Die Macht des Rasens

Kollektive Wenn die Weltmeisterschaft beginnt, wollen plötzlich alle gemeinsam Fußball gucken. Ist ja auch nett, aber woher kommt das? Zur Entproletarisierung eines Sports

Es gibt Menschen, die Amerikanismen nicht mögen. Doch auch diese Kritiker werden nicht verhindern, dass die Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika sich als „Event“ präsentiert, und eine populäre Form, sie anzuschauen das „Public Viewing“ sein wird. Schon allein diese Begriffe deuten auf eine Globalisierung des Fußballs und seines Konsums hin. Sie hat mindestens zwei Folgen: Erstens ist schon bevor das erste Spiel angepfiffen wird, klar, dass die Händler diesmal mehr Schals, Mützen, Tröten verkaufen werden als bei der vergangenen WM. Zum anderen bedeutet sie, dass mehr Zuschauer in Public-Viewing-Areas gehen werden, die wiederum in mehr Ländern eingerichtet werden als je zuvor. Und darum soll es hier gehen: Offenbar gibt es beim Fußballgucken ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das sich nicht mehr auf einzelne gesellschaftliche Gruppen oder Länder beschränkt. Wie kommt das? Und vor allem: Was bedeutet das?

Historisch gesehen hat der Konsum von Fußball, grob gesagt, folgende Schritte durchlaufen:

1. selbst spielen,

2. ins Stadion gehen und gucken,

3. im Radio, später im Fernsehen, in Gemeinschaft gucken, zum Beispiel in der Kneipe,

4. im Wohnzimmer alleine oder in kleiner Runde im Fernsehen schauen,

5. wieder ins Stadion oder an einen sta­dionähnlichen Ort gehen, zu einer Public-Viewing-Zone etwa, oder in den Biergarten mit Großleinwand, oder in ein zum Eventsaal umgerüstetes Wohnzimmer, auf jeden Fall wieder in Gemeinschaft.

Der letztgenannte Punkt markiert die Rückkehr solcher gesellschaftlicher Schichten in den öffentlichen Raum, denen es noch bis in die achtziger Jahre in den Stadien zu schmuddelig, zu gefährlich und vielleicht auch zu proletarisch zuging. Die Stufen des Fußballkonsums verweisen auch darauf, dass sich der Sport immer neue Anhänger erschloss: Der Fußball begann mit männlichen Bürgersöhnen; recht bald wurde der Sport auch für (immer noch männliche) Arbeiterjugendliche attraktiv; mit dem Entstehen von Binnenmärkten bei gleichzeitig wachsender Arbeiterfreizeit wurde es so zu einer herrschenden Kultur für beinahe alle männlichen Mitglieder der Gesellschaft. Als diese krisenhaft wurde, entstanden neue familienfreundliche Stadien mit der Folge, dass auch mehr Frauen zum Fußball gingen. Das wurde verstärkt durch Bemühungen der im Fußball engagierten Privatfernsehsender, die den traditionell männlich codierten Sport für die weibliche Zielgruppe attraktiv gestalteten.

Es blieb aber nicht bei dieser innergesellschaftlichen Expansion. In diesem Jahr wird zum ersten Mal eine Fußball-WM in Afrika ausgetragen, das bezüglich Fernsehrechten und Merchandisingartikeln bisher kaum erschlossen ist. In den vergangenen Jahren wurden asiatische Länder für den Fußball gewonnen (WM 2002 in Japan und Südkorea), davor war es der nordamerikanische Markt (WM 1994 in den USA), und in vier Jahren soll mit der WM in Brasilien der südamerikanische Kontinent näher an den Fußballweltmarkt herangeführt werden. Es ist der vorläufige Endpunkt einer auch territorialen Expansion: vom England des 19. Jahrhunderts nach Europa und kurz später nach Südamerika, dann nach Asien und Afrika.

Eine attraktive Ware

Fußball, so kann man zusammenfassen, ist eine attraktive Ware, irgendwie vergleichbar mit Kinofilmen und der Popmusik, mithin ein Bestandteil der Kulturindustrie – was nicht erst die Ikone David Beckham bewiesen hat. Aber der Fußball ist nicht nur abhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung, er ist partiell auch von ihr unabhängig. Er befindet sich im Zustand einer relativen Autonomie. Dieses autonome Element macht den Fußball nicht bloß so schön, sondern sorgt auch dafür, dass dieser Sport gegenüber bestimmten Versuchen, ihn zu kapitalisieren, sperrig bleibt: Sei es, dass auch reiche Länder gegen Teams von kleinen Staaten verlieren können; sei es, dass sich bei Profis, Trainern und vielen Fans vorhandenes Fußballwissen gegen Vermarktungstrends sträubt; oder sei es, dass der Fußball immer wieder eine bemerkenswerte subversive Qualität beweist. Im Stadion nämlich gibt es einen Freiraum, der individuelle und auch kollektive Äußerungen eher ermöglicht als in anderen öffentlichen Räumen. Nicht nur autoritären Regimes gilt der Fußball deshalb als Gefahr. Wenn 50.000 Fans beim Hinweis des Stadionsprechers, dass Guido Westerwelle im Stadion sei, buhen und verächtlich pfeifen, erlebt auch so manche demokratisch gewählte Regierung diese Schönheit des Sports eher ungerne.

Film und Popmusik verdanken ihre Faszination ebenfalls dem Umstand, dass sie manchmal rebellisch sind. Anders als beim Fußball aber geht es hier meist um einzelne Stars: berühmte Musiker oder Schauspieler, die gerade dadurch populär werden, dass sie sich einer allzu glatten Vermarktung verweigern. Im Fußball gibt es zwar auch Stars, deren sportliche Fähigkeiten sie mit einer gewissen Macht gegenüber allzu schlimmen Forderungen kreativer Vermarkter schützen. Aber in erster Linie ist im Fußball das Kollektiv am Werk – ein guter Fußballer kann keine Solokarriere starten, und in einer schlechten Mannschaft wird er nicht glänzen. Dieser kollektive Charakter des Fußballs dürfte es sein, der ihn besonders für proletarische Fans attraktiv machte. Das kann, muss man aber nicht unbedingt als Lob verstehen: der kollektive Charakter macht den Fußball nämlich auch zu einer idealen Projektionsfläche von Nationalismus.

Die relative Seite, also die Abhängigkeit des Fußballs von der gesellschaftlichen Entwicklung, zeigt sich wiederum nicht nur in den schon genannten neuen Stadienbauten, den enormen Zuschauerzahlen auf den Fernsehmärkten, sondern auch im Spiel selbst: David Beckham ist der erste Fußballer der Weltgeschichte, der mehr Geld mit Werbeverträgen als mit Profifußball verdient. Und er ist auch der erste Fußballprofi, bei dem das Gesicht einen höheren Versicherungswert hat als die Beine.

Keine "elf Freunde" mehr

Das hat Auswirkungen auf die Zuschauer. Der Satz „Wir stehen wie ein Mann hinter unserer Mannschaft“ ist in mehrfacher Hinsicht zur Lüge geronnen: Erstens stehen die Fans nicht mehr, sondern sitzen. Zweitens ist der Frauenanteil auf den Tribünen mittlerweile so hoch, dass die Formulierung „wie ein Mann“ nicht recht glaubwürdig wirkt. Drittens ist es nicht mehr im klassischen Sinn „unsere“ Mannschaft, also die besten Spieler von Vereinen, denen man vielleicht selbst angehört, sondern es sind Angestellte von Firmen; in Nationalmannschaften spielen oft nur zu Fußballzwecken eingebürgerte Spieler. Viertens schließlich ist die Mannschaft, hinter die man sich stellt, nicht gerade ein einheitliches Kollektiv. Es sind keine „elf Freunde“ mehr, wenn sie es denn je waren.

Dieser Wandel der Fankultur wurde durch Stadionkatastrophen wie im Brüsseler Heysel-Stadion 1985 und dem Sheffielder Hillsborough-Stadion 1989 noch beschleunigt. Und er hat Auswirkungen auf so manche gesellschaftliche Funktion, die dem Fußball bislang zugeschrieben wurde. Zum Beispiel heißt es ja gerne, Fußball stünde für Völkerverbindung, Weltoffenheit, Toleranz. Gleichzeitig aber artikuliert sich bislang im Fußballstadion Rassismus, Antisemitismus oder Schwulenhass in besonders schlimmer Weise. Was etwa das Thema Homophobie angeht, ist der Fußball – genauer: der Männerprofifußball – der vermutlich reaktionärste Bereich, den die deutsche Gesellschaft aufzuweisen hat: Hier melden sich noch die dumpfesten Trottel offen zu Wort, die in Schwulen unfähige Weicheier sehen und sie in die Nähe von Päderasten rücken. Sogar die Bundeswehr ist da schon weiter.

Bier ist überall teuer

Hier könnte eine weitere Kapitalisierung des Fußballs auch für seine Zivilisierung sorgen. Die kulturellen Effekte eines als metrosexuell geltenden David Beckham, der bekannte, schon mal die Slips seiner Frau zu tragen, sind kaum zu überschätzen. In der Welt der „Helden von Bern“ war so etwas noch undenkbar. Gleichwohl bedeutet eine weitere Kapitalisierung auch eine weitere Enteignung der Fans von ihrem Sport (der, wie gezeigt, im Grunde jetzt schon nicht mehr „ihr“ Sport ist). Der Trend zum Public Viewing ist also auch eine Abwicklung bisheriger proletarischer Öffentlichkeit, wo Menschen, die in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sonst nicht vorkamen, es zumindest bei Aufstiegs- und Meisterschaftsfeiern mit ihren Kutten genannten Jeansjacken zu medialer Beachtung brachten.

Eine Public-Viewing-Area macht eine teure Reise nach Südafrika überflüssig, die Bierpreise aber sind ähnlich hoch wie im WM-Stadion. Public Viewing bedeutet übrigens gar nicht, wie man mit ein bisschen Schulenglisch zu wissen glaubt, „öffentliches Schauen“, sondern vor allem im amerikanischen Englisch steht „Public Viewing“ für „Leichenschau“ beziehungsweise für „öffentliches Aufbahren der Toten“. Was also von so manchen Kritikern als Kapitalismus verheißender Amerikanismus gegeißelt wird, erweist sich als nicht wirklich intelligente Verkürzung. Der neue Hang zum gemeinschaftlichen Fußballschauen wurde möglich, weil frühere Formen des kollektiven Konsums abgeschafft wurden. In der neuen Art, Fußball zu schauen, zeigt sich, wie attraktiv mittlerweile das geworden ist, das aus der abgewickelten proletarischen Öffentlichkeit entstanden ist.

Der Sportjournalist schreibt vor allem über die Themen Boxen, Fußball und die Bedeutung von Sport für die GesellschaftMartin Krauß

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