"... weil ich keine Angst mehr haben will..."

Paris 11.Januar 2015 Gedanken zum "Marsch der Millionen" in der "Hauptstadt der Welt". Trauermarsch, Rausch der grossen Zahl, die drei Werte der französischen Revolution und Anders Brevik.

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"... weil ich keine Angst mehr haben will..."

Gedanken zum "Marsch der Millionen" in der "Hauptstadt der Welt"

am 11. Januar 2015

  • es war ein Trauermarsch,
  • es war ein historischer Tag,
  • Millionen fühlten sich stark,
  • Je suis Juif, je suis musulman, je suis chrétien, je suisCharlie!
  • Netanyahu und Abbas in einer Reihe – das lässt hoffen,
  • es geht um alle drei Ziele der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit,
  • Dreieinhalb Millionen trauern um 17 Todesopfer, wie viel Millionen trauern um 77 Opfer
  • Es geht um Gewalt überhaupt und um Gewaltlosigkeit!
  • Und dann bleibt da noch das Recht auf Satire!


Ganz sicher: es war ein historischer Tag. Nie zuvor in der Geschichte Frankreichs waren so viele Menschen auf einer Demonstration: 1,5 Millionen in der Hauptstadt und weitere 2 Millionen in verschiedenen anderen Orten.

Man kann unterstellen, dass vermutlich (selbst unter Berücksichtigung der niedrigeren Einwohnerzahl) zu Zeiten der Pariser Kommune oder der französischen Revolution nicht so viele Menschen sich unter freiem Himmel zusammengefunden haben.

Geplant war ein Trauermarsch.

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Am selben Wochenende als dieses geschichtliche Ereignis im Nachbarland stattfand, hatte ich die Aufgabe an der Urne einer jüngst verstorbenen Freundin, die seit ihrer frühesten Jugend Mitglied in "ihrer Partei" war, die Trauerrede zu halten. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist unfassbar, Trost ist kaum möglich, Schmerz, unvorstellbarer Schmerz für den Ehemann, die Kinder und die engsten Freunde. Das habe ich an diesem Wochenende erlebt, das hat auch mich als Freund der Verstorbenen körperlich total erschöpft.

Deshalb steht für mich an erster Stelle, wenn ich über den "Marsch der Millionen" nachdenke, dass in Frankreich wohl in der Tat der größte Trauermarsch in der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat.

Dementsprechend und völlig angemessen sind viele Tränen geflossen. Aber eben nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch Tränen der Angst. Denn die Opfer von Paris sind ja nicht an Krebs gestorben oder an Altersschwäche sondern ermordet worden.

Von den vielen Motiven, die das Fernsehen in seiner Liveübertragung zu mir nach Hause meldeten, hat mich am meisten nachdenklich gemacht eine Frau, die ins Mikrofon auf die Frage, warum sie heute auf die Straße gegangen sei, antwortete: "... weil ich nicht mehr Angst haben will!".

Natürlich gab es die unterschiedlichsten Motive für die 40 Regierungschefs aus aller Welt wie für die dreieinhalb Millionen dorthin zu gehen.

  • Trauer,
  • Wut,
  • Angst,
  • Solidarität,
  • Empathie,
  • für ganz viele sicherlich Verteidigung des Rechts der Satire, Witze über andere zu machen andere auch mit Wort und Bild verletzen zu dürfen, das worauf absurderweise in diesen Stunden die Meinung und die Pressefreiheit reduziert wurde. (Aber dazu später). Und
  • manche mögen sicher einfach auch nur auf die Straße gegangen sein, um das Spektakel zu erleben.

Wir sind viele, wir sind stark!

Wer sich, wie ich, mehrere Stunden diesen Marsch am Bildschirm anschaute und die vielen Interviews hörte, auch die Stimmung der Reporterinnen und Reporter wahrnahm, der konnte sich der Suggestion dieses Massenaufmarsch nicht entziehen.

Es ist ganz offensichtlich: es gibt einen Rausch der großen Zahl. Etwas, was (auch!) Diktatoren zu allen Zeiten zu nutzen wussten, von der römischen Kultur der "Brot und Spiele" bis hin zu Goebbels' Sportpalast.

Ohne Gleichsetzungszeichen gehören hier natürlich auch die Fackelzüge der FDJ, die Mai- Kundgebungen und Militärparaden auf dem Roten Platz und auch Castros stundenlange Ansprachen von 100.000 Menschen in Havanna dazu.

Diesmal waren es keine von einer Diktatur manipulierten, sondern offenkundig Bedürfnis und freier Wille sich mit seinen Empfindungen mit ganz vielen anderen zusammen zu tun. Das ist doch per se nicht schlecht!

In einer Zeit der Vereinzelung, der unaufhaltsamen Individualisierung, der Auflösung der Bindekräfte von Organisationen, seien es Parteien, Gewerkschaften oder Religionen, gibt es eine tiefe Sehnsucht der individualisierten verschiedenen nach Gleichklang.

So wie am Sonntag in Paris stelle ich mir den Marsch der Millionen vor, dereinst, wenn es nicht mehr GEGEN etwas geht und oder um Distanzierung, sondern FÜR eine moderne Umsetzung von Freiheit Gleichheit und Geschwisterlichkeit, also eine solidarische Gesellschaft geht.

Das Wort Solidarität fiel an diesem Sonntag sehr häufig, und es war sicher nicht nur die Solidarität mit den Mordopfern und ihren Angehörigen.

Vielleicht ist der greifbare Erfolg des Marsches der Millionen für eine Zukunft in Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit und ökologischer Versöhnung mit der Natur, dass neben dem obligatorischen: "je suis Charlie", eben auch die dringend notwendige Erweiterung auf vielen handgemalten Transparenten wie auf großen Videotafeln erschien:

Je suis Juif, je suis musulman, je suis chrétien, je suisCharlie!

Ich bin Jude, ich bin Moslem, ich bin Christ, ich bin Charlie, ein respektloser Satiriker!

Weil ich der festen Überzeugung bin, dass der Satz, den die damalige EKD-Vorsitzende Margot Kässmann und drei Jahre - später unabhängig von ihr - Papst Franziskus prägten: "Ohne Frieden zwischen den Religionen kann es keinen Frieden in der Welt geben!" eine ganz tiefe Bedeutung für jegliche Form von Friedenspolitik und Befriedung der Gesellschaften hat, deshalb fände ich großartig, wenn sich im Gefolge der Massaker von Paris diese Aufzählung von Glaubenshaltungen "gleicher Augenhöhe" durchsetzen sollte:

"Egal ob du Jude bist, Moslem oder Christ, und natürlich auch egal ob du Atheist bist, wir sind alle gleich viel wert! So wie es der Art. 1 des deutschen Grundgesetzes formuliert: "die Würde (jedes!) Menschen ist unantastbar!"

Netanjahu und Habbas in einer Reihe, das läßt hoffen

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Und mir ist es auch zu einfach und zu zynisch, von den 40 Regierungschefs, die dort in der vordersten Reihe hinter den trauernden Angehörigen marschierten, von einer "Parade der Heuchler" sprechen.

Kaum ein Konflikt, kaum ein Gegensatz scheint der Welt so schier unlösbar wie jener zwischen den um ihre Existenz bangenden Israelis, und den um ihr Leben bangenden Palästinensern. Für beide Seiten ist die andere Seite "des Teufels" und mehr als einmal erlebten wir von beiden Konfliktparteien ein Verhalten, das der letzten Stufe der Konflikt-Eskalation entspricht, die da lautet: "Ich will meinen Gegner zerstören, selbst auf die Gefahr des eigenen Untergangs!".

Angesichts einer solchen nach zigtausenden von unschuldigen Todesopfern schier ausweglosen und unlösbaren Situation die Tatsache, dass die Repräsentanten der beiden Kontrahentengruppen nur wenige Meter voneinander in einer unter gehakten Reihe gegen Terror und Mord und für die Freiheit demonstrieren, dies als "Parade der Heuchler" zu bezeichnen, ist in meinen Augen zynisch.

Die französische Revolution hatte drei gleichberechtigte Ziele: Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit.

Das ist deshalb erwähnenswert, weil mit bewundernswerter Ignoranz viele Kommentatoren die Verteidigung der Freiheit, insbesondere der Pressefreiheit, insbesondere der Freiheit der Satire, in Bild und Ton Andersdenkende auch mal zu verletzen, gleichgesetzt habe mit den Zielen der französischen Revolution.

Unerwähnt blieb die Gleichheit, wenngleich sie immerhin mit den oben erwähnten Parolen der "Gleich-Würdigkeit" der Glaubensrichtungen angedeutet wurde.

Aber das, was die Barrikaden-Kämpfer und Theoretiker der französischen Revolution "Brüderlichkeit", nannten darf meines Erachtens keinesfalls reduziert werden auf die "Solidarität mit den Ermordeten".

Brüder- und Schwesterlichkeit oder Geschwisterlichkeit hat doch auch den sozialen, den materiellen Aspekt. Wir haben eben (fast) keine solidarische Ökonomie. In Frankreich und in Deutschland in England oder in Schweden gibt es zarte Pflänzchen aber das bestimmende sind die Börsen und das Diktat der Märkte gegenüber der Demokratie.

Und schon gar nicht haben wir solidarische ökonomische Beziehungen zwischen dem Norden und dem Süden des Globus.

Die Ungleichkeit zwischen Nord- und Südhalbkugel, zwischen Armen und

Reichen, zwischen den unbezahlbaren Luxuswohnungen im Zentrum von Paris und den Banlieus, den Trabantenstädten der Abgehängten, diese Ungleichheit ist ein wichtiger Nährboden des Terrorismus. Nicht jeder prekarisierte Einwanderer aus Afrika entwickelt sich so selbstbewusst wie Driss in Frankreichs meistgesehenem Filmstreifen "Ziemlich beste Freunde". Wer dies Thema ausblendet, drischt nur Phrasen, wenn er behauptet, er wolle die Bürger nach allen Kräften vor weiteren terroristischen Anschlägen schützen.

Letztlich:

Die historische 3-Satz-Aufgabe:

3,5 Millionen trauern um 17 Todesopfer. Wie viel Millionen trauern um 77 Opfer von Oslo?

Um eins ganz klar vorauszuschicken: niemals darf es um eine gegenseitige Aufrechnung von Todesopfern gehen. Weder dürfen die Opfer des Holocaust gegengerechnet werden gegen die Opfer der GuLags, weder dürfen die Opfer der amerikanischen Aggression in Vietnam gegen die Opfer des Genozids von Pol Pot in Kambodscha gegengerechnet werden und schon gar nicht dürfen die Opfer des rechtsradikalen Islamhassers und wahnsinnigen Terroristen Anders Behring Brevik bei seinem Attentat in Oslo, dem 77 Menschen zum Opfer fielen, auf- oder gegengerechnet werden gegen die unschuldigen Atheisten, Juden, Moslems oder Christen die in der letzten Woche in Paris feige hingerichtet worden.

webkit-fake-url://44f6b51c-2ded-471d-b34a-635457da9b68/imagejpeg(Die Fotos der Opfer von Oslo)
Dennoch ist doch die Frage erlaubt, was den Unterschied ausmacht, dass es vielleicht zur größten Massendemonstration in der Weltgeschichte kam, wenn drei islamistische Terroristen ihre Verbrechen begehen, aber der Mord an 77 vor allem jungen Menschen des norwegischen sozialdemokratischen Jugendverbandes, darunter übrigens auch erstaunlich viel Menschen mit Migrationshintergrund, so deutlich weniger Resonanz und Mobilisierung auslöst.

Denn in der Tat sind die Hassparolen die Anders Brevik auf seinen fast 1000 Seiten im Internet verbreitete, dem geschichtlichen Türken – und Islam-Hass des sogenannten "Christlichen Abendlandes" näher als die Racheparolen islamistischer Dschihadisten, die vorgeben, die Erniedrigung des Westens, die koloniale Ausbeutung des Westens, und die Gotteslästerung ehrliche Kultur des Westens mit ihren Mordanschlägen zu rächen.

Nichts und niemand kann je den Mord an Unschuldigen rechtfertigen! Nicht in Paris, nicht am Kundus, nicht in My Lai, nicht im Irak, nicht in der Ost-Ukraine oder auf dem Maidan, nicht in den Cafés von Tel Aviv und nicht in den UNO-Schulen im Gazastreifen!

Diese Aufzählung von Orten und Ereignissen, bei denen unschuldige Menschen, darunter oft Frauen und Kinder sinnlos umgebracht wurden, macht deutlich: es geht nicht (allein!) um Gewalt gegen Journalisten oder Gewalt gegen Juden oder Gewalt gegen Christen oder Gewalt gegen Moslems oder Gewalt gegen Andersdenkende oder Gewalt gegen Atheisten.

Es geht um Gewalt überhaupt und Gewaltlosigkeit!

Die ganze Hilflosigkeit und Konzeptionslosigkeit der offiziellen Reaktion auf die Attentate zeigt sich in den immer währenden Versprechungen einerseits: "Wir werden alles tun um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten!" Ein Versprechen, das angesichts der Attentate in New York, London, Madrid, eben auch: Oslo, und jetzt in Paris, auf tödliche Weise immer wieder widerlegt wurde. Denn einen 100-prozentigen Schutz gegen Morde aus dem Hinterhalt auf der Grundlage von Polizeiverfolgung und Generalüberwachung kann es niemals geben.

Und noch perverser sind ja die Forderungen beispielsweise der CSU, die Überwachungs-Maßnahmen auszuweiten.

Es ist vielfach darauf hingewiesen worden: die in Frankreich geltende Vorratsdatenspeicherung hat die Morde nicht verhindert. Und selbst das absolut flächendeckende Abhören aller Handygespräche in Frankreich und von und nach Frankreich durch die allmächtige Krake NSA, hat die Attentate nicht verhindert.

Dass sich nach dem 11. September 2001 der Terrorismus so ausbreiten konnte und vervielfältigen konnte, auch darauf ist schon so oft hingewiesen worden, liegt daran das in Afghanistan, im Irak, in Somalia, in Libyen, unter den Bomben, den Drohnen und den völkerrechtswidrigen Einsätzen der USA und ihrer "Allianz der Willigen" 100-tausende von unschuldigen Opfern zu beklagen sind, die Tausende von neuen Selbstmordattentäter hervorbrachten.

Deshalb sind für mich die ermordeten Zeichner von Charlie Hebdo natürlich Opfer von Wahnsinnigen, die von al-Kaida oder IS gesteuert sind.

Aber, dass diese Verbrecherbanden so einen Zulauf haben, das hängt von den Rohstoffkriegen ab, die ja auch die ermordeten Zeichner immer wieder auf ihre spitze Feder genommen haben.

Wer also Trauer bekundet und Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen und nicht gleichzeitig darüber nachdenkt, wie der verheerende Irrweg computergesteuerte Kriege mit zig tausenden von in "Kolletaralschäden" ermordeten unschuldigen Zivilisten beendet werden kann, der handelt gelinde gesagt naiv, oft unehrlich.

Der Krieg gegen den Terror ist nur zu gewinnen durch Befriedung. Durch die Anerkennung des Prinzips, dass alle Nationen selbst verantwortlich sind für die Art und Weise, wie sich bei ihnen Demokratie und Menschenrechte umsetzen, durch die Anerkennung des Prinzips, dass Krieg kein Mittel der Politik mehr sein darf! Durch Stärkung einer neutralen internationalen Organisationen, die allein die Kompetenz und Autorität haben sollte, in Streitigkeiten zu schlichten nach allen derzeitigen Erkenntnissen ausschließlich die Vereinten Nationen seinen können.

In dem erst jüngst über die Bildschirme geflimmerten Film über das Leben von Bertha Suttner wurden auch die Anfänge der internationalen Friedensbewegung gezeigt. Dort gab es keinen abstoßenden Kleinkrieg zwischen verschiedenen Teilen der Friedensbewegung die sich gegenseitig bezichtigen, nicht "die richtige" Friedensbewegung zu sein, wie wir das im deutschen "Friedenswinter" erleben müssen.

Es waren ernsthafte und verantwortungsbewusste Menschen vor allem des Bürgertums, die etwas voraussagten und erstrebten, was heute noch genauso richtig ist. In Zeiten der Massenvernichtungsmittel kann und darf Krieg weniger denn je ein Mittel zur Durchsetzung von Interessen sein.

Richtet sich also diese Konsequenz aus terroristischen Attentaten nur an Regierungen?

Natürlich nicht!

Denn dem Prinzip der nicht Gewaltanwendung in den Beziehungen zwischen den Staaten entspricht das Prinzip der unbedingten Gewaltlosigkeit für Auseinandersetzungen innerhalb der Staaten.
Gewaltlosigkeit kann und muss jeder von uns praktizieren!

Es beginnt mit der gewaltfreien Kommunikation!

Wer dazu aus aufruft, "Haut Nazis auf die Fresse!" Oder wer Bilder verbreitet, in denen NPD-Lastwagen umgestürzt im Straßengraben liegen, der will keine gewaltfreie Kommunikation, der fordert nicht auf zu gewaltlosen Widerstand gegen Hass, sondern der schürt selber Hass.

Gleich am Morgen nach dem Marsch der Millionen las ich in meiner Facebook-Chronik Hasstiraden, warum Benjamin Netanjahu in der ersten Reihe mit marschieren dürfe und von anderen Hasstiraden, warum Palästinenserpräsident Abbas mit marschieren durfte.

Wer dieses gemeinsame Marschieren nicht als Hoffnung erkennt, sondern sofort wieder ausgrenzt, abgrenzt und diffamiert, der kann nur schwer beitragen zu einer Atmosphäre in der Gewalt gegen Andersdenkende für immer und ewig geächtet wird.
Der Marsch der Millionen zeigt mir aber auch, dass es nicht nur unbedingte Notwendigkeit ist, sondern dass es auch die Möglichkeit gibt, solche unvorstellbarer Anzahl von Menschen auf die Straße zu bekommen. Eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse die die Macht der Rüstungskonzerne, der Chemiekonzerne, der Energie und Pharmakonzerne brechen will wird keinen Erfolg haben wenn sie sich nur auf knappe Mehrheiten in den Parlamenten beschränkt. Eine solche Veränderung braucht den absolut gewaltfreien gemeinschaftlich vorgebrachten Willen von Millionen von Menschen. Und da diese Menschen – so sie denn zusammen kommen – weniger denn je zuvor einer Partei, einer Organisation oder einem charismatischen Führer folgen werden sondern genauso viel stimmig ihre Meinung artikulieren werden, wie wir das am Sonntag in den Straßen von Paris sehen konnten, deshalb macht es so viel Sinn, dass schon jetzt, im allerfrühesten Stadium Linke (besser als bisher) lernen, Bündnisse mit deutlich anders Denkenden zu schließen, die Mitte der Gesellschaft anzusprechen und ihre Bereitschaft zu einem Mitte-unten/Mitte-links- Bündnis zu schaffen.

Und dann bleibt da noch das Recht auf Satire!

Ich weigere mich, nur weil die Mörder Menschen umgebracht haben, die einen Journalismus und ein Kulturverständnis haben, das diametral meinem widerspricht, mich mit diesem Kulturverständnis zu solidarisieren.

Du sollst nicht töten, das habe ich in diesem Text mehrfach unterstrichen, gilt immer und überall.

Und dennoch, wer glaubt, die Gefühle Andersdenkender mit verletzenden Bildern und Karikaturen beleidigen zu müssen, der ist sehr wohl (das finde ich richtig) durch die Freiheit der Kunst juristisch gedeckt, aber falsch finde ich es dennoch.

Gerade in der jetzigen Situation, gerade nach dem Mord von hunderttausenden von Islamgläubigen Menschen durch Soldaten und Waffen aus den USA und Westeuropa haben die Bürger und auch die Künste der Nordhalbkugel eine besondere Verantwortung gegenüber den Ausgegrenzten, den Ausgebeuteten und Unterdrückten auf der Südhalbkugel.

Vor vier Wochen war ich eine Woche in Marokko, Tage in dem ich mich mehr als je zuvor mit dem Islam auseinandersetzen konnte und musste.

Dass die arabischen Bauwerke so unendlich viel mehr Ornamente tragen, aber auch mit Europa unvergleichlich viel Schriftzüge und Texte auf ihren Mauern, in den Mosaiken zu lesen sind, hängt – das habe ich gelernt – damit zusammen, dass die Moslems ein (Abbildungs-)Gebot viel ernster nehmen als die Juden und die Christen, obwohl es im Alten Testament mehr als einmal deutlich beschrieben ist: du sollst dir kein Abbild Gottes machen. JAHWE. D.h. auf Deutsch: "der unaussprechliche".

Bekanntlich hat sich die christliche Malerei und Baukunst nicht im geringsten daran gehalten. Millionen von Engeln, Kruzifixe, Marienbildern, und auch ab Bildern von Gott (als ob irgendwo geschrieben stünde, dass er ein Mann sei, einen langen Bart habe, und auf einer Wolke sitzt!).

Als mir das klar wurde, bekam ich großen Respekt vor der islamischen religiösen Architektur. Aber das schließt eben auch mit ein, sich vom Propheten Mohammed kein Bild zu machen und schon gar kein "ketzerisches".

Wenn mein Nachbar allergisch ist gegen Pollen aus trockenem Heu, ist das dann mutig, direkt an seinem Gartenzaun einen großen Heuhaufen zu errichten, ist es Ausdruck von Freiheit? Ist das gar Ausdruck von Menschlichkeit? Nein Meinungsfreiheit, die rücksichtslos verletzend, herabsetzt sie, soll zwar ­- wenn sie bestimmte Grenzen nicht überschreitet - nicht von Gerichten verboten werden, aber ich lasse sie mir auch nach den schrecklichen Morden von Paris nicht als Humanismus verkaufen.

Es gibt genügend Angst es gibt genügend Gründe, zynisch zu sein in diesen Tagen, Gründe den Kampf der Kulturen den Kampf des Menschen gegen die Umwelt den Kampf der Großmächte, den Kampf der Reichen gegen die Armen als dasAmargedon, den bevorstehenden Weltuntergang anzusehen.

Ich gehöre nicht zu diesen Apokalyptikern.

Ich habe eine Hoffnung.
Auf eine solidarische Zukunft, auf die Solidarität der Verschiedenen, auf die Anerkennung des Fremden, des anderen als eine Bereicherung statt einer Bedrohung.
Und zu dieser Hoffnung gehört, dass wir alle noch viel besser lernen, uns über das, was wir nicht verstehen, nicht lustig zu machen, es nicht herabzusetzen, sondern zu fragen, was wir daraus vielleicht lernen können, was wir daraus für Gewinn ziehen können, und wie wir im Dialog mit dem anderen erst die Welt wirklich erkennen, wie sie in ihrer ganzen Vielfalt ist.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

MathisOberhof

Autor des Buches : REFUGEES WELCOME - Geschichte einer gelungenen Integration - So können Sie Flüchtlingen helfen - Ein Mutmachbuch", verh., 3 Söhne,

MathisOberhof

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