1993: Wörter als Brandsatz

Zeitgeschichte Mit einer beispiellosen Hetzkampagne gegen Migranten sorgten CDU, CSU und Springer dafür, dass vor 25 Jahren das Grundrecht auf Asyl de facto abgeschafft wurde
Ausgabe 22/2018
Acht Jahre zuvor warnte Franz Josef Strauß vor dem Zuzug von „Kanaken“
Acht Jahre zuvor warnte Franz Josef Strauß vor dem Zuzug von „Kanaken“

Foto: Tillmann Pressefotos/Imago

Es ist ein Wort, das eine zeitlang allgegenwärtig war: Asylant. Im Duden taucht es ab 1980 auf, dem Jahr, in dem in der Türkei der Militärputsch stattfand. Der Begriff ist untrennbar verbunden mit der Asyldebatte der frühen neunziger Jahre, die der Freiburger Historiker Ulrich Herbert als eine der schärfsten und folgenreichsten innenpolitischen Auseinandersetzungen in der Geschichte der Bundesrepublik beschreibt. Sie endete vor 25 Jahren, als eine ganz große Koalition aus Union, FDP und SPD das Grundgesetz änderte und das Grundrecht auf Asyl massiv einschränkte. Sukzessive verschwand danach auch der „Asylant“ aus dem Sprachrepertoire des Bundestags und der Medien.

Hört man das Wort heute auf der Straße oder liest man es in den Kommentarspalten, kommen die Erinnerungen hoch: an Wahlkampfplakate, die gegen „Scheinasylanten“ Stimmung machten, an Titelschlagzeilen von Bild und Welt, die vor einer „Asylantenschwemme“ oder „Asylantenflut“ warnten und damit die Anti-Asyl-Kampagne von CDU und CSU orchestrierten. Es sind Sprachbilder, in denen Menschen mit Naturkatastrophen gleichgesetzt werden und Worte wie Brandsätze. Der Sprachwissenschaftler Jürgen Link spricht von einem Kill-Wort. Jeden Tag konnte man Anfang der neunziger Jahre Zeitungsberichte über Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte lesen oder über Horden von Naziskins, die Jagd auf Ausländer machten. Man denkt an die türkischen und griechischen Schulfreunde, die nach dem Unterricht direkt nach Hause fuhren, weil Bahnhöfe, Regionalzüge, Tankstellen und Parkplätze sobald es dunkel wurde, gefährliche Orte geworden waren, nicht nur im Osten der Republik. Die Glatzen, die Bomberjacken, die Baseballschläger, die Springerstiefel mit Stahlkappe, die auf dem Asphalt hallten. Traf man auf sie, ging der Blick sofort nach unten, an der Farbe ihrer Schnürsenkel glaubte man, die Gefahr ablesen zu können. Waren sie weiß, stieg die Angst. Amadeo Antonio Kiowa gilt als eines der ersten Todesopfer dieser Welle rechtsextremer Gewalttaten. Am 24. November 1990 wird der angolanische Vertragsarbeiter in Eberswalde von einer Gruppe Naziskins angegriffen, als er am Boden liegt, springt ihm einer der Täter mit beiden Füßen auf den Kopf, elf Tage später stirbt er an den Verletzungen.

Die Asyldebatte begann ein Jahrzehnt früher. Schon in seiner ersten Regierungserklärung machte Kanzler Helmut Kohl die Ausländerpolitik zum Thema, da war bereits vom Missbrauch des Asyls die Rede. Ohne eine Änderung des Asylgrundrechts werde Deutschland „bald die Kanaken“ im Land haben, sagte Bayerns CSU-Ministerpräsident Franz Josef Strauß 1985. Zum Bundestagswahlkampf 1987 stand die Forderung, das Grundrecht auf Asyl zu ändern, endgültig auf der Agenda von CDU und CSU, die zahlreichen Verschärfungen im Asylverfahrensrecht, die sie bis dahin eingeführt worden waren, reichten ihnen nicht. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, dieser Satz steht im Grundgesetz, der SPD-Politiker Carlo Schmid hat ihn 1948 formuliert, auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Nationalsozialismus, als weltweit eine halbe Million Flüchtlinge aus Deutschland Asyl fanden. Für eine Grundrechtsänderung braucht es eine Zweidrittelmehrheit im Parlament, die mitregierende FDP und die Oppositionsparteien SPD und Grüne waren lange nicht bereit, dem zuzustimmen. CDU und CSU initiierten daraufhin eine regelrechte Kampagne gegen Artikel 16 des Grundgesetzes und erhöhten den Druck, vor allem auf die SPD.

Pogromstimmung im Land

Bei dem, was ab 1990 begann, als die Zahl der Asylbewerber durch sogenannte Ostblockflüchtlinge und den Jugoslawien-Krieg sprunghaft anstieg, noch von einer Debatte zu sprechen, grenzt an Euphemismus, es war schlicht Hetze. Von politisch Verfolgten war nicht mehr die Rede, es schien nur noch „Asylschmarotzer“ und „Asylbetrüger“ zu geben, die Folter in türkischen Gefängnissen, die Angriffe vor denen Sinti und Roma aus Rumänien spielten keine Rolle mehr. Im August 1991 forderte der bayerische Inneminister Edmund Stoiber, aus dem Asylgrundrecht „eine Art Gnadenrecht“ zu machen. Im September 1991 verschickte der damalige CDU- Generalsekretär Volker Rühe ein Rundschreiben an alle Fraktionsvorsitzenden seiner Partei, in dem er dazu aufforderte, in Stadträten, Landtagen und Bürgerschaften „die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern“. Beigelegt waren Mustervorlagen für Presseerklärungen und Anfragen, zum Beispiel wie viele Kindergartenplätze von dem Geld eingerichtet werden könnten, das für Asylbewerber ausgegeben wurde. Im gleichen Monat gab es die Ausschreitungen in Hoyerswerda, tagelang griffen Neonazis ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und Geflüchtete an, warfen Molotow-Cocktails und Steine und attackierten die Bewohner – das alles unter dem Applaus einer johlenden Menge. Anfang Oktober wurde im nordrhein-westfälischen Hönxte ein Anschlag auf ein Asylbewerberheim verübt, zwei libanesische Kinder erlitten schwerste Verbrennungen. Es herrschte Pogromstimmung im Land, Unionspolitiker befeuerten sie im Schulterschluss mit der Springerpresse weiter, auch der Spiegel sprang auf. Mit Erfolg, bei einer Umfrage im Februar 1992 sprachen sich 74 Prozent der Befragten für eine Asylrechtsänderung aus. Im August kam es in Rostock zu den größten rassistischen Ausschreitungen der Nachkriegszeit, dass es keine Toten gab, grenzte an ein Wunder. Der damalige CDU-Innenminister Rudolf Seiters zog aus dem Pogrom das Fazit: „Wir müssen handeln gegen den Missbrauch des Asylrechts.“ Nicht der Hass der Täter wurde zum Problem erklärt, sondern die Opfer des Hasses. Dazu passte, dass sich Politiker immer wieder auf den „Volkszorn“ beriefen, wenn es um die Änderung des Asylrechts ging. Als makabere Konsequenz aus der Welle rassistischer Gewalt machte die SPD den Weg frei für die De-Facto-Abschaffung des Asylrechts. Ausgerechnet an dem Tag, an dem die Parteispitze ihre „Petersburger Beschlüsse“ fasste, flogen in Rostock-Lichtenhagen die ersten Steine auf die zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber. Initiiert wurde die asylpolitische Wende der SPD von Parteichef Björn Engholm und Oskar Lafontaine, im Gegenzug für die Asylrechtsänderung forderten sie ein Einwanderungsgesetz. Auf dem Sonderparteitag am 16. November reckten Jusos Plakate mit der Aufschrift „Auch Willy Brandt war Asylant – Finger weg vom Grundrecht“ in die Höhe, der Protest nutzte nichts, eine Mehrheit votierte für den neuen Kurs. Eine Woche später setzten Neonazis mit Molotowcocktails zwei Häuser in Mölln in Brand. Eine türkische Frau und ihre beiden Enkelinnen sterben. Neun weitere Menschen erlitten teils schwere Verletzungen.

Kurz darauf, am 6. Dezember, verständigten sich die Spitzen von Union, SPD und FDP auf den sogenannten Asylkompromiss. Die Begrenzung der Zuwanderung wird in ihrer Vereinbarung als Beitrag zum „inneren Frieden“ gewertet. Ein Einwanderungsgesetz gibt es bis heute nicht, die Grundgesetzänderung kam schnell. Am 26. Mai 1993 wurde sie mit 521 gegen 132 Stimmen verabschiedet, die Fraktionen von PDS und Grünen stimmten geschlossen dagegen. „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, der Satz blieb stehen, aber durch Ergänzungen entwertet. Asyl sollte niemand mehr bekommen, der über einen „sicheren Drittstaat“ einreist oder aus einem „sicheren Herkunftsland“ kommt. Die Konsequenzen dieser Politik, die sich europaweit im Dublin-Verfahren durchsetzte, tragen Italien und Griechenland. Am 29. Mai, drei Tage nach der Asylrechtsänderung, die den Rechtsextremen „das Wasser abgraben“ sollte, verübten Neonazis einen Brandanschlag in Solingen. Die 27-jährige Gürsün İnce , Hatice Genç, 18 Jahre alt, Gülüstan Öztürk, zwölf Jahre alt, Hülya Genç, neun Jahre alt und die vierjährige Saime Genç starben, 17 weitere Menschen erlitten zum Teil lebensgefährliche Verletzungen. Bundeskanzler Kohl nahm weder in Mölln noch in Solingen an der Trauerfeier teil. Man wolle schließlich nicht in „Beileidstourismus ausbrechen“, richtete ein Sprecher aus.

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