Im Bermuda-Dreieck

Zeitgeschichte In den achtziger Jahren war die „Schoppenstube“ Gravitationszentrum der Ostberliner Schwulenszene. Regisseur Heiner Carow drehte hier Szenen für seinen Film „Coming out“

Wolfhard Zehe sinkt in einen schwarzen Ledersessel, der neben Sofas und Tischen steht in diesem schummrigen Raum mit Achtziger -Jahre-Mobiliar. Vor der Tür der Schoppenstube eilen junge Menschen in Richtung Coffee-Shops oder Kastanienallee. Zehe sieht sie nicht, er sitzt ja meistens in seiner Kneipe, die mal die heißeste Schwulenbar von Ostberlin war. Heute ist das Etablissement übrig geblieben wie ein Fossil aus versunkener Zeit. Zehe, in Jeans, kariertem Hemd, mit Oberlippenbart und Ring im linken Ohr weist auf den Bacchus-Fries an der Wand, daneben Wimpel, eine DDR-Geschäftsurkunde von 1963, Schwarz-Weiß-Fotografien von Jünglingen.

Drittes Reich, Nachkriegszeit, DDR, Wende, Wirtschaftskrisen: Die Schoppenstube in der Schönhauser Allee 44 hat die Systeme und deren Crashs allesamt überlebt. Als sie 1923 gegründet wurde, hieß das Lokal noch Weinstube, und im Keller lagerten Fässer.

Seit 1980 steht Wolfhard Zehe hinterm Tresen, damals galt die Kneipe bereits als legendärer Homo-und Künstlertreff in Ostberlin. Schwule kamen aus der ganzen Republik: Arbeiter, Tänzer, Ärzte, Schauspieler, Schlagerstars – manche standen eine Stunde vor Öffnung bereits draußen an der Tür. Wenn sich einer bei ihm beschwert hat, weil er nicht mehr vorgelassen wurde, holte ihn Zehe durchs Tresenfenster herein. „Alle 13, 8 Sekunden einen Drink, das war mein Pensum“, will er einmal ausgerechnet haben. Die letzten Gäste gingen morgens um fünf, wenn Konnopke gegenüber die erste Currywurst mit Kartoffelsalat verkauft hat. Der Imbiss – auch so ein Relikt – steht noch immer unterm Hochbahn-Viadukt.


In den sechziger Jahren wanderte die Ostberliner Schwulenszene vom Bezirk Mitte nach Prenzlauer Berg, wo man von einer Kneipe zur anderen wechseln konnte – vom Café Schönhauser zum Café Senefelder, in die Alt-Berliner Bierstuben, den Burgfrieden, schließlich die Schoppenstube. Die Flaneure nannten es ihr Bermuda-Dreieck. Diese Orte waren Nischen, aber es ging gesittet zu. Man fasste sich nicht an, gab sich Heiligabend höchstens einen Kuss.

Nach der Wende verschwand von diesen Refugien eines nach dem anderen, nur die Schoppenstube blieb, wo und wie sie war. Wolfhard Zehe hat sie in den Neunzigern als Inhaber übernommen und ein bisschen aufgepäppelt. Doch nach 1990 ändert sich das Szene-Leben erheblich. Sein Restaurant lebe weniger von seinen Gästen als seinem Ruf, weil es in Touristenführern als Ostberliner Kult-Nachtbar geführt werde, sagt Zehe. Wer mitten in der Woche vorbeischaut, sieht eine Handvoll Gäste, am Wochenende sind es ein paar mehr. „Das Verrückte an der Schoppenstube ist: Wenn ich Freitag volles Haus habe, bleibt der Laden Sonnabend leer“, erklärt Zehe. Darum rede er lieber von früher.

In der DDR wurde 1968 der Paragraph 175 abgeschafft, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, im Westen erst 1994. Homosexuelle hatten sich eingerichtet in ihren Nischen, nach und nach verhalten emanzipiert. Als Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt 1973 im Westfernsehen lief, hat das auch die Ostberliner aufgerüttelt. Sie organisierten sich, die Homosexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB) wurde ins Leben gerufen. In den achtziger Jahren sammelten sich Gruppen unter dem Dach der Kirchen und gründeten Selbsthilfevereine. Eine Sendung im Jugendradio DT 64 hieß Mensch du – ich bin homosexuell! Mit HIV und Aids-Aufklärung wurde Homosexualität ein offenes Thema. Zeitschriften berichteten darüber, es war eine Atmosphäre, in der Spielfilme wie Coming out entstehen konnten oder mussten, und die Schoppenstube als Kulisse fürs Milieu geschätzt war. Regisseur Heiner Carow (Die Legende von Paul und Paula) drehte hier einige Szenen, in denen Wolfhard Zehe als Barmann auftauchte. „Ich habe mich extra so hingestellt, dass die Kamera mich sieht.“

Carow hat für die Geschichte eines jungen Lehrers, der sein Anderssein entdeckt, lange gestritten und sich schließlich durchgesetzt. Sein Film spiegelt viel vom Lebensgefühl der achtziger Jahre in Ostberlin, thematisiert latente Schwulen-Feindlichkeit, sogar Neonazis treten auf. Als sich am 9. November 1989 im Kino International der Vorhang zur Premiere hebt, muss eine Doppelvorstellung gebucht werden, der Ansturm ist zu groß. Auf jeden Fall wird Coming out ein Erfolg, gewinnt 1990 bei den Berliner Filmfestspielen den Silbernen Bären, tourt um die Welt zu Festivals in Toronto, Turin oder St. Petersburg und wird Anfang 2011 das erste Mal in Sibirien gezeigt.

Outing ist "furchtbar"

Am Abend des Mauerfalls stand Zehe wie immer am Tresen, während draußen die Menschen zum Grenzübergang Bornholmer Straße und an der Schoppenstube vorbei strömten. Seither hat sich am Prenzlauer Berg eine andere schwule Subkultur etabliert, während die alte langsam verschwand. Pornokinos und Saunen schossen aus dem Boden, es gibt noch mehr Selbsthilfegruppen oder Projekte, eine eigentümliche Mixtur. Wer schert sich hier noch um sexuelle Vorlieben?

Zehe glaubte, darauf reagieren und den Billardraum seiner Kneipe in einen Darkroom verwandeln zu müssen. Er konnte ihn getrost wieder schließen, es kam kaum jemand, der hinein wollte. „In die Schoppe gehen die Leute eher, um zu quatschen.“ Aber auch die werden weniger. „Wat ist denn hier los, ist ja so leer“, rief vor einer Weile ein früherer Stammkunde. „Ich erkannte ihn an seiner Stimme, aber aus dem Adonis von früher ist ein fetter Klops geworden“. Im Westen löste Filmemacher Rosa von Praunheim 1991 wieder einen Skandal aus, als er auf dem Heißen Stuhl von RTL erklärte, Hape Kerkeling und Alfred Biolek seien homosexuell. Sie sollten sich dazu bekennen.

Schwule zu einem Outing zu zwingen – unter anderem Fußballer –, findet Zehe „furchtbar“. Schwulsein tauge nicht zum öffentlichen Bekenntnis. „Ist doch Privatsache, mit wem man schläft.“ Selbst musste er diesen Schritt nie gehen. „Eines Tages kam mein Vater zu mir und sagte: Mein Herr Sohn, ich glaube, du bist schwul.“ Da war er noch in der Pubertät.

Sexuelle Abenteuer hin oder her: in den neunziger Jahren hofften viele Ostschwule, sich nun in bürgerlicher Behaglichkeit einrichten zu können. „Aber die Beziehungen werden kälter“, sagt Zehe. Es sei den meisten Westschwulen allein um Sex gegangen, „möglichst schnell und möglichst anonym“. Es klingt wie ein Klischee, doch Zehe weiß es von Bekannten, die früher oft bei ihm einkehrten. Heute könne man leider nicht mehr einfach irgendwo klingeln, ohne sich anzumelden.

2002 wurde Zehe Vorsitzender des Regenbogenfonds der schwulen Wirte e.V., er verkehrt nun in beiden Berliner Welten. Die U-Bahn-Strecke zum Nollendorfplatz liegt direkt vor seiner Bar. Dort existiere sie noch, eine halbwegs geschlossene Szene. „Die aus Schöneberg kommen nur in die Schoppe, wenn bei mir Schlagerparty ist. Wenn Ute Freudenberg und Christian Leis Über den Dächern von Berlin singen, fangen alle an zu kreischen.“ Vielen gehe es nur noch um Party, Rausch und Karneval. „Wer zum CSD oder zur Gay Night am Zoo strömt, hat danach kein Geld mehr für die Schoppe.“

Zehe bleibt ein Dinosaurier und hält an der Schoppenstube fest, aber Schwule müssen heute nicht mehr ins Schwulencafé, sie können überall hingehen und sich alles offen halten. „Viele erfinden Identitäten, schwindeln und täuschen nur vor, dass sie sich mit jemandem treffen wollen“, meint Zehe. Es sei ja auch nicht leicht, älter zu werden. Um so wichtiger bleibe es, mitten im Leben zu stehen. Mit seinem Freund betreibt Zehe ein Waisenhaus in Sri Lanka. „Dort wissen alle, wer Frank und Wolfhard sind. Und dass wir schwul sind. Jedes Mal kommt ein buddhistischer Mönch, um uns seinen Segen zu geben.“ Seinen Freund hat Zehe vor mehr als 20 Jahren in der Schoppenstube am Tresen kennen gelernt. Frank habe sich seither nicht verändert.

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