So seltsam entrückt

Gründungsmythen Vor 50 Jahren errang die Bundesrepublik Deutschland ihren ersten Weltmeistertitel im Fußball. Doch zum "Wunder" wurde das so genannte "Wunder von Bern" erst nach der Wende

Der Schriftsteller Arno Schmidt schimpfte in seinem "Historischen Roman aus dem Jahr 1954 nach Christi", Das steinerne Herz, über den "Westen mit seinem blödsinnigen Fritzwalter=kult!". Weitergehende Verweise auf den Weltmeistertitel der deutschen Fußballer vor 50 Jahren finden sich dort nicht. So viel Wunder, wie man heute glauben möchte, war nie, nicht vor 50 Jahren und auch nicht zehn oder 20 Jahre später.

"Das Wunder von Bern", das sich am 4. Juli zum 50. Mal jährt, weist zwei große Irritationen auf. Zum einen ist das Ereignis, der erste Weltmeistertitel einer deutschen Fußballnationalmannschaft, zwar objektiv erst 50 deutsche Jahre her. Aber an "gefühlten Jahren", wie man analog zur "gefühlten Temperatur" aus dem Wetterbericht sagen könnte, sind es wesentlich mehr. Das Ereignis aus dem Jahr 1954 ist seltsam entrückt, fern und fremd. Mehr als 20 Bücher sind nun zum "Wunder" erschienen, dazu noch etliche Sonderhefte, Extrabeilagen, Fernsehdokumentationen und der Spielfilm Das Wunder von Bern von Sönke Wortmann. All diese zum Teil sehr seriösen und nur zu einem geringen Teil effektheischenden Versuche tun zwar das ihre, um den Erfolg der Mannschaft um Fritz Walter auch emotional verständlicher zu machen. Dennoch gelingt ihnen das kaum. Die fünfziger Jahre haben mit dem Leben der Menschen in der Gegenwart nicht viel zu tun.

Anders als die Niederlage in Wembley 1966. Oder das Sparwasser-Tor und die WM 1974 oder die WM 1990 mit Brehmes Elfmeter und Beckenbauers Es-tut-mir-leid-für-den-Rest-der-Welt-Größenwahn. Wo warst du, als das Sparwassertor fiel?, lautet eine geniale Frage, auf die jeder meiner Generation eine Antwort hat. Aber der WM-Titel der Helden von Bern liegt subjektiv weiter zurück als etwa die von den meisten Quellen auch auf das Jahr 1954 datierte Geburt des Rock´n´Roll.

Diese seltsame Entrückung ist das eine, was am "Wunder von Bern" und dem Hype, der gegenwärtig um es gemacht wird, irritiert. Das andere ist die Rede vom "Wunder", die aus dem überraschenden, aber dennoch sporthistorisch erklärbaren Umstand des Siegs über Ungarn im Finale ein mythisches, gleichsam ahistorisch über die Deutschen gekommenes Geschehnis macht. "Seit 1954 gehört der Mythos vom ›Wunder von Bern‹ zu den ›Orten‹ in der deutschen Öffentlichkeit, an denen sich Erinnerungen konzentrieren", schreibt der Historiker Jacob Eder. "Doch erst 1994 wird er in die Nähe eines Gründungsmythos gerückt. Erst jetzt hat er die Aufladung und bildhafte Symbolkraft erhalten, die seine mythische Faszination und seinen heutigen Stellenwert als Erinnerungsort im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ausmachen."

Das "Wunder von Bern" lasse sich als "die Gründung der Bundesrepublik im Wankdorf-Stadion zu Bern" interpretieren, hat der Historiker Arthur Heinrich 1994 nachgewiesen. Nicht als formaler Akt, aber als ein dem Rütlischwur oder dem Sturm auf die Bastille vergleichbares historisches Ereignis, das eine Nation, nämlich die westdeutsche, konstitutierte. Es fällt auf, dass ein solcher "Identitätsanker" (Bernd Ulrich in der Zeit) nicht nur erst 40 Jahre nach dem Ereignis geworfen wurde, sondern auch zu einem Zeitpunkt, als es gar nicht mehr darum ging, eine westdeutsche Identität zu stiften. Erst nach dem Beitritt der DDR zur BRD lief die "Wunder"-Maschine auf Hochtouren: 1994 zum 40. Jubiläum ging es los, 1997 zum 100. Geburtstag von Sepp Herberger ging es weiter, und nun, 2004, zum 50. Jubiläum, gibt es scheinbar kein Halten mehr. Wankdorf, Wankdorf, über alles.

Arno Schmidt nahm in seinem 1956 erschienenen Roman die öffentliche Begeisterung für den WM-Erfolg als eine rein westdeutsche wahr, die sich in allgemeine Restaurationstendenzen einreihte. "Gewiß: ein Regime, was aufrüsten will, muß doch einfach auf jene Elemente zurückgreifen, die damals bei Hitler oben schwammen: andere melden sich doch nicht freiwillig zu so was!: Wer sich darüber wundert, oder ´s gar leugnen will, muß schon arg naiv sein!", schrieb er, und dann fügte er, quasi aus ostdeutscher Perspektive, obwohl sein Ich-Erzähler ein Wessi ist, seine Passage über die Helden von Bern ein: "Sehr richtig: der Westen mit seinem blödsinnigen Fritzwalter=kult! (Allerdings hier dann wieder: diese ‹Helden der Arbeit›: anstatt die Leute ehrlich aufzuklären, daß Arbeit leider ein noch notwendiges Übel sei. - Immer noch ne ‹Sonderschicht für den Frieden›: die haben ja auch n Knall!)."

Der westliche Fritz-Walter-Kult, den Schmidt beklagt, blieb aber zunächst ohne größere gesellschaftliche und erst recht politische Auswirkung. Er erinnerte eher an heutige Starkulte, die irgendwann vorbei sind. Noch 1964, zum zehnten Jahrestag des Finalsiegs, fanden sich beispielsweise weder in der Frankfurter Allgemeinen noch in der Welt Artikel zum Thema, und die Süddeutsche veröffentlichte lediglich eine Fotomeldung.

Und zum 20. Jahrestag im Jahr 1974 - es war kurz vor dem Finale gegen die Niederlande - fragte die Frankfurter Allgemeine im damaligen deutschen Kader nach. "Neben der Begeisterung von Franz Beckenbauer und Sepp Maier", fasst Eder zusammen, "fällt das Desinteresse von anderen Finalteilnehmern, wie Günter Netzer oder Berti Vogts, auf. Ihre Erinnerungen beziehungsweise ihre Berichte davon lassen dem Ereignis, dem heute so eine ungeheure Tragweite zugemessen wird, nicht die erwartete Verklärung, geschweige denn eine Mythisierung, zukommen." Zu einer besonders falschen Prognose ließ sich die Zeit hinreißen: "Bald aber werden die Berner vergessen sein, ihre Namen nur noch ein paar Sportbücher zieren. Diesen Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze mehr."

Das "Wunder", das doch nur neun Jahre nach dem alliierten Sieg über Nazideutschland ein kollektives "Wir sind wieder wer" ausgelöst haben sollte, ließ sich also nicht nur im damaligen Bewusstsein nicht leicht nachweisen. 1954 wurde zwar im Stadion "Deutschland über alles" gesungen, da gab es einen triumphale Heimkehr der "Helden" im Zug, da gab es Bücher von Fritz Walter und Sepp Herberger. Aber dennoch wurde die kollektive Identität der Westdeutschen eher durch andere historische Umstände geprägt: Durch den Kalten Krieg und die Konkurrenz zur benachbarten DDR.

Die zwei Irritationen scheinen zusammenzugehören: Dass das Ereignis subjektiv so weit weg liegt und dass es erst im Verlaufe der Jahrzehnte die Bedeutung erhalten hat, die es heute besitzt. Während 1954 weder der Bundespräsident Heuss, noch Kanzler Adenauer noch ein Minister im Wankdorf-Stadion saßen, so lässt heute Bundeskanzler Schröder zu allen denkbaren Gelegenheiten verlauten, dass er bei der Premiere des Films von Sönke Wortmann drei Mal geweint habe.

Die Klammer zwischen den zwei irritierenden Momenten lautet also: Wenn erst heute, beziehungsweise frühestens seit 1994 ein nationaler Gründungsmythos der westdeutschen Republik beschworen wird, dann wird auch erst heute einer gebraucht. Einen Gründungsmythos einer neuen Bundesrepublik, die sich 1990 gegründet habe, gibt es ja schon deswegen nicht, weil es diese neue Republik nicht gibt. Der Osten trat dem Westen bei; zu den Bedingungen des Westens und in die Geschichte des Westens. Ostdeutscher Fußball ist für westliche Wahrnehmung bloß das Sparwasser-Tor; dass es einen Europapokalsieg gab, einen Olympiasieg, eine Liga und einen Pokalwettbewerb mit ähnlich spannenden Geschichten wie in Westdeutschland, wird nicht gesehen.

Es gibt nicht viele Geschehnisse, die über die enge westdeutsche Gesellschaft der Adenauer-Ära hinaus als Identifikationsangebot für alle - West- und Ostdeutsche gleichermaßen - fungieren können; eigentlich gibt es keines: der europäische Schlagerwettbewerb wurde von der BRD nur einmal gewonnen - mit einem Lied, das die westdeutsche Friedensbewegung reflektierte; der Aufstand vom 17. Juni in der Stalinallee wurde viel zu sehr vom Westen als Kampftag des Kalten Krieges instrumentalisiert; einen ersten Deutschen im All hatten gleich beide deutschen Staaten aufzubieten, und dass sich der eine Astro-, der andere Kosmonaut nannte, war eher Ausdruck der friedlichen Koexistenz denn einer Gemeinsamkeit; der Mauerfall von 1989 gilt der ostdeutschen Bevölkerung viel zu sehr als ihr eigenes Werk, als dass es der Westen zum eigenen Identifikationsangebot an die Bürger der neuen Länder umdeuten könnte; die Fußball-WM 1974 war vom den Westen bis heute kränkenden Sparwasser-Tor überlagert; und die WM 1990 liegt nicht weit genug zurück, als dass sie solche Geschichtsmächtigkeit ausüben könnte. Von dem gerade gescheiterten und durch den Rücktritt von Rudi Völler besiegelten deutschen Versuch, ausgerechnet am 4. Juli 2004, also exakt 50 Jahre nach dem Erfolg von Bern, in Portugal Europameister zu werden, ganz abgesehen.

Der Begriff vom "Wunder", das 1954 in Bern stattgefunden habe, ist genauer betrachtet recht passend: Er umschreibt etwas Unerklärliches, etwas, das im Grunde unverdient vom Himmel direkt in den Schoß fiel.

Die Rede vom "Wunder von Bern" hat nicht mehr sehr viel mit dem sporthistorischen Ereignis gemein: Nicht allein, dass das unmittelbare Erleben am 4. Juli 1954 im Berner Wankdorf-Stadion nur einem kleinen Teil der deutschen Bevölkerung vorbehalten war, dort passten schließlich nur 60.000 Menschen hinein. Auch die Erinnerung, wie das Spiel erlebt wurde, ist mittlerweile komplett neu konstruiert. Über die Fernsehbilder, die 1954 von nur Wenigen gesehen wurden, wird in der Regel nicht der alte Fernseh-, sondern der Radiokommentar von Herbert Zimmermann gelegt. Die Dramaturgie des Spiels, in dem die ungarische Mannschaft zunächst mit 2:0 in Führung ging, ehe Deutschland schon in der 18. Minute ausglich und, nachdem Helmut Rahn in der 84. Minute den Siegtreffer zum 3:2 erzielte, der Schiedsrichter ein Tor der Ungarn wegen angeblichem Abseits nicht anerkannte, ist kaum noch gegenwärtig.

Wenn wir vom "Wunder von Bern" sprechen, meinen wir schon lange nicht mehr das historische Ereignis, sondern schon längst nur den Mythos. Und der ist nicht von den historischen Fakten gedeckt. Alles, was man wissen muss, hat Herbert Zimmermann in seinem Radiokommentar gesagt. Sein raunender Konjunktiv, der die Mächte der Geschichte anruft, besitzt nationale Gültigkeit: "Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt, Tor, Tor, Tor, Tor. Tor für Deutschland!" Und natürlich die abschließenden Worte: "Aus, Aus, Aus! Das Spiel ist aus. Deutschland ist Weltmeister! Schlägt Ungarn mit 3:2 Toren im Finale in Bern."

Und als sei dies nicht genug an Transformation eines historischen Ereignisses in einen nationalen Mythos legte Sönke Wortmann seinen Film Das Wunder von Bern vor. Hatte bislang gegolten, dass von der Vergangenheit unbefleckte junge sympathische Männer (elf Freunde) eine verschworene Gemeinschaft (Geist von Spiez) bildeten und clever die äußeren Umstände (Fritz-Walter-Wetter) nutzten, um Weltmeister zu werden, so kommt nach Wortmanns Film noch hinzu, dass die deutschen Fans von den weltpolitischen Umständen um ihr Lebensglück betrogene Kriegsheimkehrer waren, die mit dem ausgeliehenen Volkswagen über die Alpen tuckerten, um bei der nationalen Wiedergeburt dabei zu sein.

Geschichte wird gemacht, und der Kanzler hat geweint.


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