Mitternacht im Zentrum der zentralukrainischen Eisenhüttenstadt Kriwoj Rog. Weißer Dampf oder Rauch entweicht aus Kanaldeckeln und einer brüchigen Betondecke, scharf und melodiös zischend. In dieser Werktagsnacht haben nur Spielautomatenbars geöffnet und die Shisha-Bar Lama Room, in der sich junge Kapuzenträger einnebeln.
Kriwoj Rog, 650.000 Einwohner, ist mehr Agglomeration als Stadt, eine Kette sowjetischer Siedlungen, die sich in der Form eines krummen Horns – daher der Stadtname – an Eisengruben entlang ziehen. Trotz seiner Größe ist Kriwoj Rog nicht einmal Hauptstadt eines Verwaltungsgebietes, das Stahlwerk gehört dem Stahlmulti ArcelorMittal, politische Macht aber hat das Kriwbass-Becken seit Menschengedenken nicht ausgeübt.
Nun aber wählt dieses hoffnungslose Land am 31. März einen Präsidenten. Viele Ukrainer sagen, der Ausgang ist uns egal, in einem halben Jahr kommt sowieso eine Neuwahl oder ein Aufstand oder die Apokalypse. Die bar jeder Vernunft noch hoffen, haben einen Komiker an die Spitze der Umfragen gehievt. Wladimir Selenskij (41) ist von hier. Abgesehen von vier Jahren in der Mongolei, hat er viel Zeit im zentralen „Kiez Nr. 95“ verbracht: Er wohnte im „Murawejnik“, einer spätsowjetischen Reihe 16-stöckiger Plattenbauten, die wegen ihrer Dichte mit der chinesischen Mauer verglichen wird. Zur Schule ging er ins „Gymnasium Nr. 95“, das auch seine Frau und die Kernakteure seiner Comedy-Truppe besuchten. Berühmt wurde er mit einer Show, die wie seine Produktionsfirma das „Kwartal Nr. 95“ im Namen trägt.
Gegen Mittag gehe ich ins „Gymnasium Nr. 95“. Die 14 Schulen des Bezirks proben gerade für einen Kreativwettbewerb, Schülerinnen in Maikäfer-Kostümen scharwenzeln herum. Als ich auftauche, stöhnt das Empfangszimmer: Fast jeden Tag stört ein TV-Team den Unterricht. Da ich der erste ausländische Journalist bin, gewährt mir Vizedirektorin Valentina Petrowna eine Führung. Sie kennt „Wowa“, hat ihn aber nicht selbst unterrichtet. Sogleich ein peinliches Geständnis: Die Schlüssellehrerin des möglicherweise nächsten Präsidenten in Kiew ist nach Kriegsausbruch ins Feindesland übergesiedelt. „Tatjana Iwanowna unterrichtet jetzt in Russland, in Magadan. Sie war nicht zu ersetzen. Ihr Fach, Gesang und Musik, existiert nicht mehr.“
Das 95er-Gymnasium hat 790 Schüler, nach dem Majdan-Umsturz wechselte die Anstalt auf Ukrainisch, aber alle Gespräche, die ich mitanhöre, werden auf Russisch geführt. Valentina Petrowna zeigt mir den ungeheizten Theatersaal, hier brillierte der zwölfjährige Selenskij in Gogols Heirat. In welcher Rolle, das hat sie vergessen. Sie fragt die Lehrerin, die das Stück damals einstudiert hat. „Jaitschniza“, den Exekutor, sagt die alte Kollegin genervt. Und giftet mich an: „Sie interessieren sich nur für Selenskij, nicht für mich?“ Sie nimmt einen Packen Schulhefte und geht demonstrativ ab. Sonst nur Stolz auf den Superstar. Neben jeder Art von darstellender Kunst liebte Wowa Englisch, erfahre ich. Laut Valentina Petrowna rechnete niemand mit einer Schauspielkarriere der kleinen Rampensau: „Wir wussten, sein Vater würde das nicht erlauben. Wowa hat daher was Beinhartes studiert – internationales Recht.“ Der Vater, Hochschullehrer für Kybernetik und Informatik, kommt bis heute immer wieder ins Gymnasium, um künftige Studenten zu gewinnen. Erst als er sah, dass die Gauklerei den Studienerfolg seines Sohnes nicht beeinträchtigte, ließ er die Comedy-Karriere zu.
Ich frage im 95er-Gymnasium nicht, wie sie den Einfluss des Oligarchen Kolomojskij auf Selenskij sehen. Das ist keine Frage, der zweitgrößte Fernsehsender der Ukraine, Kolomojskijs 1+1, strahlt Selenskijs Produktionen aus und promotet seine Kandidatur massiv. Schon die Serie Diener des Volkes – so heißt nun auch Selenskijs Partei – könnte der Vorbereitung der Kandidatur gedient haben. Selenskij ist ein genialischer Parodist, seine Poroschenko-Nummer über einen „einfachen Konditor“, der „wie ein armer Präsident“ leben will, wurde auf Youtube zehn Millionen Mal gesehen, Diener des Volkes ist aber gar holzschnittartig, propagandistisch und naiv gemacht. Seit Kolomojskijs „Privatbank“ zwangsverstaatlicht wurde, hat dieser eine Rechnung mit Petro Poroschenko offen; mit der Wahl Selenskijs oder auch Julia Timoschenkos kann er nur gewinnen.
Mich treibt eine andere Sorge um: Selenskij, dessen Serien einst auch in Russland großen Erfolg hatten, stellte sich 2014 eindeutig auf die Seite der Ukraine und finanzierte Bataillone zur Niederschlagung der Abspaltung im Donbass. Als Kandidat tritt er nun – wie übrigens auch der damalige Warlord Kolomojskij – für Verhandlungen mit den Separatisten ein und für die Rückkehr ukrainischer Soldaten aus dem Separatistengebiet. Ich frage Valentina Iwanowna: „Als Komiker ist er Applaus gewohnt, als Politiker kriegt er keinen. Ist er stark genug, seine Linie gegen größten Widerstand durchzuhalten?“ Sie antwortet: „Aber er ist Kritik gewohnt, viele haben seine Parodien verschiedener Präsidenten verurteilt!“
Sing die Demobilisierung
Zum Krieg sagt sie, dass etwa 15 Väter von Schülern an der Front waren oder seien, die Schule habe den Soldaten Briefe, Zeichnungen und Pakete geschickt, eine Gedenkecke werde geplant. Als ich aufbreche, sehe ich größere Mädchen in grünen Army-Hosen proben. „Ja, bei uns wird auch immer wieder der Weltkrieg nachgespielt“, so Valentina Iwanowna.
Mitternacht im „Kiez Nr. 95“. Der Park, in dem Selenskijs Clique seinerzeit abhing, heißt jetzt „Park der Helden der Antiterroristischen Operation“, und gegenüber vom Gymnasium, im Fleisch- und Karaokeklub Broadway, singen karaokeerprobte junge Frauen. Zunächst Demobilisierung, ein altes wehrkraftzersetzendes Liebeslied aus Russland, dann Schnulzen, die bis auf die Majdan-Hymne Krieger des Lichts, Krieger des Guten alle russischsprachig sind und aus Russland stammen. Vielleicht, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, rufen die singenden Mädels einander immer wieder zu: „Ruhm der Ukraine! Ruhm den Helden!“
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