In die Eidgenossenschaft fuhr ich, weil diese dank ihrer lockeren Corona-Maßnahmen neuerdings als das „neue Schweden“ gilt und weil junge Idealisten eine Volksabstimmung darüber durchgesetzt haben, ob Primaten im Kanton Basel-Stadt Grundrechte bekommen sollen. Weil es in Basel das billigste Einzelzimmer war, übernachtete ich in einer Kapsel.
Ich kam aus Österreich, wo sich das Schlechteste aus allen Welten verband – Lockdown, sehr hohe, nur langsam sinkende Fallzahlen, fast hundert Tote täglich –, und hoffte in der Schweiz während des dortigen „Slowdowns“ bei sehr hohen, aber stagnierenden Fallzahlen (fast hundert Tote täglich) ein wenig Freiheit zu schnuppern. Ich überschritt zehnmal die Grenzen von Staaten, die wie Deutschland weitreichende Einreisesperren verhängt hatten. Kontrolliert wurde ich nur ein einziges Mal, von einem Schweizer Zöllner, der mich nach „Waren“ fragte.
Der Kanton Basel-Stadt war gerade in einem Lockdown, Basel-Landschaft mit seinen nahtlos angrenzenden Vorstädten nicht. Das „neue Schweden“ ist ein Buch mit sieben Siegeln. Während die schwer betroffenen französischsprachigen Kantone einen siebenwöchigen Lockdown verhängten, hielten vor allem die deutschsprachigen Kantone, dominiert von der neoliberal-nationalistischen SVP, alles offen. Inzwischen beschlossen einige dieser Kantone eine Vorverlegung der Sperrstunde von 23 auf 21 Uhr, am selben Tag schmiss der Bundesrat die Nerven weg und verordnete eine nationale Sperrstunde ab 19 Uhr. Um in meine Basler Kapsel zu kommen, musste ich an fünf Stellen wechselnde Codes eintippen. Beim vierten Touchscreen versagte das System. Zum Glück war der Besitzer gerade im Haupthaus. Die „digitale Hotellerie“ funktioniert „zu 98 Prozent“, versicherte der Deutsche und sperrte mir die Kapsel auf. In einem fensterlosen Kellerraum befanden sich vier fensterlose Kapseln. Ich kroch rein. Eine Fototapete samt Spiegel evozierte die Illusion, man würde von Sonnenstrahlen gestreichelt unter einer Baumkrone schweben. In Wirklichkeit hatte die Kapsel keine drei Kubikmeter. Für ein Zimmer war das klein, für einen Sarg war das groß.
Ich traf die Leute von der Initiative „Grundrechte für Primaten“ am Basler Bahnhof. Der Zürcher Silvano Lieger (30) und die Baslerin Tamina Graber (31) waren freundliche, bezaubernde, einfühlsame Menschen. Früher hätte man gesagt: schöne Seelen. Sie schlugen vor, am beliebten Basler Zoo vorbeizuspazieren. Er war voller Familien, reingehen wollten sie nicht. Tamina erklärte: „Ich ging als Kind in den Zoo, weil ich Tiere mag, und heute gehe ich nicht gern in den Zoo, weil ich Tiere mag.“ Silvano stimmte zu: „Genau so!“ Wir stellten uns auf eine nahe Straßenbrücke und schauten in ein Gehege. „Java-Affen“ stand dran, diese Gattung musste man erst mal googeln. Es war Silvano, der ein graues Äfflein ausmachte, das auf einem grauen Felsen saß. Ich fragte beide, wie es ihnen bei diesem Anblick erging. „Das kann man nicht vergleichen mit Forschung, wo Verletzungen zugefügt werden“, sagte Silvano. „Für mich ist das im Moment nicht sehr traurig“, so Tamina, „ich habe aber früher im Basler Zoo schon Affen gesehen, die mich traurig gemacht haben.“ Ob der Zoo nach einem Erfolg ihrer Initiative noch Affen halten dürfte, war für sie offen.
Wir gingen nach Basel-Landschaft rüber, fünf Minuten. Silvano wollte koffeinfreien Kaffee mit Hafermilch, die Binninger Filiale der Backkette Suter hatte aber bloß Sojamilch. Beide lebten vegan und hatten in der Werbung gearbeitet, Silvano in Wien, Tamina in München. Sie engagierten sich für die Zürcher NGO Sentience Politics, Silvano als Co-Geschäftsführer, Tamina als Leiterin der Kampagne „Grundrechte für Primaten“. Sentience, das auch eine schweizweite Initiative zur Abschaffung von Massentierhaltung betreibt, kommt „aus der Bewegung des effektiven Altruismus“ und bietet 3,9 spendenfinanzierte Stellen. Ihre Primaten-Initiative wurde schon 2016 eingereicht, erst 2020 ließ das Bundesgericht sie zu. Ende 2021 oder Anfang 2022 stimmt das Basler Volk wohl ab.
Wie von Hopper gemalt
Warum ausgerechnet Basel? Sie erklärten: „Weil es hier Primaten gibt“, weil es „der Pharmahub der Schweiz“, und weil es „eine progressive Stadt“ ist. Zeitungen, die von „Menschenrechten für Affen“ schreiben, liegen „ganz verkehrt“, Sentience fordert bloß einen Halbsatz, „das Recht von nichtmenschlichen Primaten auf Leben und körperliche sowie geistige Unversehrtheit“. Kein Recht auf Autofahren, kein Recht zu heiraten. Silvano: „Das Einzige ist, dass es keine Güterabwägung mehr gibt, wenn ein Tier leidet. Das Argument, das bringt der Menschheit aber so viel, zählt dann nicht mehr.“ Lustig mache man sich nicht über sie, erzählte Tamina, zumindest nicht im linksliberalen Basel. Sie werde höchstens gefragt, „ob Primaten dann abstimmen dürfen“. Dem Primaten erwachsen aus seinen Grundrechten aber keine Pflichten, „er muss keine Steuererklärung abgeben“. Warum Grundrechte nur für Primaten? „Wir Menschen sind Trockennasenaffen“, sagte Tamina, „Primaten sind uns am nächsten“. Silvano ergänzte: „Das Wichtigste ist, dass sie leidensfähig sind.“ – „Aber der Hund leidet auch wie ein Hund.“ – „Natürlich.“ – „Ist das ein Einfallstor, um letztlich Grundrechte für alle Tiere durchzusetzen?“ – „Es stimmt, auch Schweine und Kühe sind leidensfähig, aber da kriegt man ein Problem mit der Landwirtschaft.“ Über Grundrechte für andere Tiere werde man vielleicht „in hundert Jahren“ reden.
Im nächsten Moment stand mir der Mund offen. In Basel-Stadt lebten 300 Primaten, 250 im Zoo, der Rest wohl im Pharmabereich, und laut der vorherrschenden Rechtsmeinung würden Grundrechte nur für die staatliche Sphäre gelten. Die Pharmamultis und der Zoo sind aber privat. Ich: „Moment, kämpft ihr für etwas, wovon vielleicht kein einziger Basler Primat was hat?“ Sie konnten das nicht ausschließen.
Wir wanderten zurück und verabschiedeten uns am Bahnhof. Tamina hatte ihr Fahrrad dort, Silvano seinen Zug. Seine besten Jahre 300 Affen zu weihen, die man nicht kennt und die vielleicht nichts davon haben – so viel Menschlichkeit beeindruckte mich. Tamina hatte mir erzählt, dass ihre Jogging-runde von ihrer Kleinbasler Wohnung durch Deutschland und Frankreich führt. Drei Länder in einer Dreiviertelstunde, echt so nah? Ich fuhr den ganzen Abend mit der Straßenbahn herum.
Plötzlich stand ich in Saint-Louis und flanierte unter Art-déco-Straßenlaternen mit wunderbar warmgelbem Licht. Da man in Frankreich wegen Corona nur mit Passierschein rausdurfte, mutete die Rückkehr in die Schweiz wie eine Erlösung an. Ich ging durchs Grenzviertel Santihans. Mächtige weiße Wolken stoben aus einem Schlot dem Vollmond entgegen. Hallen und Türme von Novartis, vor allem aber die Hallen des 1869 hier gegründeten Fleischkonzerns Bell. Beim geschlossenen „Brutzelwagen“ die landestypischen Verbotsschilder, auf Deutsch und Französisch. Im Halbdunkel der langen Kantine oben saßen noch Arbeiter, alle von sichtbar außereuropäischer Herkunft. Industrie, Entfremdung, gewaltige Abstände zwischen den Menschen – das war wie von Edward Hopper gemalt.
Ich fuhr noch einmal nach Binningen, Basel-Landschaft, und setzte mich in eine Jukebox-Musikbar. Sie war gut mit alten weißen Männern gefüllt, so spät am Abend wäre das nicht einmal mehr in Schweden erlaubt. Das ersehnte Befreiungsgefühl blieb freilich aus: Da man sich im zehnten Corona-Monat nicht noch schnell anstecken will, saß ich allein in der Lokalmitte, mit weißem Sweater und weißer Maske vor der weißen Contact-Tracing-Liste, und nippte in müder Selbstversunkenheit an einer Vieille Prune. Die Barfrau mit der schattig humanistischen Augenpartie streifte einmal kurz meine Schulter. Diese jähe Nähe – so sehr hat mich die Pandemie schon deformiert – schockierte mich.
Ich legte mich zum Schlafen in die Kapsel. Der schauerlichste Moment war, als ich die Schiebetür von innen zuziehen musste. Leise surrte die Lüftung. Ich überlegte, wie lange der Sauerstoff im Fall eines Systemversagens ausreicht und ob das hier nicht irgendwo eine Metapher ist für unser eingekapseltes Leben. Die Luft blieb aber frisch. Ich gelangte am Morgen ins Freie.
Kommentare 10
das kapsel-schlafen/-leben überlebt,
den höchst-möglichen kontakt mit dem erlaubt-verbliebenen gemacht,
die leser unterhalten:
was in diesen zeiten will man mehr?
Spät entdeckt, diese kleine Text-Perle.
Ich finde die beschriebene Initiative löblich. Leider nicht konsequent genug: die Einführung von Grundrechten für Affen sollte mit der Aberkennung bei Menschen einhergehen.
Wäre eine Berechtigung für eine Grundrecht-Reife für Menschen notwendig, könnten sie (die Grundrechte) eingedampft werden. Was, sie werden das schon?
Schrieb nicht mal jemand vor kurzem über den "Aufstand der Tiere"?
Auf die Poesie in diesen unpoetischen Zeiten. Und die Tiere. Wer Menschen richtig kennt, muss Tiere lieben.
An einem klebe ich noch:
Wie bitte sieht eine "schattig humanistische Augenpartie" aus???
(Wegen dem Bild:) Ist das hier die Rubrik, wo man sich lustige Bildtexte ausdenken kann?
„Die Barfrau mit der schattig humanistischen Augenpartie„
Hm, wie muss man sich das denn genau vorstellen? Ich konnte Töne manchmal riechen. Aber nur nach Einnahme psychotroper Substanzen. Die Schweiden sind grundsätzlich ein höflich-distzanziertes Völkchen, mit Betonung auf distanziert. Auch ohne Corona sind sie, ja, eben: distanziert. Insofern kommt ihnen Corona da sehr entgegen: Da müssen sie endlich nicht mehr mit irgend jemandem interagieren. Sauber ist es auch überall. Immer. Darauf sind wir Schweiden sehr stolz! Überall auf der Welt ist es demnach dreckig, nur in Schweiden nicht. Diese klinisch-sterile Sauberkeit kann Fremde manchmal etwas irritieren. Sie ist ein wesentlicher Bestandteil unserer Mentalität. Hygiene ist uns Schweiden sehr wichtig. Alles muss immer, immer, immer! blitzblanksauber sein! Ähnlichkeiten mit zwanghaftem Verhalten sind rein zufällig. Unsere Psychiatrien sind bisweilen gross wie Dörfer. Das ist kein Zufall. Ja, so sind sie, die Schweiden. Viele Deutsche mögend das offenbar sehr. Sie kommen gerne zu uns. Auch wegen der pittoresken Chueli auf den vielen Weiden. Und der Alpen natürlich. Und überhaupt. Schweiden ist in der Tat ein sehr schönes Land. Sehr gepflegt. Die Menschen sind vielleicht manchmal etwas skurril. Und ziemlich rechts, vor allem zur Mitte des Landes hin. Selbst Deutsche werden da manchmal zur Zielscheibe von Fremdenhass. Erstaunlich: Die sind ja auch weiss! Nur Jodeln können sie nicht. Aber damit muss man sich arrangieren.
Anmerkung: Schweiz + Schweden = Schweiden
Es gibt ein Leben ohne Jodeln.
Holladihü.
Ja, und in Deutschland wurde ich im grenznahen Bereich sogar einmal als „Scheiss Ausländer“ bezeichnet. Beim Überqueren der Strasse. Von einer Mercedesfahrerin. Wahrscheinlich weil ich Jodeln kann. Oder zumindest, weil sie insgeheim vermutet hat, dass ich Jodeln könnte (Konjunktiv), als sie mich zum Zebrastreifen abbiegen sah. Was natürlich nicht stimmt. Und selbst wenn ich tatsächlich Jodeln könnte- was zum Teufel hat diese Frau eigentlich dazu veranlasst, mich als „Scheiss Ausländer“ zu bezeichnen? Die konnte doch noch nicht einmal Jodeln! Weil sie Deutsche ist und ich nicht. Darum kann ich ja Jodeln, ganz einfach.
Ich hoffe, Sie nehmen mein aufrichtiges Bedauern für diese prä-traumatische Erfahrung an.
Bedauerlicherweise bin ich Deutscher und habe schon in den 1960er Jahren in einer westdeutschen Kleinstadt erfahren, was es bedeutet, ANDERS zu sein. Postfaschistische Gesellen wollten mich "rüber" schicken - in die DDR. Die ganz Eifrigen wünschten mich in eine - bereits stillgelegte Gaskammer - des Föhrers.
Rückblickend bin ich voller Dank für diese Erfahrungen. Sie haben dafür gesorgt, "zu werden, wer ich bin" (Klaus Hoffmann). Meine Werte habe ich mir bewahrt.
(+7 ist der zeitliche Umrechnungsfaktor zu Ihnen auf die Ph.? Möge Sie der Schlaf umhüllen und mein Text bei der Morgensonne des Frühsommers erreichen.)
^.^
Nein.
Hier gilt: Rettet dem Dativ.
Ich war damals nicht einmal sonderlich schockiert. Aber perplex. So etwas hatte ich so in dieser unverhohlenen Form nie erwartet! Die Fremdenfeidlichkeit gegen Deutsche in der Schweiz nahm ich von dem Tag an bewusst wahr, als ich einen BMW mit deutschen Kennzeichen am Strassenrand parkiert sah. Gleich beide Rückspiegel mit Gewalt abgerissen. Was wohl als nächstes kommt, habe ich mich damals gefragt. Das hat mich sehr betroffen gemacht! Und was meine dunkelhäutige Frau anbelangt: Dieser Hass ist wirklich unglaublich! Einmal hat eine weisse Frau vor meiner Ehefrau verächtlich auf den Boden gespuckt- mitten auf einem Bahnhof und nach einer rassistischen Fluchtirade, nota bene. Jaja, das gute, heilige, weibliche Geschlecht. Die wäre bei mir... gut, besser nicht. Die Hälfte aller rassistischen Ausfälle, die ja zum Glück nicht die Regel waren (alle Jahre ein paar Mal) kam übrigens von Frauen. Zum Glück habe ich so etwas selber nie mit bekommen.
Zu Ihnen: Normalität? Das kann ich Ihnen sehr gut nach empfinden. Normalität hat für mich als Referenzwert, als anzustrebendes Ideal, vollkommen ausgedient. Sie ist mir egal. Leider habe ich fast ein ganzes Leben lang versucht, normal zu sein. Ein aussichtsloses Unterfangen, a waste of time. Erst mit 52 Jahren, genauer: einen Tag vor meinem 52. Geburtstag habe ich herausgefunden, woran ich mich die ganze Zeit lang abgekämpft habe. Der unsichtbare Feind, er war in mir drinnen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Kurz danach bin ich ausgewandert. ADD (Attention Deficit Disorder) weiss ich nun als unschätzbaren Vorteil an den Finanzmärkten zu nutzen. Das Ergebnis lässt sich sehen! Mein Sozialverhalten spielt beim Traden keine Rolle mehr. Da gibt es nur noch Buy or Sell. So einfach ist meine Welt geworden ;-) Soziale Kontakte habe ich auf ein Minimum reduziert. Zu viel Reibung, zu viel Energieverlust = Stress = schlechte Anlageentscheidungen = weniger Money and Chicks for free...
Ja, 7 Stunden: Frohe Weihnachten & einen guten Rutsch ins neue Jahr wünsche ich Ihnen!