Matthias Lilienthal, der schon länger lustvoll das Brandzeichen des Ruhestörers trägt, gab wieder einmal den Aufrührer. „Das Theater hat seit den achtziger und neunziger Jahren erheblich an Relevanz verloren“, analysierte der designierte Intendant der Münchner Kammerspiele unlängst bei der Jahreskonferenz der Dramaturgischen Gesellschaft in Mannheim. Obwohl er nach seinen Worten eine Pause einlegte und kampflustig ins Publikum blickte, regte sich kein Widerspruch.
Lilienthal sprach aus, was viele Kollegen denken und die sich deshalb auf der Suche nach zugkräftigen Inhalten und Formaten der Realität zugewendet haben. Das Theater muss die Gesellschaft neu entdecken, weil die das Theater beinahe vergessen hat. Sein jüngster Stoff ist die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Mag auch der Münchner Prozess gegen Beate Zschäpe, die einzige Überlebende der Terrorzelle, schon jetzt bis Ende des Jahres terminiert sein, die Bühnen wollen und werden schneller sein.
Schneller als das OLG
Erste Projekte dieser Art waren im Vorjahr in Berlin und Potsdam zu sehen, nun folgen im Laufe dieses Jahres gleich fünf weitere nach, in den kleinen Spielstätten großer Häuser. Unter ihnen das Deutsche Theater Berlin und das Residenztheater München. Den Auftakt machte am vergangenen Freitag Der weiße Wolf von Lothar Kittstein in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt/Main. Janine, Gräck und Tosch heißt das mörderische Trio dort. Aus seinen an die realen Abbilder angenäherten Protagonisten formt Kittstein eine Ménage-à-trois: Gräck (Sascha Nathan) und die schwangere Janine (Ines Schiller) haben sich nach der Mordserie eine kleinbürgerliche Existenz aufgebaut, in die der immer noch mit dem Wohnmobil tourende und ruhelos neue Ziele auskundschaftende Tosch eindringt. Torben Kessler verkörpert diesen notorischen Outlaw im dunklen Gestapo-Mantel – nicht das einzige Klischee in dieser Inszenierung von Christoph Mehler – als Mephisto, der den dunstigen Nebeln der Vergangenheit entstiegen ist. Dieser lodernde, an sich selbst verglühende Ungeist will das personifizierte Böse sein.
Kesslers Spiel ist so makel- wie maskenlos, dass es Ines Schiller und Sascha Nathan in den Hintergrund drängt, ohne die Mängel des Abends vergessen zu machen. Die schwatzhafte Ausführlichkeit um Landser-Hefte und östliche Weite steigert sich von Szene zu Szene, jeder geht jedem an die Wäsche, die Dialoge schwanken zwischen enervierender Obszönität („Auf dem Schreibtisch stapeln sich die Rechnungen. Da fickst Du nicht gerne drauf.“) und süß-herbem Kitsch („In Deinen Augen war der Morgenhimmel.“). Es herrscht der Effekt, denn diese Bearbeitung will ihr eigener Fixstern sein.
In Frankfurt war Kittstein bislang mit den Vorlagen Remake: Rosemarie, Je t’aime, je t’aime sowie Making of: Marilyn aufgefallen, die private Verheerungen tiefenscharf nachzeichneten und inszenatorisch die vierte Wand niederrissen. Hier nun transformiert er das Außen rückstandslos ins Innen. Das Geschichtsverständnis des promovierten Historikers Kittstein chargiert dabei irgendwo zwischen anachronistisch, fragwürdig und unhaltbar. Als Klammer und redundante Prämisse dient ihm etwa Friedrich Rückerts Gedicht vom schlafenden Barbarossa, das wiederholt angestimmt wird. Mit dem mystischen Osten der Terroristen-Klone verbindet ihn zwar Hitlers Unternehmen Barbarossa, mit dem realen Kaiser Friedrich I. teilt dieses aber nur der Farbe halber den Namen. Rückerts Gedicht huldigt denn auch nicht der imperialen Sendung, sondern dem Ideal des gerechten Herrschers. Den zum Spiritus Rector des Neonazi-Trios zu ernennen, ist schlicht grotesk und nur eines von vielen schiefen Bildern, die das, was ohnehin nebulös ist, weiter verschleiern.
Dabei müsste es Aufgabe jeder dramatischen Bearbeitung sein, dem Erklärungsnotstand um das NSU-Trio eine Theorie entgegenzusetzen. Diese Renaissance des Realen entspringt einer veränderten Erwartungshaltung. Wie auch die Zukunft des Journalismus – der anderen klassischen Welterklärungsinstitution des Bürgertums – nicht in der Präsentation, sondern in der Deutung von Nachrichten liegt, so verlangt das Theaterpublikum heute weniger die Rekursionsschleifen des klassischen Kanons, sondern Einordnung und Erläuterung.
Wie das geht, haben andere in jüngerer Zeit vorgemacht. Burgtheater-Intendant Matthias Hartmann holt in Wien für Die letzten Zeugen NS-Verfolgte auf die Bühne, deren Leidensgeschichten Schauspieler verlesen, die Inszenierung wird im Mai beim Berliner Theatertreffen zu sehen sein. Dokumentarfilmer Andres Veiel entzaubert in Das Himbeerreich mit authentischen Interviews die Welt der Banker und Zahlen, das Stück gehört zum Repertoire mehrerer Häuser. Und in Darmstadt, wo sich Schauspieldirektor Martin Apelt schon seit Jahren mit klugen Produktionen der Zeitgeschichte annimmt, wird aktuell mit dem Auftragswerk Fritz Haber Deutsch oder Stimmt die Chemie? das Leben des Nobelpreisträgers seziert, der erst den Kunstdünger erfand und dann im Ersten Weltkrieg den Gift-gaseinsatz der deutschen Armee leitete.
Die Instant-Inszenierungen, die sich bei laufendem Verfahren nun den NSU vornehmen, bergen zugleich ein Risiko und eine Chance. Es sei „unauflösliches Dilemma“ jeder Verknüpfung von Realem mit Fiktivem, schrieb schon 2004 der Politikwissenschaftler Peter Reichel einleitend in seiner Monografie Erfundene Erinnerung über die Darstellung von Holocaust und Weltkrieg in Film und Theater, dass Geschichte trivialisiert werde. Dennoch gehe damit eine „beachtliche Gewinnerwartung“ einher: „Die Vermischung (…) kann das historische Geschehen emotional erfassbar machen.“ Was für die Geschichte gilt, trifft noch stärker auf die Gegenwart zu.
Das echte Grauen
Der weiße Wolf in Frankfurt aber zieht sich, ohne das eigentlich Interessante zu erzählen: wie aus tumben Alltagsrassisten kaltblütige Verbrecher werden konnten. Diese Leerstelle im Stück ignoriert das größte Paradoxon der realen NSU-Historie, das Unzeitgemäße im Sinistren, die Entkopplung von ziviler Gesellschaft und militantem Individuum. Als die Wehrpflicht noch nicht ausgesetzt war, mussten junge Männer, die nicht verweigert hatten, oft nach dem ersten Besuch der Schießbahn ausgemustert werden. Die stilisierten, entfernten Umrisse eines Menschen ins Visier zu nehmen und abzudrücken, war manchem Soldaten unmöglich. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, in der gleichen postheroischen Epoche sozialisiert, töteten aus der Nähe und verspürten keinerlei Hemmungen. Nichts von dem, was bislang über sie bekannt wurde, erklärt die Radikalität und das Monströse ihrer Taten. Beide kamen aus der Mitte der Gesellschaft, verbrachten ihre Kindheit in dem, was geordnete Verhältnisse heißt, hatten auch nach der Wiedervereinigung eine private Perspektive. Hannah Arendts viel und gerne missbräuchlich zitiertes Diktum von der Banalität des Bösen: Hier trifft es unbedingt zu.
In den Kammerspielen sind auf der leeren, nichts spiegelnden oder illustrierenden Bühne andere Mörder zu sehen. Mit aufgerissenen Augen, flackerndem Blick, feuchter Aussprache und sich überschlagender Stimme porträtieren die Darsteller wahnhafte Figuren irgendwo zwischen Familienidylle und Psychiatrie. Das fälscht und, schlimmer, verharmlost. Entgrenzt in ihren Deformationen und dadurch abgegrenzt von der Masse, der ihre Vorbilder tatsächlich entstammten, sind Kittsteins Neonazis pathologisch zu erklären und damit mental zu entsorgen: Na, wir sind ja ohnehin anders, kein Grund zur Beunruhigung. Die Eintrittskarte wird zum Ablassbrief und das Schauspiel Frankfurt, gemäß Selbstverständnis eigentlich die Wittenberger Schlosskirche, wird zum Vatikan. Vorlage und Inszenierung vorzuhalten, sie verweigerten Antworten, wäre ein Euphemismus. Sie drücken sich bereits um alle Fragen.
Das ist umso fataler, als dass die impotente Fantasie längst vom realen Grauen übertroffen wurde und Beate Zschäpe ihr prozessuales Recht in Anspruch nimmt, sich nicht zur Sache zu äußern. Es ist eine tönerne Stille, die aus dem Münchner Gerichtssaal dringt und Autoren und Regisseure auffordert, Unerklärliches zu ergründen, Schweigen zu brechen, Bewusstsein zu bilden. Das war – durch das dokumentarische Theater oder über die Transmissionsriemen Fiktion und Verfremdung – einst Anliegen der Bühnen und könnte heute dazu beitragen, den von Matthias Lilienthal benannten Relevanzverlust zu kompensieren. In Frankfurt wurde diese Gelegenheit leichtfertig vertan.
Der weiße Wolf von Lothar Kittstein
Kammerspiele, Schauspiel Frankfurt
Regie: Christoph Mehler
Termine unter schauspielfrankfurt.de
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.