Covid-19 hat uns alle zu Virologen gemacht. Am Küchentisch und in der Mittagspause gehen Fachbegriffe wie Fall-Sterbe-Rate und Herdenimmunität leicht von den Lippen. Einer dieser Begriffe, die früher nur Spezialisten kannten, ist „gain of function“ (GOF, „Funktionsgewinn“). So werden Experimente bezeichnet, die Krankheitserreger ansteckender oder tödlicher machen. Denn, so behaupten manche, mit solchen Laborversuchen sei SARS-CoV-2 erzeugt worden. Ist das möglich – können virologische Experimente eine Pandemie auslösen?
Bei GOF-Experimenten entstehen Erreger, die es in der Natur nicht gibt. Für Unbehagen sorgten zwei Forschungsteams, die 2010 die Influenza H5N1 so mutieren ließen, dass das Virus über die Luft
ie Luft übertragbar wurde – H5N1 springt sporadisch von Vögeln auf Menschen über und tötet sie in den meisten Fällen. 2014 pflanzten US-Forscher das Stachelprotein von SARS-CoV-1, mit dem das Virus an menschliche Zellen anhaftet, in ein anderes Coronavirus ein, das bis dahin nur Fledermäuse befiel. Dann untersuchten sie, ob diese Chimäre menschliche Atemwegszellen infizieren konnte. So wollten sie herausfinden, wie weit entfernt das Fledermaus-Virus vom Überspringen auf Menschen ist – und schufen potenziell eine neue Krankheit.Solche Experimente fanden auch im chinesischen Wuhan statt, wo SARS-CoV-2 zum ersten Mal entdeckt wurde. In der globalen Gerüchteküche Internet machen seitdem Theorien die Runde, die den Erreger mit GOF in Verbindung bringen. Mittlerweile äußern Regierungsvertreter aus den USA, China und Australien solche Verdächtigungen. US-Präsident Joe Biden beauftragte die Nachrichtendienste, zu untersuchen, ob es einen Laborunfall gegeben habe. Ende August bekam er ihren Bericht, aber auch der enthält keine Indizien für diese These. Weder die Gensequenz noch die Eigenschaften von SARS-CoV-2 deuten auf einen synthetischen Ursprung hin. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um einen „Wildtyp“, der natürlich entstanden ist.Forschung birgt oft GefahrSind die Virologen damit aus dem Schneider? Nicht ganz. „Dass ein Laborangestellter sich infiziert, während er in einer Fledermaushöhle Proben einsammelt, oder eine direkte Übertragung von einer Fledermaus auf einen Menschen, das gehört zu den wahrscheinlichen Hypothesen.“ So äußerte sich Mitte August Peter Ben Embarek, ein dänischer Zoonosen-Experte. Er leitete die Mission der WHO nach Wuhan, die den Ursprung der Pandemie aufklären sollte. Dass SARS-CoV-2 nicht absichtlich und gentechnisch erzeugt wurde, bedeutet nicht, dass der Erreger nicht von Wissenschaftlern unabsichtlich verbreitet wurde.Es wäre nicht das erste Mal: Als im Jahr 1967 Affen aus Uganda für die Impfstoffproduktion nach Deutschland eingeführt wurden, brachten sie eine Zoonose mit. Der Ausbruch in Marburg kostet sieben Menschen das Leben, lange bevor das „Marburg-Virus“ Todesopfer in Afrika forderte. 1978 infizierte sich im englischen Birmingham eine Person mit einem Pockenvirus aus einem Labor und starb. Das erste SARS-Coronavirus entkam 2003 und 2004 mindestens viermal aus Forschungseinrichtungen in China, Taiwan und Singapur. Weitere Beispiele ließen sich anfügen.Mit GOF sollen Zoonosen verhütet werden. Wissenschaftler wollen herausfinden, unter welchen Umständen die Erreger auf den Menschen übergehen, was sie gefährlich macht. Mittlerweile haben sie eine Reihe von Mutationen identifiziert, die Viren das Anheften und Eindringen in menschliche Zellen ermöglichen. Das Ziel ist, gefährliche Erreger von harmloseren zu unterscheiden. Allerdings scheint es keine eindeutigen Marker im Erbgut zu geben, die mit der Anpassung an menschliche Zellen oder einer stärkeren Virulenz einhergehen. Manche Mutationen haben unterschiedliche Folgen bei unterschiedlichen Stämmen (Kladen) desselben Virus. Zwischen Genotyp und Phänotyp klafft weiterhin eine unverstandene Lücke.Als Christian Drosten jüngst auf das Thema angesprochen wurde, reagierte der sonst notorisch joviale Charité-Virologe genervt: „Wenn man mit Nicht-Fachleuten spricht, die einfach emotionale Meinungen wiedergeben, die sich vielleicht auch wichtigmachen wollen, dann kommt man in eine abwegige Diskussion, die auch nicht weiterhilft.“ Die öffentliche Aufmerksamkeit sei nicht produktiv, GOF unverzichtbar.Auch für Linda Brunotte überwiegt der Nutzen. Sie ist Forschungsgruppenleiterin am Institut für molekulare Virologie in Münster, zudem Vorsitzende der Kommission für Forschung mit Dual-Use-Potenzial der Virologischen Gesellschaft. Das Wissen über gefährliche Mutationen könne für Überwachungsprogramme bei Tieren genutzt werden, um Erreger im Blick zu behalten, bevor sie auf den Menschen übergehen. Völlig anders sieht es der Virologe Simon Wain-Hobson, Professor am Pasteur-Institut in Paris. „Mit GOF-Forschung lässt sich nicht feststellen, welcher Stamm pandemisch werden wird“, sagt er. „Es gibt viele verschiedene Wege, um ein erfolgreiches Virus zu sein.“ GOF-Experimente seien nicht auf die Evolution außerhalb der Labore übertragbar. Wain-Hobson findet die gezielte Steigerung der Virulenz extrem gefährlich. Die Kolleginnen und Kollegen hantierten „mit einer Bombe mit einer sehr kurzen Zündschnur“.„Insgesamt wird in Deutschland kaum risikobehaftete GOF-Forschung durchgeführt“, sagt Linda Brunotte. „Die Debatte hat bereits zu einem Umdenken und einer differenzierten Bewertung solcher Arbeiten geführt.“ Tatsächlich sind die Vorschriften schärfer geworden. Forschungsarbeiten mit bestimmten Erregern müssen genehmigt werden. Eine Beratung durch eine Ethikkommission wird empfohlen; um finanziell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert zu werden, ist sie vorgeschrieben.Diese Beratung führt aber offenbar nicht dazu, dass Forschungsansätze als unsinnig oder zu riskant verworfen werden. In nur einem Fall zwischen 2016 und 2019 verlangte eine universitäre Ethikkommission „die Wiedervorlage vor der Einreichung zur Publikation, um im Fall der Erhöhung der Virulenz verwendeter Organismen erneut beraten zu können“. So steht es im jüngsten Tätigkeitsbericht des Gemeinsamen Ausschusses zum Umgang mit sicherheitsrelevanter Forschung von Leopoldina und DFG. Um welches Forschungsprojekt es sich handelt, verrät die Kommission nicht. Die Beratungen würden grundsätzlich vertraulich behandelt.Labormäuse beißen auch malWie riskant ist GOF-Forschung wirklich? Die Erreger können für Versuche so manipuliert werden, dass sie insgesamt weniger virulent sind. Das Unfallrisiko lässt sich auch mit technischen Mitteln und Hygienemaßnahmen senken. Die alltäglichen Probleme bei der Biosicherheit sind banal, aber hartnäckig: vergessene Inaktivierung, verwechselte Proben, der Biss einer Labormaus, gestresste Beschäftigte. Striktere Sicherheitsmaßnahmen machen die Arbeit mühsam. „Alles dauert dreimal so lange bei einer höheren Sicherheitsstufe“, sagt ein Beschäftigter, der anonym bleiben möchte.Ein Beispiel aus einem bundesdeutschen BSL3-Labor, zweithöchste Sicherheitsstufe: Freitagnachmittag, eine Mitarbeiterin zieht Lösungen mit einem Antibiotika-resistenten Bakterium in eine Spritze. Zwei Stunden bis Feierabend, sie ist müde, in Gedanken woanders – die Spritze rutscht zur Seite, die Nadel durchdringt den Handschuh. So kommt es zu einer Infektion, die jahrelang behandelt werden muss.Wie häufig passiert so etwas? Marc Lipsitch, ein Epidemiologe an der Harvard-Universität und vehementer GOF-Kritiker, hat ausgerechnet, dass sich in US-amerikanischen BSL3-Labors jedes Jahr einer von hundert Vollzeitangestellten unabsichtlich infiziert. Virologen weisen diese Zahlen als tendenziös zurück. Aber wie es um die Biosicherheit wirklich steht, ist beinahe unmöglich herauszufinden. Die Zahl der Störfälle und versehentlichen Infektionen wird nicht bundesweit erfasst und schon gar nicht veröffentlicht. Theoretisch müssen Unfälle und Störfälle gemeldet werden, aber nur bei der kommunalen Gewerbeaufsicht. Eine Anfrage bei zehn Behörden in Regionen, wo sich Labore der Sicherheitsstufe 3 und 4 befinden, ergibt ein merkwürdiges Bild: Kaum eine kann sagen, wie häufig Störfälle und Unfälle waren. Bei vielen sind im vergangenen Jahrzehnt überhaupt keine Meldungen eingegangen, selbst dort, wo sich die biologische Forschung konzentriert. Sechs Meldungen seit 2006 betrafen technische Störungen, etwa automatische Türen oder Abluftfilter. Eine einzige Meldung aus dem Jahr 2009 betraf einen Arbeitsunfall, der eine Infektion auszulösen drohte.Die Zahlen spiegeln die Arbeitswirklichkeit mit Sicherheit nicht wider. Wie groß und wie gefährlich das Dunkelfeld wirklich ist, ist unklar. Auch von dem geschilderten Beispiel hat die zuständige Behörde nicht erfahren. Im privaten Gespräch räumen Virologen ein, dass Pannen vorkommen – aber eben nur anderswo. „Die Häufigkeit von Unfällen und ihr Schweregrad wird heruntergespielt“, sagt Simon Wain-Hobson. „Viele erleben das als berufliches Versagen, aber das ist falsch. So können wir nicht aus den Fehlern lernen.“Ähnlich sieht es Gunnar Jeremias, ein Experte für Biosicherheit. Er leitet die Forschungsgruppe zur Analyse biologischer Risiken an der Universität Hamburg. „Ein bundesweites zentrales Meldesystem für Unfälle und andere unvorhergesehene Ereignisse in biotechnischen Anlagen wäre wünschenswert, etwa analog zu dem System im Nuklearbereich. Sonst können wir nicht erkennen, ob bestimmte Fehler in Anlagen gehäuft auftreten, und kein entsprechendes Fehlermanagement installieren.“Placeholder authorbio-1