Slowdown statt Lockdown

Schweiz Ein Besuch im „neuen Schweden“ der Corona-Pandemie, wo eine Initiative für die Grundrechte von Affen kämpft
Ausgabe 51/2020
Kandidat für Grundrechte (links) betrachtet Inhaberin derselben
Kandidat für Grundrechte (links) betrachtet Inhaberin derselben

Foto: Fabrice Coffrini/AFP/Getty Images

In die Eidgenossenschaft fuhr ich, weil diese dank ihrer lockeren Corona-Maßnahmen neuerdings als das „neue Schweden“ gilt und weil junge Idealisten eine Volksabstimmung darüber durchgesetzt haben, ob Primaten im Kanton Basel-Stadt Grundrechte bekommen sollen. Weil es in Basel das billigste Einzelzimmer war, übernachtete ich in einer Kapsel.

Ich kam aus Österreich, wo sich das Schlechteste aus allen Welten verband – Lockdown, sehr hohe, nur langsam sinkende Fallzahlen, fast hundert Tote täglich –, und hoffte in der Schweiz während des dortigen „Slowdowns“ bei sehr hohen, aber stagnierenden Fallzahlen (fast hundert Tote täglich) ein wenig Freiheit zu schnuppern. Ich überschritt zehnmal die Grenzen von Staaten, die wie Deutschland weitreichende Einreisesperren verhängt hatten. Kontrolliert wurde ich nur ein einziges Mal, von einem Schweizer Zöllner, der mich nach „Waren“ fragte.

Der Kanton Basel-Stadt war gerade in einem Lockdown, Basel-Landschaft mit seinen nahtlos angrenzenden Vorstädten nicht. Das „neue Schweden“ ist ein Buch mit sieben Siegeln. Während die schwer betroffenen französischsprachigen Kantone einen siebenwöchigen Lockdown verhängten, hielten vor allem die deutschsprachigen Kantone, dominiert von der neoliberal-nationalistischen SVP, alles offen. Inzwischen beschlossen einige dieser Kantone eine Vorverlegung der Sperrstunde von 23 auf 21 Uhr, am selben Tag schmiss der Bundesrat die Nerven weg und verordnete eine nationale Sperrstunde ab 19 Uhr. Um in meine Basler Kapsel zu kommen, musste ich an fünf Stellen wechselnde Codes eintippen. Beim vierten Touchscreen versagte das System. Zum Glück war der Besitzer gerade im Haupthaus. Die „digitale Hotellerie“ funktioniert „zu 98 Prozent“, versicherte der Deutsche und sperrte mir die Kapsel auf. In einem fensterlosen Kellerraum befanden sich vier fensterlose Kapseln. Ich kroch rein. Eine Fototapete samt Spiegel evozierte die Illusion, man würde von Sonnenstrahlen gestreichelt unter einer Baumkrone schweben. In Wirklichkeit hatte die Kapsel keine drei Kubikmeter. Für ein Zimmer war das klein, für einen Sarg war das groß.

Ich traf die Leute von der Initiative „Grundrechte für Primaten“ am Basler Bahnhof. Der Zürcher Silvano Lieger (30) und die Baslerin Tamina Graber (31) waren freundliche, bezaubernde, einfühlsame Menschen. Früher hätte man gesagt: schöne Seelen. Sie schlugen vor, am beliebten Basler Zoo vorbeizuspazieren. Er war voller Familien, reingehen wollten sie nicht. Tamina erklärte: „Ich ging als Kind in den Zoo, weil ich Tiere mag, und heute gehe ich nicht gern in den Zoo, weil ich Tiere mag.“ Silvano stimmte zu: „Genau so!“ Wir stellten uns auf eine nahe Straßenbrücke und schauten in ein Gehege. „Java-Affen“ stand dran, diese Gattung musste man erst mal googeln. Es war Silvano, der ein graues Äfflein ausmachte, das auf einem grauen Felsen saß. Ich fragte beide, wie es ihnen bei diesem Anblick erging. „Das kann man nicht vergleichen mit Forschung, wo Verletzungen zugefügt werden“, sagte Silvano. „Für mich ist das im Moment nicht sehr traurig“, so Tamina, „ich habe aber früher im Basler Zoo schon Affen gesehen, die mich traurig gemacht haben.“ Ob der Zoo nach einem Erfolg ihrer Initiative noch Affen halten dürfte, war für sie offen.

Wir gingen nach Basel-Landschaft rüber, fünf Minuten. Silvano wollte koffeinfreien Kaffee mit Hafermilch, die Binninger Filiale der Backkette Suter hatte aber bloß Sojamilch. Beide lebten vegan und hatten in der Werbung gearbeitet, Silvano in Wien, Tamina in München. Sie engagierten sich für die Zürcher NGO Sentience Politics, Silvano als Co-Geschäftsführer, Tamina als Leiterin der Kampagne „Grundrechte für Primaten“. Sentience, das auch eine schweizweite Initiative zur Abschaffung von Massentierhaltung betreibt, kommt „aus der Bewegung des effektiven Altruismus“ und bietet 3,9 spendenfinanzierte Stellen. Ihre Primaten-Initiative wurde schon 2016 eingereicht, erst 2020 ließ das Bundesgericht sie zu. Ende 2021 oder Anfang 2022 stimmt das Basler Volk wohl ab.

Wie von Hopper gemalt

Warum ausgerechnet Basel? Sie erklärten: „Weil es hier Primaten gibt“, weil es „der Pharmahub der Schweiz“, und weil es „eine progressive Stadt“ ist. Zeitungen, die von „Menschenrechten für Affen“ schreiben, liegen „ganz verkehrt“, Sentience fordert bloß einen Halbsatz, „das Recht von nichtmenschlichen Primaten auf Leben und körperliche sowie geistige Unversehrtheit“. Kein Recht auf Autofahren, kein Recht zu heiraten. Silvano: „Das Einzige ist, dass es keine Güterabwägung mehr gibt, wenn ein Tier leidet. Das Argument, das bringt der Menschheit aber so viel, zählt dann nicht mehr.“ Lustig mache man sich nicht über sie, erzählte Tamina, zumindest nicht im linksliberalen Basel. Sie werde höchstens gefragt, „ob Primaten dann abstimmen dürfen“. Dem Primaten erwachsen aus seinen Grundrechten aber keine Pflichten, „er muss keine Steuererklärung abgeben“. Warum Grundrechte nur für Primaten? „Wir Menschen sind Trockennasenaffen“, sagte Tamina, „Primaten sind uns am nächsten“. Silvano ergänzte: „Das Wichtigste ist, dass sie leidensfähig sind.“ – „Aber der Hund leidet auch wie ein Hund.“ – „Natürlich.“ – „Ist das ein Einfallstor, um letztlich Grundrechte für alle Tiere durchzusetzen?“ – „Es stimmt, auch Schweine und Kühe sind leidensfähig, aber da kriegt man ein Problem mit der Landwirtschaft.“ Über Grundrechte für andere Tiere werde man vielleicht „in hundert Jahren“ reden.

Im nächsten Moment stand mir der Mund offen. In Basel-Stadt lebten 300 Primaten, 250 im Zoo, der Rest wohl im Pharmabereich, und laut der vorherrschenden Rechtsmeinung würden Grundrechte nur für die staatliche Sphäre gelten. Die Pharmamultis und der Zoo sind aber privat. Ich: „Moment, kämpft ihr für etwas, wovon vielleicht kein einziger Basler Primat was hat?“ Sie konnten das nicht ausschließen.

Wir wanderten zurück und verabschiedeten uns am Bahnhof. Tamina hatte ihr Fahrrad dort, Silvano seinen Zug. Seine besten Jahre 300 Affen zu weihen, die man nicht kennt und die vielleicht nichts davon haben – so viel Menschlichkeit beeindruckte mich. Tamina hatte mir erzählt, dass ihre Jogging-runde von ihrer Kleinbasler Wohnung durch Deutschland und Frankreich führt. Drei Länder in einer Dreiviertelstunde, echt so nah? Ich fuhr den ganzen Abend mit der Straßenbahn herum.

Plötzlich stand ich in Saint-Louis und flanierte unter Art-déco-Straßenlaternen mit wunderbar warmgelbem Licht. Da man in Frankreich wegen Corona nur mit Passierschein rausdurfte, mutete die Rückkehr in die Schweiz wie eine Erlösung an. Ich ging durchs Grenzviertel Santihans. Mächtige weiße Wolken stoben aus einem Schlot dem Vollmond entgegen. Hallen und Türme von Novartis, vor allem aber die Hallen des 1869 hier gegründeten Fleischkonzerns Bell. Beim geschlossenen „Brutzelwagen“ die landestypischen Verbotsschilder, auf Deutsch und Französisch. Im Halbdunkel der langen Kantine oben saßen noch Arbeiter, alle von sichtbar außereuropäischer Herkunft. Industrie, Entfremdung, gewaltige Abstände zwischen den Menschen – das war wie von Edward Hopper gemalt.

Ich fuhr noch einmal nach Binningen, Basel-Landschaft, und setzte mich in eine Jukebox-Musikbar. Sie war gut mit alten weißen Männern gefüllt, so spät am Abend wäre das nicht einmal mehr in Schweden erlaubt. Das ersehnte Befreiungsgefühl blieb freilich aus: Da man sich im zehnten Corona-Monat nicht noch schnell anstecken will, saß ich allein in der Lokalmitte, mit weißem Sweater und weißer Maske vor der weißen Contact-Tracing-Liste, und nippte in müder Selbstversunkenheit an einer Vieille Prune. Die Barfrau mit der schattig humanistischen Augenpartie streifte einmal kurz meine Schulter. Diese jähe Nähe – so sehr hat mich die Pandemie schon deformiert – schockierte mich.

Ich legte mich zum Schlafen in die Kapsel. Der schauerlichste Moment war, als ich die Schiebetür von innen zuziehen musste. Leise surrte die Lüftung. Ich überlegte, wie lange der Sauerstoff im Fall eines Systemversagens ausreicht und ob das hier nicht irgendwo eine Metapher ist für unser eingekapseltes Leben. Die Luft blieb aber frisch. Ich gelangte am Morgen ins Freie.

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