Sie ist wieder da, als wäre nichts gewesen. Sie ist sogar wieder mit denselben Themen da, die sie seit den 1990er Jahren bespielt: Erdgas und Korruption. Neu ist wieder einmal ihr Design. Verschwunden sind die Weizenähren und Bauernstickereien auf den Wahlplakaten und die engen weißen Sweater mit rotem Herz, in denen sie Tausende Parteisoldaten aufmarschieren ließ. Sie flicht sich nicht mehr den nationalikonischen Flechtkranz, sondern trägt ihr blond gefärbtes Haar glatt. In den neuen Wahlspots sitzt die 58-Jährige maximal verjüngt vor einem Großraumbüro voller junger Leute und verspricht eine „neue Sozialdoktrin“ und einen „neuen Kurs – das ist der Aktionsplan für den Aufbau eines neuen und starken europäischen Staates, wo jeder seine Möglichkeiten realisieren kann“. Mit ihrer Studiobrille wirkt Timoschenko wie eine adrette Musterschülerin.
Die Ausnahme-Charismatikerin führt alle Umfragen zu den Präsidentenwahlen am 31. März an. Aktuell bekäme sie 21 Prozent und würde ein dichtes Feld männlicher Bewerber um zehn Prozent deklassieren. Timoschenkos sozialpopulistische Linie ist alt, neu ist das Land. Fast fünf Jahre nach dem Sieg des Maidan-Umsturzes ist das Projekt, ein mehrheitlich russischsprachig-multiethnisches Land in die enge Schablone eines ukrainischen Nationalstaats zu pressen, weit vorangekommen.
Fünf Jahre antirussischer Zensur, Hysterie und Paranoia haben das Denken verbiestert. Seit kurzem ist das Bezwingen des langjährigen Rekordhalters Moldawien offiziell – die Ukraine ist das ärmste Land Europas. Besonders in Polen, wohin ukrainische Armutsmigranten millionenfach strömen, kann man verzweifelte Geschichten hören: etwa die einer Berufsschullehrerin, die ihre zwölfjährige Tochter den ganzen Sommer allein zu Hause ließ, da sie wegen einer Gasrechnung, die so hoch war wie ihr Gehalt, keinen Ausweg mehr wusste. Die „Reformregierung“ hat den früher stark subventionierten Gaspreis auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) erhöht, Timoschenko verspricht, ihn auf die Hälfte zu senken. Wie ihre früheren Gegenspieler Kutschma und Janukowitsch gibt auch der amtierende Präsident Poroschenko ein ideales Objekt für ihre Antikorruptionsparolen ab. Poroschenko und seine Entourage waren sich nicht zu schade, auch noch am Sezessionskrieg mit dem Donbass zu verdienen. Seit dem Aufbringen von drei ukrainischen Marineschiffen durch Russland ist bekannt, dass Poroschenko selbst eine ukrainische Kriegswerft besaß. Er verkaufte sie diesen Herbst. Dem Oberbefehlshaber kann eigentlich nur noch ein Krieg zur Wiederwahl verhelfen. Oder eine Teilabsage der Wahl. Dank des verhängten Kriegszustandes in zehn russischsprachigen Regionen wäre das möglich. 51,4 Prozent der Ukrainer werden Poroschenko „auf keinen Fall wählen“, das Anti-Rating von Timoschenko liegt bei 27,5.
Bei allen äußeren Wandlungen war Timoschenko stets ein Sowjetkind mit sowjetischer Disziplin. Keiner in ihrer Klasse baute die Kalaschnikow so schnell zusammen wie sie. Sie wuchs in einem Dnjepropetrowsker Plattenbau auf. Mit 18, im ersten Semester Wirtschaftskybernetik, heiratete sie in eine Familie der Nomenklatura ein. Mit 28, nach fünf Jahren in der Maschinenbaufirma „Lenin“, machte sie ihr erstes Geschäft auf – eine Videothek. Dort stand sie zwar unter der Aufsicht von Ehemann, Schwiegerpapa und kommunistischem Jugendverband, aber sie hatte als Einzige die angesagten Videos, in denen Freddy Krueger Teenager mit seinen Fingernägeln durchbohrte. Die Saga begann.
Mit 35 firmierte Julia Wladimirowna schon offiziell als Chefin des größten ukrainischen Gasunternehmens. 1996 wurde die „Gasprinzessin“ erstmals ins Parlament gewählt, erst jetzt lernte sie die Amtssprache Ukrainisch. 1999 bis 2001 war sie Vizepremierministerin und überraschte die anderen Gasbarone mit Steuerforderungen. Sie wurde gefeuert, saß einige Wochen und gründete ihre Partei „Vaterland“. Während der unblutigen „Orangen Revolution“ von 2004 brillierte sie als Einpeitscherin. Sie wurde zweimal Ministerpräsidentin, zuletzt von 2007 bis 2010. Sie nannte sich eine „Maschine zum Treffen von Entscheidungen“ und verschärfte die Finanzkrise durch Panik-Aktionismus. Die „situative Politikerin“ fuhr immerzu Kampagnen, wobei der „Bandit“ von gestern schon morgen ihr „Berater“ sein konnte. 2010 fehlten ihr zum Präsidentenamt dreieinhalb Prozent. Wahlsieger Viktor Janukowitsch ließ sie 2011 zu sieben Jahren Haft verurteilen.
Frei kam sie erst an dem Tag, als der Kiewer Maidan triumphierte. Sie hielt dort eine Rede, allerdings hatte niemand auf sie gewartet. Angesichts der 100 Särge, die mit kraftvollem Kirchengesang über den Platz getragen wurden, wirkte sie in ihrem Rollstuhl wie eine Simulantin. Sie zog sich eine Zeitlang aus der Öffentlichkeit zurück. Ihre Partei „Vaterland“ schaffte es nur noch knapp ins Parlament.
Auch seit ihrem Wiederaufstieg wird Timoschenko nicht mehr so geliebt wie einst, 60 Prozent der Ukrainer wollen ganz neue Gesichter. Der Schauspieler Wladimir Selenskij, Darsteller des Präsidenten in der satirischen TV-Serie Diener des Volkes, hat noch nicht einmal seine Kandidatur erklärt, auch so sehen ihn Umfragen schon im zweiten Wahlgang.
Timoschenkos offene Flanke ist, dass sie sich in der Disziplin antirussischer Hetzreden von den meisten Konkurrenten übertreffen ließ. Das Poroschenko-Lager etwa wirft ihr vor, mit ihrer Gaspolitik „die Interessen des Kremls in der Ukraine“ zu unterstützen. Die Wirklichkeit dürfte banaler sein: Timoschenko ist ganz die Alte, nur das Land ist neu.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.