Zivilisieren uns Regeln?

Alltagskommentar In Wien sollen Bürger die tägliche Schlacht zwischen Autofahrern, Kampfradlern und Passanten am runden Tisch beilegen: Aber ist das wirklich der richtige Ort?

Neulich, in dieser Gegend, in der sich vorrangig junge Menschen mit sehr großen Sonnenbrillen zeigen: „Ganz ehrlich, ich hab keinen Bock mehr auf Berlin. Überall diese Hundescheiße, können die das nicht wegmachen? Das muss man bestrafen! Schaffen die doch woanders auch!“ Die feindlichen Linien der Stadt verliefen bislang eher zwischen Fußgängern, Auto-, und Fahrradfahrern. Latte-Mamas und bärtigen Singles. Aus der Ferne Zugezogenen und Locals. Jenen, die in der Tram ihr Bier trinken, und solchen, die das barbarisch finden. So wurden auf Plakaten erst Schwaben („Wir sind ein Volk! Und ihr seid ein anderes“), dann Öko-Bohème („Fuck Yoga“), später „Kampfradler“ attackiert. Sie wollen alle den öffentlichen Raum für sich, niemandem gehört er.

Aber hey! Darüber kann man reden. Zumindest in Wien.

Der Bürgermeister der Stadt hat die „Wiener Charta“ ins Leben gerufen, eine Art selbst verordneten Knigge.

Die Bürger sind eingeladen, einen Kodex für zivilisiertes Verhalten zu entwickeln. Sie konnten per Telefon, E-Mail oder persönlich mitteilen, was sie ändern wollen. Das wurde gesammelt und man kann im Netz verfolgen, welche Fronten sich verhärten: „Wo Hupen verboten ist, sollen sich autofahrende MitbürgerInnen auch daran halten. Wer gereizt im Stau steht, muss seine Agression nicht an die Anrainer weitergeben.“ Anders gesagt: Wien will nicht Rom sein. Ein anderer fordert, diplomatischer, alle Verkehrsteilnehmer sollen möglichst gleich behandelt werden. Wie soll das gehen, wenn sich Fußgänger von Autoradios belästigt fühlen oder in der U-Bahn Mütter mit Kinderwagen ‚absoluten Vorrang‘ fordern? Werden überhaupt alle Parteien bedacht?
„Bei Durchsicht der bisher geposteten Beiträge, möchte man meinen, dass es... primär um das Verhalten im Verkehr, um Deutsch und den Hund geht. Wo aber bleiben die Frauen?“, schreibt alma30. Die Stadt jedenfalls ist für alle da. In Wien sollen bis Oktober „Charta-Gespräche“ stattfinden: Alle Themen, alle Feinde an den runden Tisch! Können sie zivilisierter miteinander umgehen, nach ein bisschen Plauderei? Am Ende soll immerhin eine „Verein­barung über die Regeln des Zusammenlebens und für einen fairen und respektvollen Umgang“ stehen.

Sollte Berlin, tägliche Nahkampf-Demokratie, dem Beispiel folgen? Einen runden Tisch oppositioneller Parteien gab es schon. 1989. Da sollten Gewalt und Anarchie verhindert werden. Aber Reibungen gehören zu einer Stadt. Wo könnten Bürger sie zügiger beilegen als dort, wo sie entstehen. Auf der Straße.

Jetzt schnell sein!

der Freitag digital im Probeabo - für kurze Zeit nur € 2 für 2 Monate!

Geschrieben von

Maxi Leinkauf

Redakteurin „Kultur“

Maxi Leinkauf studierte Politikwissenschaften in Berlin und Paris. Sie absolvierte ein Volontariat beim Tagesspiegel. Anschließend schrieb sie als freie Autorin u.a. für Süddeutsche Zeitung, Tagesspiegel und Das Magazin. 2010 kam sie als Redakteurin zum Freitag und war dort im Gesellschaftsressort Alltag tätig. Sie hat dort regelmäßig Persönlichkeiten aus Kultur und Zeitgeschichte interviewt und porträtiert. Seit 2020 ist sie Redakteurin in der Kultur. Sie beschäftigt sich mit ostdeutschen Biografien sowie mit italienischer Kultur und Gesellschaft.

Maxi Leinkauf

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen