Ein leises Nein

Armenien Jerewan muss aserbaidschanisches Militär auf seinem Gebiet dulden. Ein Ortsbericht
Ausgabe 42/2021
Den Gänsen ist es egal, wem Bergkarabach gehört, den Menschen nicht
Den Gänsen ist es egal, wem Bergkarabach gehört, den Menschen nicht

Foto: Imago Images

In die mit Reisewarnung belegte südarmenische Region Sjunik fahre ich wegen des verlorenen Krieges um die angrenzende Republik Bergkarabach. Gewiss triumphierte Aserbaidschan im Herbst 2020 dank Petrodollars, Söldnern und Drohnen, doch lautet die Frage: War Armenien nicht auch schon im ersten Karabach-Krieg zwischen 1992 und 1994 zahlenmäßig unterlegen und obsiegte dennoch? Das dünn besiedelte Südarmenien ist durch die Niederlage in eine prekäre Randlage geraten: Im Frühsommer drangen möglicherweise bis zu 1.200 aserbaidschanische Soldaten in armenisches Territorium ein. So stehen seit September an der vorher innerarmenischen Fernstraße Goris–Kapan aserbaidschanische Grenzposten und kontrollieren iranische Lastkraftwagen.

Ich starte in der behaglichen Hauptstadt Jerewan. Eine Café-Terrasse spät am Abend, Weintrauben auf Granatäpfeln in floral bemalten Glasschüsseln, oben wärmt der Heizstrahler, unten die vom Cafetier dargereichte Decke. Meine letzte Armenien-Reise liegt sieben Jahre zurück. Die größte Veränderung besteht darin, dass junge Männer neuerdings Moden folgen: Sie tragen schwach getrimmte Hipster-Vollbärte oder horizontale, glänzend gekämmte, tief in die Stirn gelegte Pilzfrisuren.

Wirre Momente

Ich mache Halt im Nationalheiligtum Chor Virap. Die Aussicht geht runter auf den türkischen Grenzzaun und zum türkisch beherrschten Nationalberg Ararat wieder hinauf. Ein armenischer Würdenträger in makellosen Bügelfalten führt vier russische Gäste herauf, zwei von ihnen sind Militärs. Schulterklopfend differenziert der Schmeichler zwischen Sowjetunion und Zarenreich – die Sowjetunion habe den Ararat hergegeben, „vorher aber war das alles hier Russisches Imperium“, sagt er. Die russischen Soldaten nicken freundlich, achten aber in jeder ihrer raren Aussagen auf Neutralität. In dem tiefen Verlies, in dem Gregor der Erleuchter, der Täufer Armeniens, dreizehn Jahre lang geschmort haben soll, missioniert den ganzen Tag ein armenischer Prediger, der an die These von Chips-Implantation mittels Impfung glaubt. Eigentlich arbeitet er in einer holländischen Kartoffelchipsfabrik, bei Kriegsausbruch vor einem Jahr jedoch kehrte er zurück, um der Heimat beizustehen, wurde aber nicht an die Front gelassen.

Dann geht es nach Sjunik, ins Hangstädtchen Goris. Geradeaus führt der Weg nach Rest-Karabach, rechts über die teils aserbaidschanisch kontrollierte Straße in den Iran. Auf dem Kasernenhof viele picobello geschrubbte Militärlaster, Kriegsgerät ist nirgends im Land zu sehen. Es ist schon winterlich kalt in diesen schroffen Bergen. Die sechs Kilometer lange Doppelmayr-Seilbahn ins Bergkloster Tatev wird zurzeit nur noch von russischen Touristen besucht. In den paar Lokalen von Goris sitzen unbewaffnete Soldaten. Außer Russinnen tauchen keine Frauen auf, es wird sehr helles Bier und so viel Tee getrunken, dass ich mich schon ein wenig im nahen Iran wähne.

Ich rede mit Sjuniks Männern. Der erste, ein alter Petersburger Armenier, spricht schön wie ein Professor, trägt jedoch ein irrwitziges Destillat aus jüdisch-islamistisch-freimaurerischen Weltverschwörungen vor. Dass der Kriegsverlierer, der liberale, prowestliche Ministerpräsident Nikol Paschinjan, die vorgezogene Neuwahl im Juni auch in Sjunik gewann, wenn auch nicht mit 60 Prozent wie in anderen Provinzen, kann der alte, hautrissige, nie ausgewanderte Nachbar erklären: Paschinjan stehle auch in seinem vierten Regierungsjahr noch nicht – „ist noch zu früh“. Hier ist das ein Kompliment. Der Petersburger erlebte die 44 Kriegstage in Goris und sagt einen aufschlussreichen Satz darüber: „Da waren auch wirre Momente.“

Der zweite, ein einsilbiger Fahrer im mittleren Alter, sieht die neue Grenzlage nicht so eng: „Die Zeitungen schreiben viel. Ich bin die Route Goris–Kapan schon gefahren, ist überhaupt kein Problem, die Aserbaidschaner winken uns durch und halten ausschließlich iranische Laster an.“ Ich frage ihn: „Haben Sie im 44-Tage-Krieg gekämpft?“ Er verzieht den Mund, als würde er zu einer Rede oder Ausrede ansetzen, dann sagt er leise: „Nein.“ Der dritte ist ein kleiner sehniger Mitarbeiter im Wahlkampfstab der Kommunalwahl. Er erzählt, der reiche Vater des jungen Bürgermeisters habe viele der in düsterem Grau auf alt gemachten Neubauten im Zentrum finanziert, der Sohn sitze momentan ein, trotzdem ist ganz Goris mit seinen Wahlplakaten austapeziert. Der Mitarbeiter hat in beiden Karabach-Kriegen gekämpft: „Damals, ich war 19, waren wir Kamikaze-Kämpfer. Wir waren alle bereit zu sterben.“ Seine Analyse der Niederlage dreht sich mehrmals: Einerseits, sagt er, „war es unmöglich, gegen Hightech-Waffen zu gewinnen. Mit ihren Drohnen haben sie die Artillerie bombardiert, danach auch uns im Auto“. Andererseits: „Viele sind davongerannt, verflucht noch mal, sehr viele!“ Einerseits habe Premier Paschinjan versagt, indem er zuerst die Beziehungen mit Moskau verdarb und dann trotz Mobilisierung viele Kampfwillige nicht zur Front ließ. Andererseits seien viele völlig unerfahren gewesen. „Ich musste in meiner Einheit den Offizier machen, obwohl ich keiner bin.“ Einerseits hätte der eiserne Ex-Präsident Robert Kotscharjan Armenien zum Sieg führen können. Andererseits habe sich Armenien auch ohne ihn nicht so schlecht gehalten. „Die Aserbaidschaner meinten, sie gewinnen das in fünf Tagen. Hätten wir nur tausend Kamikaze-Kämpfer gehabt, hätten wir gewonnen!“ – stöhnt er. Die Straße Goris–Kapan nimmt der zweifache Veteran nicht mehr. Er fürchtet, dass Aserbaidschan dank Drohnen-Kameras über Fotos und Namen aller armenischen Kämpfer verfügt – „sie würden mich aus dem Auto holen und mitnehmen.“

Ich komme bei der Exklave Nachitschwan an die aserbaidschanische Grenze heran. Hier ist die Demarkationslinie so nah, dass die armenische Fernstraße von einem Grenzwall geschützt wird. Vor sieben Jahren waren die Löcher innerhalb des Mauerwerks mit Haufen von Wassermelonen gefüllt. Nun sind die Obststände ins Hinterland abgewandert, zumindest die armenischen Melonen sind sicher.

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