Ihr Revier

Porträt Birgit Reimann ist Polizistin und hat beinahe täglich mit Gewalt zu tun. Bei ihrer Arbeit hat sie gelernt: Das Wort ist die schärfste Waffe
„Ich bin nachts öfter schweißgebadet aufgewacht“
„Ich bin nachts öfter schweißgebadet aufgewacht“

Foto: Paula Markert für der Freitag

Birgit Reimann möchte sich in einem Café im Stadtpark treffen, der sei „Hamburgs grüne Lunge“. Sie will dort von ihrem Alltag als Polizistin in der Großstadt erzählen. In mehr als 30 Jahren Dienst hat sie alles gesehen: stinknormalen Streifendienst ebenso wie Geiselnahmen, Morde und Kinderpornos.

Der Freitag: Frau Reimann, welches war die schlimmste Beleidigung, die Sie sich als Polizistin anhören mussten?

Brigitte Reimann: „Alte Fotze.“ Das war auf einer Demo. Aber wollen Sie das dann jedes Mal eskalieren lassen? Etwas anderes ist es natürlich, wenn ich einen Ladendieb mitnehme und der mich unflätig betitelt. Da kann ich sagen: „Hören Sie mal, so nicht.“

Was reizte Sie am Polizei-Beruf?

Ich wollte Goldschmiedin werden. Aber mir fehlte das Vitamin B, ich hätte keine Lehrstelle bekommen. Eine Klassenkameradin hatte dann den Test bei der Polizei gemacht, und ich dachte: So einen Behördentest kannst du ja auch mal machen. Ich dachte an meinen Verkehrslehrer, der immer sagte: Die Polizei, dein Freund und Helfer.

Sie waren eine der ersten Frauen bei der Schutzpolizei in Hamburg – in welche Welt kamen Sie da?

Es war sonderbar, als Frau 1982 in dieser Männergesellschaft. Sie sagten: „Was suchst du hier? Du wirst irgendwann heiraten, Kinder kriegen und am Herd landen.“ Die Weibliche Schutzpolizei gab es schon, aber es gab noch nicht in jeder Wache oder in jeder Schicht eine Polizistin. Man brauchte sie nur für bestimmte Gruppen, Frauen und Kinder. Wenn Frauen vergewaltigt wurden, dann wurde die Anzeige meist nicht von einem Mann aufgenommen, sondern von einer Frau.

Ist das heute anders?

Mittlerweile gibt es durchaus auch einfühlsame Kollegen. Und wenn ein weibliches Opfer das wünscht, darf es von diesen vernommen werden. Manchmal sagen Prostitutierte: „Ich kann mit einem Mann besser umgehen als mit einer Frau.“ Gerade bei Sexualdelikten.

Wie haben Sie sich dann Respekt verschafft bei den Männern?

Ich habe teilweise geschluckt und gedacht: „Du wirst schon merken, was ich hier will.“ Oder ich habe protestiert: „Natürlich möchte ich Kinder, aber ich will nicht am Herd enden.“ Soll doch der Mann zu Hause bleiben. Ich bin in einem Umfeld groß geworden, in dem es selbstverständlich war, auf eigenen Beinen zu stehen.

Wer Einsätze fährt, erhält auch irgendwann Anerkennung, oder?

Bei der Verkehrsunfallaufnahme wird neutral bewertet: Wie haben wir die Situation gemeistert? Und jede Polizistin in Hamburg hat den Rest der Truppe etwas miterzogen.

Bei häuslicher Gewalt konnten Sie einmal eine Situation gewaltlos entschärfen ...

Ja. Ein Mann hatte mich mit dem Messer bedroht. Und ich stand gefühlte zwei Stunden vor ihm und habe auf ihn eingeredet. Irgendwann hatte ich dann das Messer in der Hand. Männliche Kollegen haben in solchen Momenten oft eher die Fronten verhärtet. Aber ich habe in der Polizeischule gelernt: Das Wort ist die schärfste Waffe. Man muss jemanden zum Sprechen kriegen.

Wie stellt man das an?

Mit Intuition und Empathie. Indem man dem anderen das Gefühl vermittelt, dass man sich für ihn interessiert. Wir möchten alle als Person beachtet werden. Nach und nach habe ich herausgefunden, wie ich als Frau besser auf dieses Bedürfnis eingehen kann.

In Ihrem Buch Die Großstadt ist mein Revier berichten Sie von männlichen Kollegen, die davon ausgehen, dass natürlich sie den Wagen auf Streife fahren.

Ja, vor allem Männer in meinem Alter nehmen konsequent den Schlüssel in die Hand und sagen: „Ich fahre.“ Damit kann ich leben, es sogar genießen. Wenn ich mich auskenne, fahre ich aber selbst gern Auto. In Wilhelmsburg saß ich meist am Steuer. Ansonsten soll der Mann ruhig fahren, dann kann ich am Funk sitzen.

Wie fühlen Sie sich in Uniform?

In dem Moment, in dem ich die Uniform anziehe, bin ich Polizistin und repräsentiere den Staat.

Hamburg-Wilhelmsburg, Ihr früheres Revier, ist ein sozialer Brennpunkt. Wenn man vor allem diesen Ausschnitt der Gesellschaft erlebt, entstehen da Ressentiments gegen bestimmte soziale Gruppen?

Natürlich verändert sich der Blick. Wenn man jemanden schon dreimal festgenommen hat, weiß man: Der ist ein Einbrecher oder Autodieb. Aber mir kam nie jemand wegen seines Aussehens verdächtig vor. Beide Gruppen – Deutsche und Ausländer – haben die gleichen Straftaten verübt. Wenn jemand drogensüchtig ist, muss er schnell zu Geld kommen. Da spielt die Nationalität keine Rolle.

Sie müssen den Staat verteidigen. Aber wenn Polizisten auf Demos so martialisch auftreten, können Sie dann verstehen, dass sich die Gegenseite da provoziert fühlt?

Ja, das kenne ich aus Berlin. Da stehen sie mit Schienbeinschutz, Körperschutz, Helm, Schild. Ich kann es verstehen, allerdings kann ich es nicht gutheißen. In manchen Situationen mag es gerechtfertigt sein, Steine zu werfen. Aber nicht, wenn Menschen das Ziel sind. In Hamburg war das nie so extrem. Hier ist es den Polizisten verboten, mit dem Schlagstock an den Schild zu schlagen und den Takt anzugeben. Weil das einschüchternd ist.

Wie kommt man sich vor, wenn man eine NPD-Demo schützt?

Da muss ich mein Herz abschalten und mir sagen: Ich mache das, was von mir verlangt wird, dafür bekomme ich das Geld. Aber die Ausschreitungen und Krawalle in Hamburg, die sind überflüssig. Selbst die Bewohner der Schanze sind mittlerweile genervt, dass Leute aus dem Umland kommen und Geschäfte entglasen.

„Entglasen“? Das ist doch ein linker Kampfbegriff.

Sagen wir besser: Scheiben einwerfen. Das gehört sich nicht.

Am vergangenen Wochenende wurden in Berlin Polizisten mit Molotow-Cocktails attackiert.

Ich finde das unerträglich. Für mich ist es ein versuchtes Tötungsdelikt.

Kamen Sie selbst moralisch nie in einen Zwiespalt?

Ich kann mich gut an die Proteste Anfang der achtziger Jahre gegen die Hamburger Chemiefabrik Boehringer erinnern. Dort wurden krebserregende, dioxinhaltige Rückstände im Grundwasser sowie auf Wiesen und Äckern gefunden. Da haben wir als Polizei eigentlich nur abgesperrt. Aber mein Herz hat gesagt: Ich möchte lieber auf der anderen Seite stehen. Ich habe mich nach Dienstschluss umgezogen, bin noch mal hingefahren, habe mich dazugesetzt und mit Leuten geklönt, mit denen ich studiert hatte. Wir wollten unseren Willen kundtun. Es ging um die Natur und um die Menschen.

Gibt es einen Punkt, an dem Sie den Beruf nicht mehr ausüben könnten?

Natürlich würde ich keinem Hitler folgen. Aber solange wir in einer Demokratie leben – auch wenn sie Ecken und Kanten hat –, ist der Job in Ordnung.

Sie fingen dann im Dienst an, sich stärker mit Psychologie zu beschäftigen ...

Mich interessiert das Verhalten der Menschen. Ich möchte verstehen, warum jemand so reagiert, seine Motive kennen. Dann kann ich mich besser auf ihn einlassen.

Der „gefährlichste Ort der Welt“ seien Familie und Partnerschaft, sagen Sie.

Ich habe jahrelang mit Eifersuchts- und Beziehungstaten zu tun gehabt. Und meine Erfahrung ist: Wir haben sowohl verlernt, eine Beziehung zu führen, als auch uns ordentlich zu trennen. Heute braucht man für alles einen Führerschein, eine Lizenz – aber über das Führen einer Beziehung wird in der Schule nicht geredet.

Wie sollte man sich trennen?

Bestimmt nicht über SMS. Und möglichst nicht an Familienfeiern oder Festtagen. Besser wäre, man zieht es durch und macht danach den Neuanfang! Die Frau sollte auch nicht erzählen: „Mein Neuer ist besser im Bett als du.“ Oder: „Du hast die Kinder angefasst.“

Weil es gefährlich sein kann?

Natürlich. Da geschehen Morde. Frauen müssen lernen, sich nach einer langen Ehe zu trennen. Sie müssen klären, was mit Kindern und Unterhalt passiert und auch, wie sie sich gegen häusliche Gewalt zur Wehr setzen. Sie glauben oft, abhängig zu sein: „Er ist so lieb, wenn er nicht getrunken hat.“

Und wie können Sie da helfen?

Ich habe viele Studien zur Prävention von Partnerschaftstötungen gelesen. Wir bekommen ja vorher schon Sachen mit und können als Polizisten mit dem reden, der in der Beziehung gefährlich ist, weil er trinkt oder sich in seiner Ehre verletzt fühlt. Das kann nämlich final enden.

Nach den Beziehungsdelikten wechselten Sie in den Bereich Kinderpornografie ...

Wir schauten uns tagelang kinderpornografische Bilder und Videos an, das war heftig. Man hat es mit Usern zu tun, die Filme auf ihren Rechner ziehen, anschauen, und im Netz verbreiten. Manche Nutzer dokumentieren auch den eigenen Missbrauch.

Solchen sind Sie auch begegnet.

Ja, mein letzter Fall ist mir sehr nahegegangen. In dem Video sah man ein Mädchen, drei Monate alt. Das Baby wurde sadistisch gequält, über einem Auge sah man ein Hämatom. Einmal wurde ihm von einer Männerhand der Mund zugehalten, es bekam keine Luft mehr. SM unter Erwachsenen ist in Ordnung, aber ein Säugling! Ich hatte ständig diese Bilder im Kopf, wachte nachts schweißgebadet auf. Ich fühlte mich plötzlich zerbrechlich.

Wie geht man mit so etwas um?

Ich ging zum Polizeipsychologen, der hat erste Hilfe geleistet. Aber das reichte nicht. Man stößt das von sich, glaubt, man kann alles lösen. Kollegen sind mit mir zu einem Seelsorger gegangen. Aber ich konnte nicht mehr abschalten. Ich fand eine Therapeutin, die schon mit sadistischen Straftätern zu tun hatte. Sie konnte den Fall in meine berufliche Biografie einordnen. Ich habe das Ganze dann als „Dienstunfall“ eingereicht.

Als Dienstunfall?

Ja, man denkt immer, man muss ein gebrochenes Bein haben. Aber ich hatte ja einen Schaden davongetragen. Mir wurde der Boden unter den Füßen weggerissen. Man stellte bei mir posttraumatische Belastungsstörungen fest.

Dass solche Schäden ernst genommen werden, ist relativ neu.

Ja. Amerika ist der Vorreiter mit dem Post-Shooting-Trauma von Kollegen, die im Dienst geschossen haben. In Hamburg wurde erst im vergangenen Jahr das Verfahren geändert: Auch Polizisten werden nun im Bundeswehrkrankenhaus von Ärzten begutachtet, die sonst Soldaten behandeln, die aus Kriseneinsätzen zurückkehren.

Und: Haben Sie die Welt durch Ihre Arbeit besser gemacht?

Ich stand am Straßenrand und habe die Kelle genommen, um den rechten Weg zu weisen.

Birgit Reimann wurde 1961 in Hamburg-Harburg als erste Tochter eines Ingenieurs und einer Buchhalterin geboren. Sie ging in Harburg zur Schule und besuchte das Gymnasium. Anschließend studierte sie in Hamburg ein Jahr lang Ägyptologie, sah aber keine berufliche Perspektive. Deshalb machte sie eine Ausbildung im mittleren Dienst bei der Polizei Hamburg. 1982 begann ihre Karriere im Streifendienst in Wilhelmsburg, damals ein Stadtteil mit sozial schwachen Gruppen. Sie wechselte später zum KDD, dem Kriminaldauerdienst, um sich der Gewaltprävention und dem Opferschutz zu widmen. Schließlich war sie für einige Jahre im Landeskriminalamt für die Bekämpfung von Kinderpornografie zuständig.

Von ihren Erfahrungen aus mehr als 30 Jahren Berufsalltag erzählt sie in dem im April erschienenen Buch Die Großstadt ist mein Revier (Fischer Krüger). Reimann engagiert sich nebenbei in der Gewerkschaft sowie im Kriseninterventionsdienst des DRK. Sie ist Mitglied der Rettungshundestaffel und auch beim Katastrophenschutz Hamburg-Mitte aktiv.

Die 51-Jährige arbeitet heute bei der Polizei Hamburg im gehobenen Dienst. Sie kümmert sich um Kommunikation und Datenverarbeitung bei der Verbrechensbekämpfung. Sie ist leidenschaftliche Motorradfahrerin und schaut gern Tatort, vor allem den Münsteraner. Außerdem liest sie blutrünstige Romane und die Fälle von Profilern. Reimann lebt mit ihrem 17-jährigen Sohn und ihrem Mann, einem pensionierten Polizisten, in Harburg.

AUSGABE

Dieser Artikel erschien in Ausgabe 24/13 vom 13.06.2013

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