Wenn die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste im März zur alljährlichen Woche junger Schauspieler nach Bensheim bittet, werden bestimmt wieder die üblichen Allgemeinplätze zu hören sein. Dass der Nachwuchs die Lücken, die das altersbedingte Ausscheiden älterer Ensemblemitglieder reißt, immer seltener schließen kann, dass mit den Publikumslieblingen nicht mehr zu ersetzende Fixpunkte örtlicher Theaterlandschaften verschwinden: all das war bislang kein Thema der von Insidern als „Kälbermarkt“ verspotteten Leistungsschau. Eine fatale Auslassung. Denn Mangel kann aus Überfluss entstehen; der Verlust darstellerischen Profils resultiert aus einer Fehlentwicklung, für die auch die Schauspielschulen verantwortlich sind, weil sie seit Jahren zu viele Studenten ausbilden.
Aber statt zu reduzieren, wird erhöht. Selbst die Zahl der Institute wächst. Inzwischen gibt es im deutschsprachigen Raum 21 staatliche Schulen, 17 gehören der zweimal jährlich tagenden Ständigen Konferenz Schauspielausbildung (SKS) an. Deren Mitglieder sind sich des Missstands bewusst, sie schaffen ihn aber nicht ab. Als vor einiger Zeit intern das zunehmende Überangebot – allein die Berliner Ernst-Busch-Schule warf innerhalb der vergangenen fünf Jahre 138 Absolventen auf den Arbeitsmarkt – thematisiert wurde, lehnten alle Diskutanten eine Verringerung der Jahrgangsgrößen ab, wie Sitzungsteilnehmer berichten. Weniger Studenten erforderten weniger Dozenten, vielleicht sogar weniger Institute, wurde befürchtet.
Hinzu kommen die privaten Schulen, deren Klientel kaum mehr eine Anstellung findet, sich aber für die Ausbildung nicht selten verschuldet. So zementiert ein Dreiklang aus Fatalismus und Kalkül, ein Gemenge aus unterschiedlichen Interessen den Status quo: Staatliche Schauspielschulen fürchten um Apparate und Etats, bilden deshalb über Bedarf aus; Politiker sind dem Statistik-Tuning verfallen und wollen gemäß OECD-Ideal mehr Absolventen – gerne auch von privaten Instituten, die den großen Profit wittern und anstandslos anerkannt werden; Intendanten freuen sich über den stetig wachsenden Konkurrenzdruck, der das eigene Ensemble schikaniert. Während jeder darauf bedacht ist, nicht am eigenen Ast zu sägen, verfault der morsche Stamm zusehends.
Antagonismus
Die Folgen sind zu besichtigen. Auf und neben den Bühnen. Beim Internetportal Theapolis.de sind vor allem jene gelistet, die aus diversen Gründen nicht ins System finden. Frei nach Karl Marx: die darstellerische Reservearmee des Landes. Mehr als 2.800 Schauspieler suchen dort Engagements und Zukunft. Darunter ambitionierte Laien, aber auch brachliegende Hochbegabungen wie die 31-jährige Polin Anita Twarowska: eine exzellente Ausbildung nebst Tanz als gefragter Zusatzqualifikation, ein nahezu akzentfreies Deutsch, eine alltagskompatible Exotik – aber kaum Rollenangebote. Und wenn, dann als Prostituierte, Asylbewerberin oder Saisonkraft. Kein Einzelfall, solange in der Branche noch vielerorts das Gesellschaftsbild einer Epoche gehegt wird, in der die männliche Jugend meist gruppenweise und mit dem Panzer ins europäische Ausland reiste.
Dieses verfehlte Ausbildungssystem normiert doppelt. Die Frage, wie viele Schauspieler das deutsche Theater benötigt, ist nicht zu trennen von der Frage, welche es braucht. Der aktuell vorherrschende Typus ist ein Antagonismus: Bilden die Abschlussjahrgänge der Schulen äußerlich selten die Lebenswirklichkeit in hiesigen Fußgängerzonen ab, wird mental einer Umgebung gehuldigt, die sich einerseits vermeintlicher Alternativlosigkeit verschrieben hat und andererseits nach Querköpfen verlangt. Analog dem Theater. Der Zielkonflikt zwischen Formbarkeit und Charisma, jeher elementares Hintergrundrauschen in Ausbildung und Alltag, war noch nie so groß. Ein Selbst müsse der Künstler sein, forderte Max Beckmann in seiner Autobiografie. Heute ist der Bühnenkünstler häufig nur noch ein Selbstständiger. Isoliert und desinteressiert, weil Schulen und Intendanten es so wollen. „Die Schauspieler, die jungen Theaterleute sind so verdammt geschichtslos. (…) Sie wissen nichts mehr. Es herrscht eine hochinformierte Blindheit und Unwissenheit“, wütete BE-Leiter Claus Peymann kürzlich in der ZEIT und benannte – ungeachtet der Tatsache, dass man den Adressatenkreis seiner Verachtung unschwer um manchen Intendanten oder Regisseur erweitern könnte – damit ein Symptom dieser Verzwergung.
Es gibt glaubwürdigere Kronzeugen als Theater-Tyrann Peymann, der nicht im Verdacht steht, am eigenen Haus viel gegen die Misere zu tun. Redet man mit unbescholtenen Kollegen, spürt man eher Weh- denn Unmut. „Auch ich suche nach Charisma und Sprödigkeit. Darsteller, die das haben, würde ich sofort engagieren. Sie könnten auch einen Dialekt oder Sprachfehler haben, das wäre mir egal“, sagt der Kölner Schauspiel-Chef Stefan Bachmann, bislang nicht als Kulturpessimist aufgefallen. Dramaturgin Marion Tiedtke, Schauspiel-Professorin an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt und Vordenkerin der Szene, vermisst noch mehr: „Auf der Bühne wollen wir den verletzlichen, den begrenzten, den zerbrechlichen Menschen zeigen. Gleichzeitig erwartet die Gesellschaft von uns, dass wir uns ständig selbst optimieren, aktiv und resistent sind. Um diesen Widerspruch aufzulösen, braucht es im Theater Verwandlungskünstler, die sich ausliefern: Eine Art von Hingabe, die selten geworden ist.“
Wo die fehlt, fehlt Widerständigkeit. Die Karriere im Blick, nicht anecken: Rebellion war gestern, Bewusstheit im Großen und Kleinen auch. Wie bei jener preisgekrönten und wegen ihrer angeblichen Unbeugsamkeit gerühmten Darstellerin, deren notorisch pöbelnder Regisseur sie während einer Probe derartig attackierte, dass sie weinend die Bühne verließ – und am nächsten Morgen die Szene so spielte, wie er es wollte. Zeuge war ein eigens für die Produktion verpflichteter Chor kümmerlich honorierter Schauspielstudentinnen. „Ich war so enttäuscht“, sagte eine davon später ob des ausgebliebenen Widerstands der prominenten Kollegin. Deutschland, deine Theatersternchen sind schnuppe!
Eskapismus
Wer Gesinnung will, darf nicht Namen vorziehen. Katrin Röver, Ensemblemitglied des Münchner Residenztheaters, und die am Schauspielhaus Düsseldorf engagierte Viola Pobitschka belegen das. Wer mit Röver, 1981 in Halle geboren, beispielsweise über die Wiedervereinigung und mit der ein Jahr jüngeren Pobitschka über den Nahostkonflikt redet, muss Detailkenntnisse aufweisen, um bestehen zu können. Beide verbindet ein entgrenztes, politisch wie persönlich definiertes Erkenntnisstreben, das sich auf ihr Spiel überträgt. „Gutes Theater ist nicht befindlich, aber immer persönlich. Je besser ich mich selber kenne, je mehr ich weiß, was ich zu sagen habe, desto weniger muss ich mich um mich selbst drehen, um meine Befindlichkeit“, erklärt Pobitschka. „Manche Menschen haben sich so eingeigelt in den eigenen Seelenfrieden, dass sie das Außen nicht interessiert. Mich macht diese Abschottung aggressiv. Wichtig ist, sich das Außen anzusehen, aber nicht daran kaputtzugehen“, sagt Röver. Sätze, die einen Geist atmen, den Intendanten häufig fordern, aber selten fördern.
Röver und Pobitschka gehören damit einer Avantgarde an, die Umwege und Integrität nicht als Luxus, sondern als Notwendigkeit betrachtet. Haltung und Handwerk sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Das hat auch Erfolgsregisseur Michael Thalheimer, selbst ausgebildeter Schauspieler, erfahren. „Ich verlange Persönlichkeit, Offenheit, Klugheit und nicht zuletzt Können“, antwortet er, wenn man nach seinen Präferenzen fragt. Und Sperrigkeit? Er denkt kurz nach. „Ein solcher Darsteller kann nicht anders sein als sperrig.“
Ein Rekrutierungssystem, das zu viele und zu einseitig ausgebildete Absolventen in die Theater schickt, wirkt diesem Wunschbild entgegen. Es befeuert Vereinzelung und Egoismus. Eitle Schauspieler wolle er nicht sehen, sagte der Dortmunder Intendant Kay Voges vergangenes Jahr im Gespräch mit dem Freitag. Bachmann sekundiert heute: „Manche Anfänger kommen direkt von der Schule und denken, unter Hamlet geht nichts.“ In diesen Eskapismus flüchten sich bisweilen – nur scheinbar ein Widerspruch – Selbstzweifel und Existenzängste. Deutsche Bühnengrößen gelten international nicht grundlos als Scheinriesen: Wer vom alltäglichen Überlebenskampf auf einem überdimensionierten Bewerbermarkt aufgerieben wird, kann Energie nicht in Kreativität und Unabhängigkeit transformieren. „Wir brauchen keine Stadttheatermarionetten“, sagt Bachmann. Er hat recht. Sie sollten deshalb auch nicht gezüchtet werden.
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