Es war die aufregendste Nacht meines Lebens, niemals zuvor wurden mir so viele Schlägereien angetragen. Slawjansk im Februar 2015, das war emotionaler Ausnahmezustand: Die Ukraine hatte gerade die Kesselschlacht von Debalzewo verloren, die Währung fiel ins Bodenlose, in diesem Moment schien alles möglich. Würden die prorussischen Separatisten zurückkommen? Würde Slawjansk an Russland angeschlossen oder bei der Ukraine bleiben?
In der Kurstadt Slawjansk begann einst der Krieg um die Ostukraine. Der legendäre Separatistenkommandeur Igor „Strelkow“ Girkin hatte bei der russischen Übernahme der Krim mitgewirkt und wollte dieses Szenario im Donbass wiederholen. So fuhren 52 „grüne Männchen“ ins russische Rostow am Don, marschierten bei Nacht über die Grenze und stiegen in einen Truck der ukrainischen Firma „Neue Post“. Als der Fahrer begriff, welche Kundschaft er aufgeladen hatte, zitterte er am ganzen Leib. Erst jetzt fiel die Wahl des Zielorts auf Slawjansk. Die prorussische Bewegung dort war stark und nicht ganz so unorganisiert wie anderswo. Und ohne unbedeutend zu sein, konnte die mittelgroße Stadt von 52 Bewaffneten gehalten werden.
Schweinebenehmen
Am 12. April 2014 übernahm Strelkow Slawjansk. Die 85 Tage von Slawjansk – so der Titel einer in Moskau erhältlichen Chronik, geschrieben vom russischen Freischärler Aleksandr Schutschkowskij – gingen am 5. Juli 2014 zu Ende. Da zogen Strelkows Leute nach Donezk ab, um die Kräfte zu bündeln. Seitdem wird Slawjansk wieder von der Ukraine kontrolliert.
Fünf Jahre nach den 85 Tagen von einst bin ich wieder in der Stadt und komme um kurz vor acht Uhr morgens am Bahnhof an, der chic umgebaut wurde; grauer griffiger Naturstein, Glas, Holz. Junge Pendler schwingen sich durch mondäne Metallschranken. Die Hauptstraße davor ist frisch asphaltiert, was in der Ukraine einer Sensation gleichkommt. Die ukrainische Soldateska, die damals mit einem Schweinebenehmen herumstreunte, ist nicht mehr zu sehen. Man habe sie „in die Faust genommen“, heißt es. Dreierteams von Polizei und Nationalgarde gehen Patrouille, genau genommen stehen sie an den Kaffeebuden und Imbisshütten herum.
Die Bars meiner aufregenden Nacht von 2015 sind alle zu. Im besten Hotel hat sich die OSZE eingemietet, im zweitbesten die internationale Zivilgesellschaft. Wo am besten gekocht und gesungen wird – beim Georgier –, hört man mehr amerikanisches Englisch als anderswo.
Heute ist Slawjansk stabil ukrainisch. Die Front hält, nichts bewegt sich. Offen zum Ausdruck gebrachte Sympathien für die Separatisten – im Februar 2015 war das verbreitet – registriere ich 2019 keine. Allzu ernüchternd klingen Nachrichten aus der Donezker und Lugansker Volksrepublik. Deren Anführer werden dauernd ausgetauscht oder liquidiert, es gibt weiter Ausgangssperren. Ein hamstergesichtiger Lada-Taxler erzählt mir von einem Schulkollegen, der am 5. Juli 2014 nach Donezk mitgegangen sei: „Ich telefoniere manchmal mit ihm. Er hat deren Armee verlassen, lebt in einer Mietwohnung, fühlt sich isoliert. Bei seinen Eltern hier hätte er’s besser, die haben einen großen Gemüsegarten. Aber zurück kann er nicht.“
Geht man nach dem Ergebnis der ukrainischen Parlamentswahl vom 21. Juli, ist Slawjansk wie eh und je eine russophile Hochburg: In der Gesamtukraine bekamen prorussische Parteien 18, in Slawjansk 66 Prozent und damit spürbar mehr als sonst in dieser Gegend. „Prorussisch“ zu wählen, das bedeutet 2019 freilich etwas anderes als 2014: Die „prorussischen“ Parteien treten nicht für die Abgabe von Territorium an Russland ein, sie fordern nur Frieden. Auch so haben diese Parteien in der heutigen Ukraine den Status unberührbarer Kollaborateure.
Ich fahre auf das Schlachtfeld von 2014 hinaus, in den Weiler Semjonowka. An der Fernstraßen-Kreuzung Charkow-Rostow-Donezk gibt es drei neue Raststätten. Gegenüber die Halbruine des Cafés Meteliza, 2014 die Basis des inzwischen ebenfalls ermordeten Separatisten „Motorola“. Ein Teil der ersten Etage steht noch, ich gehe das ganze Gelände ab. Roter Ziegelschutt, Buckel aus Lehm und Splittern, PET- und Bierflaschen. Nirgends eine Erinnerung, kein Geritze, kein Graffiti, nichts. Gegenüber hat eine Gärtnerei aufgemacht, Schauteich mit Schauschmiedebrücke inklusive.
Ich gehe wieder in die Lisitschansker Straße. Die Busstation ist noch von Einschüssen zersiebt. Die vorderen Häuser waren weitgehend ausgebombt, und obwohl der ukrainische Staat für Zerstörungen ersten Grades nur etwa umgerechnet 300 Euro gab, sind sie renoviert. Die ersten drei Häuser gehören ethnischen Türken, die nach 1992 vor dem Bergkarabach-Krieg flohen, um 2014 an ihrem Zufluchtsort in einen weiteren Krieg zu geraten. Nun arbeiten sie in der Türkei, ihr Blechzaun scheppert im Wind.
Verhärmte Kerle
Fünf Jahre nach den 85 Tagen von Slawjansk treffe ich in Semjonowka auf verhärmte Kerle, denen nicht nach reden ist. Eine Bewohnerin der Lisitschansker Straße, die freimütig erzählt, hat kein gutes Wort für die Separatisten übrig. Abgesehen von dem Schrecken, der sie durchfuhr, als sie eines Morgens auf einen Freischärler stieß, der sich am Brunnen in ihrem Vorgarten wusch, taten sie ihr jedoch nichts an.
Im Buch Die 85 Tage von Slawjansk wird beschrieben, dass „Motorolas“ Separatisten, um die ukrainischen Truppen zu verstören, den Gesang eines Muezzins abspielten. Die Frau bestätigt das zum Teil: „Sie spielten die Internationale von der zerstörten Psychiatrie auf der Anhöhe – die muslimischen Gesänge kamen von weiter her.“ Sie brachte sich während der Gefechte nicht in Sicherheit. „Ich musste unseren großen Gemüsegarten gießen.“ Da die Zerstörungen ihres Hauses zweiten Grades waren, bekam sie von der Ukraine nichts. Sie will nicht klagen, ihr Nachbar jedoch könne sich bis heute nicht beruhigen: „Er wollte sein Auto nicht hergeben, dafür sperrten ihn die Freischärler 40 Tage lang ein. Auch jetzt geht er oft aufs Feld hinaus – und schießt in die Luft.“
Kommentare 5
Der Hinweis auf das Buch "Die 85 Tage von Slawjansk" ist ja tatsächlich sehr interessant. Die beteiligten Terroristen nehmen ja kein Blatt vor den Mund.
Ja, ich bleibe lieber bei der Bezeichnung Terroristen, auch wenn Herr Leidenfrost lieber von Freischärlern spricht. Aber wenn ich z.B. die Geschichte um den LKW Fahrer lese, der die Terroristen nach Slawjansk bringen sollte, dann frage ich mich, warum Herr Leidenfrost sie nicht noch einen Satz weiter erzählt hat?
"An der Grenze fragte Strelkov in Anwesenheit des vor Angst schlotternden Fahrers, die anderen: "Der Fahrer ist einer von uns oder Verbrauchsmaterial?""
Ich glaube es ist klar, was mit Verbrauchsmaterial gemeint ist.
Auch im weiteren Verlauf des Buches ist man nicht kleinlich zu beschreiben, was man von der feigen örtlichen Bevölkerung hält und wie man ohne groß zu fackeln mit Widerstand, nach dem Kriegsrecht, umgegangen ist.
Schade, dass Herr Leidenfrost nicht mehr aus dem Buch gebracht hat. Ich habe zwar erst angefangen zu lesen, aber es räumt ja mehr als gründlich mit Putins Märchen, die auch hier so gerne geglaubt werden, auf.
Aber der hamstergesichtige Taxifahrer, kann man so einem überhaupt trauen, war bestimmt wichtiger.
<<Was wollten die "Separatisten" seinerzeit überhaupt erreichen?>>
Dazu habe ich auch schon einiges in dem oben erwähnten Buch gelesen. Da wird gesagt, dass die Ukrainer die eigentlichen Separatisten sind, welche sich 1991 gesetzeswidrig von Russland getrennt haben. Wobei doch jeder weiß, dass es die Ukrainer als solche gar nicht gibt und sie ein durch die Bolschewiken geschaffenes künstliches Gebilde sind. Folglich ist sie wieder heim ins Reich zu holen.
auch mir: ein rätsel,
warum leidenfrost beim beschreiben der atmosphäre
hier so un-ausgesprochen in der schwebe verbleibt,
statt dem leser be-urteilbare beobachtungen zu liefern,
die soziale/politische/militärische lage zu explizieren.
scheut er den status: zeuge der anklage ?
<<auch mir: ein rätsel,>>
Es ist wahrscheinlich grundsätzlich schwer als Journalist sich von einer gewissen Subjektivität zu lösen. Außerdem "muss" man ja die Erwartungshaltung seiner Leserschaft erfüllen. Diese Leserschaft würde sonst ja bestimmt eine "objektive" Berichterstattung vehement einfordern.
Deshalb freue ich mal über den Kern der Geschichte, dass es auch in Slavjansk wieder vorangeht und die Leute so wie früher wieder friedlich zusammenleben können. Typisch halt für die Ukraine, genau so wie, dass man es selber anpacken muss, ohne auf Hilfe von irgendwo her zu bauen.
Für mich war auch der Verweis auf das Buch "Die 85 Tage von Slawjansk" ein echter Gewinn. Nicht das es literarisch sehr wertvoll wäre, ganz im Gegenteil, aber eher unfreiwillig, zeigt es, dass es ohne die russische Einmischung den Krieg im Donbass nie gegeben hätte.
<<Was wollten die "Separatisten" seinerzeit überhaupt erreichen?>>
In dem Buch wurde noch ein ganz praktischer Grund genannt. Der Überfall auf den Donbass erfolgte in Abstimmung mit dem Chef der Krim, Aksjenov. Man wollte auf diese Weise den Druck von der Krim nehmen, wenn die ukrainischen Streitkräfte und Freiwilligenverbände an einer anderen Stelle in der Ukraine beschäftigt sind. Mit anderen Worten, lasst doch an anderer Stelle die Menschen sterben, damit die Besatzer hier ihre Ruhe haben.