Vom Weltmarkt zum Weltrekord

Standardisierter Leistungsvergleich statt Genie Obwohl sich die großen gesellschaftlichen Prozesse und Auseinandersetzungen allesamt im Sport ausdrücken, ist sein soziales Renommee eher niedrig

Robert Musil benutzte den Begriff »Zeitalter der Körperkultur«, und überhaupt war dem österreichischen Schriftsteller in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften etliches Sportsoziologisches aufgefallen. »Es hatte schon damals die Zeit begonnen«, notiert er etwa über das Aufkommen von Massensport und ersten Weltstars, »wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centrehalf (Mittelläufer im Fußball, Anm. d. Verf.) oder großer Taktiker des Tennissports.« Musil war hoffnungsfroh, dass sich das im Verlaufe des Jahrhunderts ändern sollte. Ein Boxmeister habe nämlich gegenüber einem »großen Geist«, von dem er sich im übrigen intellektuell gewiss nicht unterscheide, voraus, dass sich seine »Leistung und Bedeutung einwandfrei messen lässt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der Beste erkannt wird, und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Größe zu verdrängen.« Die »Wichtigkeit neuzeitlicher Körperkultur« drücke sich darin aus, dass gewiss bald auf Anregungen etwa eines Fußballvereins zurückgegriffen werde, »seinem Rechtsaußen einen Professortitel zu verleihen«. Das sei nur eine Frage der Zeit. »Es gab einflussreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen.«

Aus Musils Prognose ist nicht sehr viel geworden, zumindest in Deutschland nicht. Der Sport, diese kapitalistische Form der Körperkultur, hat es im gesamten Jahrhundert nicht geschafft, die gesellschaftliche Anerkennung zu erheischen, die ihm zukommt. Als Diego Maradona 1995 als Gastredner eine Vorlesung an der Oxford University hielt, musste er hämische Kommentare über sich ergehen lassen, er habe bloß »seine Lebensweisheiten zum besten gegeben« (FAZ). Ein Ehrendoktorhut wurde einem der genialsten Fußballer des vergangenen Jahrhunderts wie selbstverständlich verweigert. Auch von seinen Kollegen in dieser Reihe - Pele, Beckenbauer, Cruyff, di Stefano oder Garrincha - erhielt selbstredend keiner eine solche Auszeichnung.

Als Stefanie Graf 1999 gemeinsam mit Günter Grass in Spanien den renommierten Prinz-von-Asturien-Preis erhielt, sie in der Sparte Sport, er in der Sparte Literatur, nahm man es als ganz selbstverständlich hin, dass sich die Tennisspielerin für die Ehre bedankte, gemeinsam mit dem »wichtigen Schriftsteller« ausgezeichnet zu werden, und niemand wertete es als Affront, dass Grass ausführte, ihn langweile »das ständige Hin und Her eines kleinen Balles« beim Tennis. Eine Umkehrung, etwa, dass Graf ähnlich ignorant verlautbart hätte, sie langweile das ständige Umblättern dünner Seiten beim Lesen von Büchern, ist kaum vorstellbar. (Und wenn doch, wäre es mehrheitlich als Hinweis auf eine vermeintliche Unbildung Steffi Grafs verwendet worden.)

Der Sport steht also, was sein soziales Renommee angeht, am Anfang des 21. Jahrhunderts immer noch schlechter dar als jene kulturellen Sparten, die gerne kurzerhand zur Kultur schlechthin ernannt werden. »Fragen Sie zum Beispiel einen Sportler«, rief jedoch der französische Soziologe Pierre Bourdieu in einem Interview aus, »warum er bestimmte Dinge so und nicht anders tut - da bedarf es einer Menge Arbeit, um ihn darüber etwas sagen zu hören.« Wenn der befragte Sportler versucht, seine nonverbalen Kompetenzen ins Verbale zu übersetzen, vermutet Bourdieu ganz entgegen der hierzulande sehr verbreiteten Annahme, ist der zeitdiagnostische und -prognostische Gehalt in der Regel sehr hoch.

Befunde zur gegenwärtigen Situation des Sports kommen selten ohne den Begriff der Krise aus. Die meist genannten Symptome lauten: Die vermutlich wichtigste Institution des Weltsports, das Internationale Olympische Komitee (IOC), das sich immer als Verein idealistischer Ehrenmänner definierte, offenbarte sich in den vergangenen Jahrzehnten als korrupte Clique, womit zum einen die vom IOC gepflegte Ideologie des Olympismus, der »religio athletae«, wie es ihr Begründer Baron Pierre de Coubertin nannte, ad absurdum geführt wurde. Zum anderen setzte mit der Krise des Olympismus auch eine Reform genannte Gegenbewegung ein, die aus dem IOC einen Weltkonzern mit ähnlichen Kontrollmechanismen macht, wie sie im Wirtschaftsrecht vorgesehen sind: Offenlegung der Einkünfte, Verbot der Annahme von Vergünstigungen, Etablierung von Kontroll- und Aufsichtsgremien etc.

Ein anderes Krisensymptom des Sports ist, dass Weltrekorde als die Erkennungsmarken großer sportlicher Leistungen im Dopingdiskurs einen rapiden Glaubwürdigkeitsverlust erleiden, der dazu führt, dass zum einen große Leistungen nicht mehr als von natürlichen Menschen erbrachte anerkannt werden, sondern stets Verdächtigungen über unsaubere und scheinbar Menschen nicht innewohnen dürfende Substanzen mitschwingen. Zum anderen konstituiert sich im Antidopingdiskurs der Wille, die vermeintliche Reinheit der sportlichen Leistung dokumentiert zu bekommen, koste es, was es wolle: Sportler müssen unter Aufsicht von Kontrolleuren urinieren, sie müssen zwangsweise Blutentnahmen hinnehmen, und sie müssen zum Teil drastische Einschränkungen ärztlicher Medikamentationsfreiheit akzeptieren.

Warum das soziale Renommee des Sports, seiner Athleten und Funktionäre eher niedrig ist, muss verwirren, schließlich drücken sich die großen gesellschaftlichen Prozesse und Auseinandersetzungen allesamt im Sport aus. Im Beispiel IOC die Globalisierung. Im Beispiel Doping die Bestimmung des Menschseins. Es existiert lediglich der bemerkenswerte Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen im Sport schon länger stattfinden. Es gibt also, auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, genügend Gründe, den Sport genauer zu betrachten und eigentlich keinen Grund, ihn zu ignorieren.

Schließlich, das eint ihn beispielsweise mit dem Kino, das wie er primär nonverbal daherkommt und dem dennoch ein zeitdiagnostischer Zug nicht abgesprochen wird, ist der moderne Sport ein Produkt des Bürgertums. Als die feudale Gesellschaft in den letzten Zügen lag, zeigte sich in Europa ein »bisher in der Menschheitsgeschichte nie dagewesener Interessenschwund für die Probleme der Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit«, notiert der polnische Sportsoziologe Andrzej Wohl. »Erst an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert beginnt eine neue Blütezeit der Körperkultur in Gestalt der raschen Entwicklung und des modernen Sports.« Ohne körperliche Betätigung, erscheint sie noch so zweckfrei, kann der Mensch nicht Mensch sein.

Mit dem Aufschwung des Bürgertums entstanden Vereine, schließlich sind und waren sie ihm die beste Organisationsform. Mit Aufkommen der Messinstrumente wie Metermaßen, Waagen, Stoppuhren entwickelte sich der Drang zum standardisierten Leistungsvergleich. Und mit der Konstituierung des Weltmarkts entwickelte sich der Weltrekord. Zunächst als Anhängsel der Weltausstellungen begannen seit ihrer erstmaligen Ausrichtung 1896 die Olympische Spiele der Neuzeit ihren Siegeszug. Mit der modernen Massengesellschaft wurde der Sport ein Massenphänomen. Und die Kommunikationstechnologie wurde besonders früh im Sport eingesetzt: Der erste Film in Deutschland zeigte im Jahr 1895, wie ein Mann gegen ein Känguru boxte. Der erste Film überhaupt war ein 1894 in New York gezeigter Boxfilm, und auch der erste Film mit künstlicher Beleuchtung zeigte wie selbstverständlich einen Boxkampf (1899).

Auch der Rundfunk erlebte seinen Aufschwung mit den Sportübertragungen, und das Fernsehen ging mit den Olympischen Spielen 1936 auf Sendung. Noch heute verdanken sich die wesentlichsten Innovationen in der Medienindustrie, sei es Digitalfernsehen oder Pay-TV, dem Sport. 1936 wurde der Sport auch mittels der Olympischen Spiele zur ersten weltweiten Demonstration von Staatsinterventionismus. Der Nazi-Staat finanzierte die Spiele komplett und machte sie zum Ausstellungsobjekt seines Selbstbildes. Und auch die Krise eines auf Staatsinterventionen basierenden Verständnisses von Politik und Ökonomie offenbarte sich zu allererst im Sport: 1976, nach der Olympiade, war Montreal faktisch bankrott, 1980 fand sich nur noch ein Bewerber, der bereit war, ein solches Spektakel zu organisieren, das sowjetische Moskau, und 1984 gab es immer noch nur einen Bewerber. Der aber diktierte, dass es künftig privat finanziert zugehen müsse: die Olympischen Spiele wandelten sich von der politischen Selbstpräsentation zum profitablen Weltereignis.

Der Sport hat sich also sozusagen in seinen dritten Aggregatszustand hinübergerettet: Er ist jetzt dem Kapitalzugriff frei ausgesetzt, was nicht nur ein Nachteil ist. Es bedeutet auch, dass nationale Borniertheiten, die sich ja bis heute noch im Aufstellen von Medaillenspiegeln und Nationenwertungen offenbaren, zunehmend unwichtiger werden; Globalisierung eben, die nationale Deregulation mit sich bringt. Die Frage nach der Zukunft des Sports lässt sich auf die kürzest mögliche Art so beantworten: Solange der Kapitalismus noch weitermacht, ist auch das »Zeitalter der Körperkultur« nicht zu Ende.

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