Ach und Krach, Europa!

Medientagebuch Der Grand Prix als Versuch, Old Europe als kulturelle Attraktion zu präsentieren

Einerseits gilt die schöne These des britischen Historikers Eric Hobsbawm, dass heutzutage Kultur entweder amerikanisch ist oder provinziell. Andererseits gibt es den Grand Prix d´ Eurovision de la Chanson.

Andererseits? Ganz abwegig ist der Versuch einer Antithese nicht, denn schließlich wurde die Weltkarriere der schwedischen Band Abba durch ihren Grand-Prix-Sieg mit Waterloo im Jahr 1974 begründet. Aber die Relativierung folgt schnell: Abba wurde berühmt, weil sie guten Pop lieferten und musikalisch den Weltmarkt bedienten, im Sinne Hobsbawms also amerikanisch agierten.

Am vergangenen Wochenende gewann Sertab Erener aus der Türkei. Ihr Lied heißt Everyway that I can, was vordergründig für die Abba-Weltmarkt-These spräche, zumal Choreographie und Inszenierung der Künstlerin sich gewisse Anleihen bei Shakira leisteten. Aber im Grunde gewann Erener, weil sie sich weniger beim aktuellen Weltpop als vielmehr bei der spezifisch türkischen Musiktradition bediente. Mit orientalischem Tanz und gleich vier Schleiern, die gehalten wurden von einem Korsett, das beängstigend nach schusssicherer Weste aussah, hopste Sertab Erener über die viel zu große Bühne, die die Veranstalter in Riga aufgebaut hatten.

Die Türkei gehöre also jetzt auch kulturell zu Europa, war in beinah jedem Kommentar zu lesen, und wenn im nächsten Jahr das türkische Fernsehen die Ausrichtung übernimmt, kann ja wohl der Beitritt zur EU nur noch Formsache sein. Warum 1998 niemand so argumentierte, als Israel zuletzt den Grand Prix gewann, bleibt offen. Aber selbst wenn man akzeptierte, dass stets der zu Europa gehört, der Künstler zum Grand Prix entsendet, müsste man sich doch wundern, dass etwa Italien in diesem Jahr nicht dazu gehörte.

Und Großbritannien bald nicht mehr. Null Punkte lautete das desaströse Urteil, das die Fernsehzuschauer fällten. Wer so schlecht abschneidet, darf im nächsten Jahr nicht mehr mittun. Auch Deutschland musste schon einmal fehlen: 1996 hielt eine Jury der Eurovision den deutschen Beitrag Blauer Planet von Leon für zu aussichtslos für eine Teilnahme.

Der Grand Prix hat es schwer in den verschiedenen europäischen Gesellschaften. Er ist kein Grammy, wie er in den USA vergeben wird. Auch ist er kein richtiger Publikumspreis, denn immer noch nicht in allen Ländern, beispielsweise in Russland, gibt es Telefonabstimmungen. Der Grand Prix ist nicht einmal ein Wettbewerb, bei dem die je beste, also erfolgreichste Musik der Teilnehmerländer präsentiert wird. Die großen Stars der Musik meiden den Grand Prix, denn hier können sie nur verlieren. Eine Céline Dion, die 1988 mit Ne partez pas sans moi gewann, brauchte den Sieg bloß als Start in ihre Weltkarriere, ähnlich wie Abba 1974. Die Grand-Prix-Stars, die es hierzulande zu besichtigen gibt, heißen anders und sehen anders aus. Es sind Udo Jürgens (1966, Merci chérie), Vicky Leandros (1972, Après toi) oder Nicole (1982, Ein bisschen Frieden).

Der Schlagerwettbewerb, der so französisch wohlklingend Grand Prix d´Eurovision de la Chanson heißt, repräsentiert im Grunde also bloß Old Europe. Und das hat ein Problem. Eine kulturelle Attraktivität des Kontinents, der sich so gerne für die abendländische Wiege aller Zivilisation hält, geht vom Grand Prix nicht aus. Aber einen anderen kontinentalen Musikwettbewerb gibt es nicht. Und wenn es ihn gäbe, niemand nähme ihn mehr zur Kenntnis als zum Beispiel den "Felix", die Antwort der europäischen Filmindustrie auf den Oscar.

Was als europäischer Beitrag zu einer Weltkultur konstruiert ist, erweist sich bei genauerem Hinschauen nur als Zusammenfassung von allerlei nationalen Wettbewerben. In Spanien etwa wurde der Teilnehmer wochenlang in einer Castingshow ermittelt, heraus kam bloß Platz acht in Europa. Auch in Deutschland ist der Vorentscheid das größere Fernseh-Event als das Finale selbst. Hier werden die Claims abgesteckt. Nicht, welcher Künstler sich durchsetzt, ist die Frage, die die Öffentlichkeit bewegt, denn die Künstler sind ja kaum bekannt. In diesem Jahr versuchten sich so Berühmtheiten wie Beatbetrieb, Sascha Pierro, Der Junge mit der Gitarre oder Lou. Wer so heißt, will nicht die Spitze in Europa erreichen und schon gar nicht von Europa aus die Weltmärkte beherrschen. Der will eher einmal in seinem Leben einen großen Tag haben, einmal auf einer großen Bühne stehen. Mehr wollen diese Künstler nicht, und mehr können sie auch nicht.

Spannender ist die Frage, welcher Produzent gewinnt. Das war in diesem Jahr wieder einmal Ralph Siegel aus München. Er schickte Lou ins Rennen, sie sang in Riga Let´s get happy und wurde damit Zwölfte. Vom in Deutschland veranstaltenden NDR gab es ein Lob, man hatte nicht ernsthaft mit mehr gerechnet. Und die Bild am Sonntag übernahm den Part der beleidigten Deutschländerwurst: "Lous Stimme war eindeutig stärker als die der favorsierten Girls von t.A.T.u."

Dieses Duo, in der Presse als "Russen-Lesben" abgewatscht, unternahm einzig den Versuch, den Grand Prix als Start in eine große Karriere zu nutzen. "Wenn dieses Jahr die Wende zu schaffen ist, dass der Grand Prix zur Olympiade der europäischen Popmusik wird", sagte Jürgen Meier-Beer, der Grand-Prix-Verantwortliche der ARD vor dem Ereignis, "dann hätten wir das dem Beitrag Russlands zu verdanken und nicht den alten Größen." Russland wurde Dritter.

Einerseits gilt also, dass heutzutage Kultur entweder amerikanisch oder provinziell ist. Und ein Andererseits gibt´s gar nicht.

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