Der Freitag: Herr Hessel, Sie wurden 1917 in Berlin geboren. Reden wir ein wenig über die Stadt?
Stéphane Hessel:
Ich kann Ihnen, wenn Sie Lust darauf haben, etwas auf Berlinerisch aufsagen:
Afrika hip hurra
immer is it himmlisch,
so ruft allet fern und nah
ick von Mut, sage jut
nehme Rejenschirm und Hut
schmeiße mir rin ins Revier
komme also jejen Vier/
zieh mir um
Gott is groß/
nicht die kleenste Spur is los
vorne bückt sich die Hyäne mit de Zeene in de Beene
da hinten an de Kaktuswand, och charmant,
remmelt sich der Elefant/
oder stürzt der in den Sand
ob ick Schulze oder Neumann
heiße is ejal
nimm Kaiman/
er frisst flott an mir sich satt
weil er keinen Maulkorb hat/
machen mal ein wenig Krause
dem ick zu jefallen mir meist noch jereicht
wat der will?/
ick fahr zuhause
Bravo! Wo haben Sie das her?
Als ich ein kleiner Junge war, habe ich diesen Spruch von einem Mann im Theater gehört. Ich habe es so schön gefunden, dieses „ Afrika hip hurra“, dass ich es auswendig gelernt habe. Und wie Sie sehen, kann ich es noch heute.
Besuchen Sie Ihr altes Viertel, wenn Sie hier sind?
Ich bin in der Nähe vom Lützowplatz aufgewachsen. Die Straße, in der ich geboren wurde, ist im Krieg zerstört worden. Mein Haus stand nahe dem Landwehrkanal.
In einem früheren Diplomatenviertel.
Ja, immer wenn ich nach Berlin komme, fahre ich wieder dorthin, um mir anzuschauen, wie das Pflaster jetzt aussieht. Es hat sich verändert. Immerhin, die Gedächtniskirche steht noch. Sie war zu meiner Zeit natürlich eine richtige Kirche.
Ihr Vater war ein großer Flaneur. Er hat Bücher über das Spazierengehen in Berlin geschrieben. Flanieren Sie auch gerne?
Nein, ich bin nervöser als er. Mein Vater war ein gleichmütiger Mann. Er hatte so eine heitere, weise Art, sich zu bewegen. Er hat Städte und Frauen sehr geliebt. Er hat beide auf dieselbe Art geliebt: Er wollte sie nicht besitzen, sondern von ihnen besessen werden. Er hat so schön über Berlin geschrieben ...
Haben Sie diese Sicht auf Frauen und Städte übernommen?
Ich bin mehr der Sohn meiner Mutter als der meines Vaters. Ich verehre meinen Vater, aber ich habe sein Werk erst spät kennengelernt, erst 40 Jahre nach seinem Tod. Mein Anschub zum Leben kommt von meiner Mutter. Sie war eine sehr wilde Figur und hat mir eher das Laufen beigebracht statt das Flanieren.
Die Städte von heute sind auch gar nicht fürs Flanieren gebaut. Paris etwa ist eng und hektisch.
Und mehr noch London. Ich war vor kurzem wieder dort, da geht es in aller Schnelle auf die andere Straßenseite. Das ist die moderne Welt. New York ist schon seit langem so. Paris noch ein bisschen weniger. Man kann in Paris noch ruhig spazieren gehen, die Seine entlang. Wie stressig ist Berlin denn heute?
Sie können zwei Stunden durch den Tiergarten wandern, die Straßen sind breit, auch die Bürgersteige. Es gibt wenige Menschen.
Wenig Masse, großartig! Das muss man beibehalten, das macht eine Stadt angenehm lebenswert.
Waren Sie zu Zeiten der Mauer in Berlin?
Ja, zweimal, in den 70er Jahren. Der deutsche Schriftsteller Manfred Flügge hat sich für meine Familie interessiert und hat uns, als mein älterer Bruder Ulrich noch lebte, gebeten, über unser Leben zu sprechen. Ich war auch im November 1989 in Berlin.
Ach ja?
Ich war damals mit zwei Frauen befreundet, die eine lebte am Wittenbergplatz, die andere in Ostberlin ... Wie heißt noch dieser Berg?
Prenzlauer Berg?
Ja. Beide Frauen kannten sich schon vor dem Mauerfall und hatten miteinander korrespondiert. An dem Abend, als gerade die Mauer gefallen war, waren wir bei der Ostfrau zum Essen. Da hatte ich das Gefühl: Jetzt kommen die Berliner aufeinander zu.
Nehmen Sie noch Unterschiede wahr zwischen Ostlern und Westlern?
Natürlich, sie haben verschiedene Werte. Die im Osten hatten früher das Gefühl, sie werden im Westen nicht akzeptiert. Die im Westen dachten, die anderen müssten von ihnen leben. Das war ein unangenehmes Zusammenleben. Doch das ist überwunden. Man kann nach Weimar fahren, ohne das Gefühl, hier ist Osten und dort ist Westen.
Nach Weimar?
Ich komme seit ein paar Jahren häufiger dorthin: Als ehemaliger KZler aus Buchenwald wird man zu verschiedenen Anlässen eingeladen. Ich fahre auch nach Nordhausen im Harz, in der Nähe lag Dora, das andere Lager, in dem ich war. Als Mitte der 90er Jahre meine Biografie übersetzt wurde, hat mich der Verlag dann herumgetrieben: Frankfurt, Aachen, München, Düsseldorf, überall sollte ich vorlesen ... Mir ist also dieses Deutschland der vergangenen 50 Jahre ziemlich vertraut.
Entwickelt es sich zum Guten?
Unbedingt! Ich bewundere die Verfassung der Bonner Bundesrepublik, eine große Leistung für uns Europäer. Auch die DDR hat einige Werte in sich getragen, die für uns alle wichtig sind.
Welche denn?
Karl Marx ist beispielsweise ein bedeutender Philosoph. Man darf ihn nicht mit Stalin verwechseln. Was Marx uns über den Kapitalismus gelehrt hat, dass wir auf ihn aufpassen müssen, das haben die Ostdeutschen natürlich mitgebracht in das neue Deutschland.
Niemand hat heute mehr Angst vor Deutschland?
Nein, eher Sympathie, gerade für die jungen Deutschen, die es ausgehalten haben, dass ihre Eltern oder Großeltern sich eine Zeitlang so brutal gezeigt haben. Dass sie diese Last überwunden haben, erregt bei den Franzosen große Bewunderung.
Berlin ist voll von jungen Franzosen, die hier leben wollen.
Das ist etwas Natürliches geworden. Man wohnt zusammen, tauscht sich aus und schafft so eine europäische Zukunft.
Man muss beides zugleich sein. Ein guter Diplomat kämpft um seine Werte und auch um sein Land.
Als ich 1964 dort hinkam, war es schon ein freies Land. Ich habe tausende Franzosen beraten und betreut, die dort als Erzieher oder in der Landwirtschaft gearbeitet und Algerien geholfen haben, sich zu entwickeln. Das war wunderbar, die Algerier haben die Franzosen sehr freundlich empfangen.
Wie ist es umgekehrt? Vor einer Weile gab es in Frankreich eine unsäglich populistische Debatte um die ‚nationale Identität‘.
Das Einwanderer-Problem wird nicht richtig angefasst. Ich bin unglücklich, wenn meine Regierung die Roma abschiebt oder die Sans Papiers. Das ist falsch. In Deutschland gibt es diesen Mann, der so schlecht über Muslime redet ...
Thilo Sarrazin.
Genau. Ich halte es für gefährlich, uns alle gegen die Einwanderer aufzubringen. Wir brauchen sie, und wir werden bald mehr Einwanderer haben. Unsere Demografie ist im Absturz. Außerdem hat die Welt immer Bewegungen von großen Massen erlebt. Wir haben Amerika bevölkert, Deutsche sind massenweise ins Ausland gegangen. Da ist es doch natürlich, dass Menschen auch zu uns kommen.
Nationalisten sind dennoch populär.
Diese Parolen: ‚Oh, wir haben Angst vor der Kultur der Muselmänner! Wenn die nach Europa kommen, ist unsere Identität in Gefahr.‘ Das ist Unsinn. Unsere Identität wird stärker, wenn sie multikulturell ist. Was heißt es schon, ein Deutscher zu sein? Deutsche haben auch Vorfahren aus anderen Ländern.
Deutscher sein, das bedeutet: glücklich in Deutschland zu leben.
Sehen Sie sich selbst als Deutscher oder als Franzose?
Ich empfinde mich als Franzose, auf kulturelle Weise. Durch meine Schulzeit, die Sprache. Frankreich ist meine Heimat. Aber eigentlich bin ich ein Weltbürger, der seinen Ursprung in Europa hat.
Das amerikanische Magazin
All das ist noch immer da. Gerade französische Intellektuelle pflegen eine kritische Haltung. Das haben sie von Descartes. Man ist heute auch in Deutschland kritischer als zu der Zeit, als man Hitler glaubte. In der deutschen Erziehung etwa finde ich kritischere Gedanken.
Ein Erbe der 68er?
Das sehe ich so. Was geschah 68? Man lehnte sich gegen Autoritäten auf. Das ist Kritik. Wenn Sie mich aber heute fragen: ‚Existiert noch etwas besonders Französisches?‘ Dann sage ich: ‚Ja! Fahren Sie nach Frankreich, und Sie werden es als etwas sehr Eigenes empfinden.‘
Viele Pariser fassen ihr Leben in dem Spruch zusammen: ‚Metro-Boulot-Dodo‘ – U-Bahn, Arbeit, Schlafen.
Ich kenne diesen Slogan. Wir leben in einer globalisierten Gesellschaft, in der alles nach Profit ausgerichtet ist. Dagegen muss man sich eben empören und fragen: Wie möchten wir eigentlich leben?
Wer ist ‚wir‘? Viele 20- bis 30- Jährige müssen um einen festen Job kämpfen – jeder für sich.
Na, das ist doch ein Grund, sich zu empören! Warum müssen sie in so unsicheren Verhältnissen leben? Weil manche Kräfte mehr Macht haben als der gewöhnliche Bürger. Sie müssen sich fragen: ‚Wer ist schuld, dass es mir nicht so geht, wie es mir gehen sollte.‘ Dann haben Sie einen Grund, sich zu empören. Solange Sie gleichgültig sind und sagen: ‚Ich kann nichts dafür.‘ Oder: ‚Ich habe es versucht, aber es ist mir nicht gelungen‘ – solange sind Sie keine richtige Frau.
Monsieur Hessel, man wird erst zur Frau, wenn man sich gegen etwas stemmt?
Genau, wenn Sie sich fragen: ‚Warum geht es mir so schlecht?‘ Wenn Sie eine Tunesierin sind, werden Sie sofort darauf kommen: ‚Weil mich dieser schreckliche Mann so despotisch behandelt.‘ Dann ist es leicht, sich zu empören. Als Deutsche ist es nicht so leicht. Es geht Ihnen ja ziemlich gut. Aber schauen Sie, wie die Erde zerstört wird, die Wasservorräte privatisiert werden. Schrecklich. Bald können unsere Bedürfnisse nicht mehr erfüllt werden. Da muss man sich doch fragen: Was tue ich dagegen?
In Ordnung, ich empöre mich. Und dann?
Damit tun Sie schon sehr viel. Sie können sich mit Menschenrechtsorganisationen zusammensetzen, Immigranten unterstützen, oder Sie könnten nach Gaza reisen und den Palästinensern helfen.
Oder Vegetarierin werden.
Warum nicht?
Hauptsache empören?
Worüber man sich empört, ist beinahe egal. Man kann die Umwelt schützen oder Tiere, solange man Grundwerte verfolgt: Ökologie oder der Kampf gegen Armut und gegen Gewalt. Sich nur zu empören, weil man zu wenig Gehalt bekommt oder keine schöne Wohnung hat, ist aber ungenügend.
Sie setzen Ihre Hoffnung auf die Jugend. Zeichnen Sie sich die nicht etwas schön?
Wer jung ist und gleichgültig durch die Welt geht, dem fehlt etwas, das ihm gut tun kann. Man muss doch glücklich werden wollen.
Hat Ihre Mutter Ihnen diese Lust auf das Glück vermittelt?
Ja, ein Glück ohne Moral. Es hat mir in schwierigen Zeiten geholfen. Wenn ich gelitten habe, dann dachte ich immer: ‚Das soll mein Glück nicht antasten. Ich werde den Schmerz überwinden können, dann kommt das Glück wieder.‘
In Ihrem Band
Ich lebe, Gott sei Dank, in einem Moment der Geschichte, in dem sehr viel darüber nachgedacht wird, was wir in der schrecklichen Krise tun können: Sie ist noch längst nicht überwunden. Also: Empört euch, um glücklich zu werden!
Vorsicht, um glücklich zu sein, muss man großzügiger werden. Wir brauchen ein neues Denken, wir müssen eine Schwelle überschreiten.
Schwelle – das ist ein zentraler Begriff bei Walter Benjamin.
Ich habe Benjamin noch getroffen, wenige Tage vor seinem Tod im September 1940. Da war er aber depressiv und sagte: ‚Wir befinden uns im Nadir der Demokratie‘, in ihrem schlimmsten Moment.
Benjamin hat resigniert, Sie nicht – Sie waren zweimal verheiratet und haben drei Kinder.
Und
zehn Enkel und fünf Urenkel.
Worüber empören die sich?
Über alles, was mich auch stört.
Herr Hessel, Sie sind 93 Jahre. Ein empörter glücklicher Mann?
Ja, sehr. Aber wann empören Sie sich denn nun endlich?
Stéphane Hessel machte Furore, als im vergangenen Jahr in Frankreich sein Manifest Empört euch herauskam (auf Deutsch bei Ullstein). Mehr als eine Million Mal wurde das Bändchen, das zum friedlichen Widerstand aufruft, dort bisher verkauft. Anfang März erschien nun der Interviewband Engagez-vouz Engagiert euch (bisher nur auf Französisch: Éditions de lAube). Darin plädiert Hessel dafür, die eigene Empörung zusammen mit anderen auf die Straße zu tragen.
Hessel spricht dabei mit der Autorität eines Mannes, der das 20. Jahrhundert mit seinen Höhen und Tiefen erlebte. Er wird 1917 als zweiter Sohn des jüdischen Schriftstellers Franz Hessel und der Malerin und Modejournalistin Helen Grund in Berlin geboren. Im Alter von sieben Jahren zieht er mit seiner Familie nach Paris und wächst unter Künstlern auf. Seine Eltern leben mit dem Schriftsteller Henri-Pierre Roché eine ménage à trois, die die Vorlage für François Truffauts Film Jules et Jim liefert. 1941 schließt sich Hessel in London der Résistance an. 1944 wird er von den Deutschen in Paris verhaftet und nach Buchenwald deportiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg studiert er Philosophie und tritt in den diplomatischen Dienst ein. Als Diplomat lebt er in New York, Algier, Saigon und mehreren afrikanischen Ländern. Er wird UNO-Botschafter Frankreichs. Heute ist er der letzte noch lebende Mensch, der an der Verfassung der Menschenrechtserklärung 1948 beteiligt war.
Seit 1996 setzt sich Hessel für das Bleiberecht illegaler Flüchtlinge ein. Seine Memoiren erscheinen 2002 auf Deutsch. Hessel lebt mit seiner zweiten Frau in Paris. Bei den Regionalwahlen 2010 kandidiert er auf der Liste der Öko-Partei Europe Écologie. ML
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