wissenschaftlichkeit, will History Marketing nicht zum History Faking werden lassen. Seit drei Jahren existiert die Arbeitsgemeinschaft „Angewandte Geschichte“, der auch Historiker angehören, die für Geschichtsagenturen arbeiten. „Es darf keine Forschung light geben. Wenn von universitären Instituten solche Aufträge angenommen werden, muss doppelt hingeschaut werden. Die Standards dürfen nicht aufgeweicht werden, wir müssen unseren Studenten weiterhin entgegentreten können“, sagt Verbandsvorsitzender Martin Schulze Wessel.

Für die Stadt Coburg kommt diese Mahnung zu spät. Dort, wo die NSDAP 1929 erstmals in Deutschland bei Stadtratswahlen eine absolute Mehrheit errang und ein Jahr später ihren ersten Oberbürgermeister einer kreisfreien Stadt stellte, haben die Kommunalpolitiker in der vergangenen Woche beinahe auf den Tag genau sieben Jahrzehnte nach Ende der NS-Terrorherrschaft beschlossen, mit Max Brose einen Profiteur des Regimes zu ehren. Vertreter der Evangelischen Kirchengemeinde, der Deutsche Gewerkschaftsbund und der Zentralrat der Juden protestierten vergeblich. Die Namen Stauffenberg, Tucholsky, Bonhoeffer oder Scholl sucht man im städtischen Straßenverzeichnis übrigens vergebens.

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