Che steht am Tresen

Litauen Belarus schickt Geflüchtete über die Grenze in Richtung EU – nach Pabradė
Ausgabe 31/2021
Bis vor kurzem stand dieses Erstaufnahmezentrum noch halb leer
Bis vor kurzem stand dieses Erstaufnahmezentrum noch halb leer

Foto: Konstantin Sednev/scanpix/Imago Images

Wegen der litauischen Neuauflage der Flüchtlingskrise fahre ich in die Nähe des Staates, der uns zurzeit so verschlossen ist wie kein anderer in Europa – Belarus. Der litauische Grenzort, den der weißrussische Präsident Aleksandr Lukaschenko dazu nutzt, um Tausende Geflüchtete schadenfroh an den EU-Staat Litauen weiterzureichen, ist auffälligerweise eine ziemlich russischsprachige Stadt. Nur 27 Prozent der Bewohner in Pabradė sind Litauer – die Mehrheit hingegen ethnische Polen, Russen und Weißrussen.

Ich nähere mich der Grenze um Mitternacht, fahre viele Kilometer entlang der Demarkationslinie und will nach Weißrussland hineinlauschen. Das haut nicht hin, ich kriege keine weißrussischen Radiosender rein, diesbezüglich ist das Regime nicht invasiv. Dann erklingt es endlich, das „Erste Nationale Weißrussische“. Ein Jüngling verkündet begeistert, dass nun auch das Staatsradio der Jugend einen „alternativen Messenger-Kanal“ bietet. Darauf werden Sturmwarnungen verlesen, ein Klassikkonzert verdienter Volkskünstler folgt, dann wieder kein Empfang.

Hinter drei Zäunen

Ich komme um die Mittagszeit an den neuen Hotspot. Im litauischen Fernsehen, Serientitel: Migrantų krizýé, werden Bilder von gegen die Migranten demonstrierenden Litauern ausgestrahlt, die, wer kein Litauisch versteht, für reklamierende Camper im Wald halten könnte. In den Hügeln hinter Pabradė überhole ich einen Mannschaftsbus mit einem kleinen zartblassen Schwarz-Rot-Gold – die Bundeswehr. Im russischsprachigen Kreisblatt sehe ich Fotos vom Trachtenfest der weißrussischen Volksgruppe. Und im Foreigners Registration Centre für Migranten sind Bauarbeiter damit beschäftigt, Ventilationsmaschinen zu warten, die an Dutzenden Militärzelten dröhnen. Hinter zwei bis drei Zäunen hocken Hunderte von jungen Männern, offenbar aus dem Nahen Osten und Afrika.

Es ergibt sich, dass ich fast nur mit alten Pabradėrinnen sprechen kann. Ich frage mich, warum Lukaschenko die Geflüchteten ausgerechnet über den Ort Pabradė schickt. Weil hier das bis vor Kurzem noch halb leere Erstaufnahmezentrum Litauens steht? Weil Lukaschenko mit den Emotionen der teils prorussisch eingestellten Grenzbevölkerung spielt? Die befragten Pabradėr Großmütter aber finden Lukaschenko nicht wichtig. Sie empören sich nicht über sein Handeln, sie reden gar nicht über ihn. Sie wollen auf ihre Regierung schimpfen. Und auf die EU.

Ich fahre so nah wie möglich an die Grenze heran, nach Zalavas. Der Weiler ist polnisch geprägt, Marschall Pilsudski, autoritärer Führer Polens zwischen 1926 und 1935, wurde hier geboren. Man stößt auf ein Idyll aus weit auseinanderstehenden, farbigen Holzhäusern. Hier kann man das weißrussische Staatsradio gut empfangen. Ich sitze im Wagen und lausche. Die Sprecher klingen allesamt besorgt, aber gleichsam gefasst. Eine Uni-Medizinerin äußert sich zu Covid-19, alarmistisch klingt sie bezüglich Long Covid, verständnisvoll gegenüber Impfskeptikern: „Das ist eine normale Reaktion, so ist der Mensch nun einmal.“ Eine 89-Jährige mit weißem Kopftuch sitzt auf der Rückseite ihres Hofes, mit Tochter und Enkelin. Die Pabradėr Russen und Weißrussen, glaubt die Polin, sind Zuwanderer aus der Sowjetzeit, von den neuen Zuwanderern habe sie noch keinen gesehen. Ja, sie fürchte sich, andererseits habe sie sich vorher auch schon gefürchtet – das Gehöft liegt ziemlich einsam.

Ich fahre zum Pabradėr Erstaufnahmezentrum zurück. Ein Zettel am Außenzaun kündet von einem Drohnenverbot, eine rundliche Litauerin in Tarnfarbenuniform bewacht einen symbolischen Burggraben und untersagt mir das Stehen am Zaun. Gleich hinter dem Camp liegt eine Pabradėr Wohnblocksiedlung. Deren Bewohner gehen am Lagerzaun entlang zum Supermarkt. Ein Kreativlehrer mit Jungfamilie wie aus dem skandinavischen Bilderbuch hat kein Problem mit den Fremden, er ist gerade aus Vilnius hergezogen. Eine 74-Jährige mit elegantem blauen Damenhut wiederum will wegen der Flüchtlinge nicht umziehen. Ihr reicht es, dass ihre halbe Familie – wie in Litauen üblich – nach England ausgewandert ist. Sie ist altgläubige Russin und betont: „Wir leben seit Peter dem Großen in Pabradė, bitte schön!“ Selbst hört sie keinen Lärm aus dem Lager, „ich wohne an der Rückseite“. Andere Nachbarn würden sich beklagen, dass die Migranten in der Nacht laut beten – beten und trommeln. Sie behauptet, dass die polnische Regierung Migranten aus Belarus abgewiesen habe, deshalb müsse nun Litauen sie aufnehmen. Ich frage sie: „Wer regiert hier eigentlich? Liberale, oder?“ – „Ja, das sind Liberale“, bestätigt sie und reißt plötzlich die Arme in die Höhe: „Und noch dazu sind es Lesben!“

In der Kneipe „Kaviné Varnelé“ halten einstweilen fünf Pabradėr Rentnerinnen ein traditionelles Kleinbankett zu einem 76. Geburtstag ab. Dazu gehören ein kunstvoll drapiertes Gesteck aus Obststücken, ein weiß schaumiger Majo-Salat, Schampus und Wodka. Die Damen sprechen Russisch, eine von ihnen mischt zuweilen Polnisch rein, doch Polen ist weit.

Zur Demo nach Vilnius

Pabradė liegt östlich von Vilnius, diese Polin jedenfalls tickt prorussisch. Als das W-Lan ausfällt, macht sie dafür die nahe Militärbasis verantwortlich: „Dort sind Amerikaner stationiert, Deutsche, alles Mögliche. Wir mögen sie nicht.“ Übermorgen wollen sie sich in einen Bus setzen und vor dem Regierungssitz in Vilnius gegen die litauische Migrationspolitik demonstrieren.

Bevor ich abfahre, wird es noch brenzlig – am Tresen steht plötzlich ein Migrant. Er sieht Che Guevara ähnlich, nur die Augen funkeln nicht, abgekämpft wirkt er ebenfalls. Auch wenn sie mehr mit Grimassen und Blicken arbeiten, schimpft die Damenrunde beherzt auf die Migranten. „Genau die wollen wir hier nicht“, sagt eine und formt ihre Lippen zu einem „Allahu akbar“. Ich beobachte gebannt, wie Che darauf reagiert. Doch scheint er die Frauen gar nicht zu bemerken. In schwere Gedanken versunken, setzt er sich auf die Terrasse.

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