Eventkritik Der Künstler Victor Boullet möchte die Strukturen und die Heuchler in der Kunstszene entlarven. Bei seiner Vernissage in Berlin konnte man sie sehen
Sind wir alle Social Sluts – Soziale Schlampen? Heuchler, die sich mit Menschen und Dingen umgeben, die uns eigentlich nichts bedeuten? Oder sind solche vor allem in der Kunstszene zuhause? Eine Galerie scheint kein schlechter Ort, um sich davon ein Bild zu machen. Die Galerie Sommer liegt in einem unauffälligen Bürohaus, einer ehemaligen Bettenfabrik in der Kurfürstenstraße, aber nicht auf der Seite von Woolworth, den türkischen Gemüsehändlern und dem Babystrich, sondern auf der verschlafeneren. Die Häuserfassaden sind eleganter, nur wer findet hier hin? Am Eingang der Galerie hängt seit kurzem eine Fahne. The Institute of Social Hypocrisy steht darauf. Das Institut der Heuchelei. Aha, die neue Masche eines Künstlers. Kritischer Blick
;nstlers. Kritischer Blick auf den eigenen Betrieb. Ein bisschen subversiv. Geht sicher gut.Wie komme ich vorwärts?Victor Boullet war erst Fotograf. Als er vor fünf Jahren von London nach Paris zog, kannte er dort niemanden und fragte sich: Wie komme ich vorwärts? Was kann ich tun, um Leute zu treffen? Er gründete das Institut der Heuchelei und will damit die Strukturen der Kunstszene entlarven. Seine Ausstellung This Spectacle eröffnet anlässlich des Galeriewochenendes „Berlin-Paris“, das von der französischen Botschaft initiiert wurde. Hinten im Büro liegen Boullets Magazine und ein Gästebuch aus, es stehen zwei Flaschen Wein auf dem Tisch, ein paar Gläser. Der Galerieraum ist am frühen Freitagabend noch ziemlich leer. An kahlen Wänden hängen vereinzelt bunte Poster untereinander: Werbeplakate für klassische Konzerte in einer kleinen Pariser Kirche. Neben den Namen der Komponisten steht dort in fetten Lettern: „Gespielt auf einem Steinway.“ „Wofür zum Teufel muss man das wissen?“, fragt Victor Boullet, der mit einem Glas Wasser in der Hand im Raum steht. Steinway only hat er mit grüner Kreide auf eine weiße Leinwand geschrieben. Die Marke, das Logo, der Schriftzug: „Das sind die Schlüssel, um irgendwo reinzukommen“, sagt er. Lagerfeld habe auch mal ein Modell für Steinway entworfen, aber das sei einfach nur schlecht, weiß Boullet noch.An anderer Stelle hängt das benutzte Hemd eines Konzertpianisten. H prangt auf dem Wäschezeichen und darunter: Comme des Garcons. „Eine Marke möchte sich aufladen mit einer anderen, etwas sein, was sie nicht ist“, erklärt Boullet mit starkem Akzent. Er ist Halb-Schotte, Halb-Norweger. Der 42-Jährige trägt einen schwarzen Kordanzug und Adidas-Schuhe mit orangenen Streifen. Ein Mann mit Prinzipien. Nike, sagt er, würde er nie kaufen. Boullet nimmt sein Buch von dem Stapel, der in einer Ecke des Raumes errichtet ist, und liest ein paar Namen vor, die auf der Rückseite stehen: Gilbert George, Guy Debord, oder Bill Drummond. „Namedroppping“, sagt er. „Viele möchten in der Kunstszene anerkannt werden, indem sie erwähnen, wen sie alles kennen.“ Sein Blick schweift durch den Raum und landet bei einer Frau mit extravagantem Hut, die auf ihn zueilt. „Ich kenne ihren Hut“, schmeichelt Boullet auf Französisch. „Ach und kennen Sie nicht auch Mathieu aus der Galerie ...?“ Er lächelt und nickt. Der Begleiter der Hutfrau lässt weitere Namen fallen. Ist das etwa eine Inszenierung? Das Paar wirkt wie der real existierende Beleg für Boullets Thesen. „Ich möchte die Heuchelei entlarven, nicht nur meine, sondern auch die des Publikums.“ Das Paar ist schnell wieder weg.Nach und nach füllt sich der Raum, man hält Smalltalk auf Englisch, Französisch, Deutsch. Manche greifen sich ein Buch und blättern kurz darin. Zwei junge blonde Männer sprechen Boullet auf Norwegisch an, seiner Heimatsprache. „Wir sind alle Kunstleute“, sagt einer, der sich als freier Fotograf etablieren möchte. „Und wir leben in einem Ghetto der Heuchelei.“ Seine gesamte Existenz sei Fassade: „Mein Jackett, meine Jeans, meine Schuhe, das ist alles viel zu billig. Die Sachen stellen Leute in China her.“ Trägt sich aber besser, wenn man wenigstens etwas kritisches Denken simuliert. Seine Freundin nickt, man müsse sich bewusst machen, wie scheinheilig man eigentlich lebt. Sie selbst arbeite momentan an einer Bilderserie über afrikanische Frauen in norwegischen Gefängnissen. „Etwas Sinnvolles.“ Ihr Freund möchte noch Kontakdaten austauschen, hat aber leider seine Visitenkarten vergessen. Behauptet er.Einer der Besucher wirkt fremd in diesem Milieu, ein Mittvierziger, der in ausgebeulter Stoffhose und zerknittertem Jackett durch den Raum schlurft. Nur Tarnung?Keine LösungenEr wohne um die Ecke und komme öfter in die Galerie, sagt er leise. „Aber ich gehe da nicht mehr inhaltlich vor. Ich erwarte keine Lösungen von der Kunst. Da kann man auch nicht enttäuscht werden.“ Bei Vernissagen werde oft Material verschwendet. „In diesem reduzierten Raum gehen sie ordentlich um mit den Ressourcen.“ Soziale Heuchelei? Da kann er sich einiges vorstellen. Er sehe ja die „dicken schwarzen Autos, die hinten bei den Nutten parken und dann zurückkehren in ihre Scheinwelt, auf der anderen Seite der Straße“.In seinem „Institut“, einem 40-Quadratmeter-Ausstellungsraum im Marais-Viertel, realisiert Boullet seine Projekte, bringt Magazine heraus, lädt andere Künstler ein. Einmal hat er einen Kurator eingesperrt und mit Walfleisch gefüttert. Er sollte außergewöhnliche Ideen entwerfen. Für Boullet geht das Konzept auf. Er verkehrt mittlerweile mit Tout Paris und den Größen der internationalen Kuntszene. In seinem Buch dokumentiert er den E-Mail-Verkehr mit dem Schweizer Kurator Hans-Ulrich Obrist. Boullet habe eine neue Idee und suche Unterstützung, heißt es dort. „Ein sehr interessantes Projekt. Und wer ist sonst noch involviert?“, antwortet Obrist knapp. Es ist ein Spiel, ein Spiel mit Namen, Boullet spielt es mit.„Ich bin der größte Heuchler von allen“ verkündet er, zwinkert und winkt dann schon wieder einer anderen Bekannten zu. Anders als Damien Hirst Co redet Boullet auch offen darüber.
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