Die neuen Crusoes

Youtube Wieso wir manchmal ein abgelegenes Tiny House kaufen wollen und es nie tun.

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Vor einem Jahr bin ich in die italienischen Alpen gezogen, fernab der Zivilisation. Auf dem Gipfel eines Berges stehen zwei kleine Steinhäuser. Ich blicke hinab. Das Tal erstreckt sich vor mir. Mein Blick verfolgt es bis zum Horizont. Dort steigt es an und wird zu einem Felsmassiv. Dessen Größe hat aus all der Ferne nichts Einschüchterndes mehr an sich, sondern wirkt auf mich wie die feste Umarmung einer vertrauten Person und scheint mir sagen zu wollen: Hier bist du richtig.

Nun, nicht ganz. Es gibt diesen russischen Witz, bei dem ein Mann bei Radio Eriwan anruft und fragt, ob es stimmt, dass Iwan Iwanowitsch in der Lotterie ein rotes Auto gewonnen hat? Der Sender antwortet: “Im Prinzip ja, aber es war nicht Iwan Iwanowitsch, sondern Pjotr Petrowitsch. Und es war kein rotes Auto, sondern ein blaues Fahrrad. Und er hat es nicht gewonnen, sondern es ist ihm gestohlen worden. Alles andere stimmt.”

So ähnlich verhält es sich mit meinem Traum vom Tiny House in den Dolomiten. Im Prinzip ist der Traum in Erfüllung gegangen. Nur lebe nicht ich dort, sondern der Youtuber Martijn Doolard. Und das Felsmassiv in der Ferne sehe ich nicht mit meinen Augen, sondern über das Display meines Laptops. Alles andere stimmt.

Corona plus Youtube

Vielleicht ist es ein Trend, vielleicht nur ein weiteres Rabbit-Hole meines Youtube-Algorithmus. Ich tippe auf Ersteres, nicht zuletzt, weil sich so viel Gegenwärtiges, so viele Post-Corona Tendenzen hierin vereinen.

Es beginnt damit, dass ich im Oktober 2021 auf ein Video des YouTubers Martijn Doolaard mit dem Titel „First days at my cabin in the Italian alps“ aufmerksam werde. Das Video hat ein paar tausend Klicks, vielleicht sind es 40.000. Der gut gekleidete Niederländer berichtete darin, wie er sich ein Grundstück in den Bergen der italienischen Dolomiten gekauft hat. In einem späteren Video wird man erfahren, dass er das drei-Fußballfelder-große Grundstück einschließlich der zwei sich darauf befindenden historischen Steinhütten für nur 20.000 Euro erworben hat. Nun sei sein Ziel für die nächsten Jahre, beide Hütten zu renovieren und Zeit in der Natur zu verbringen.

Das alles erscheint mir recht sympathisch. Das Video fügt sich in den zufälligen Strudel der vielen anderen Videos ein, und ich werde es nach kurzer Zeit wieder vergessen.

März 2022. Ich liege mit Corona im Bett und scrolle durch Youtube. Ich stoße erneut auf den Kanal von Martijn Doolaard. Während ich in meinem Bett liege, immobil in den vier Wänden meines kleinen Schlafzimmers eingepfercht, ziehen mich die Videos von Martijn in den Bann.

Inzwischen ist ein Videoblog entstanden, in regelmäßigen Abständen berichtet Martijn von den Fortschritten seiner Renovierungsarbeiten. Campte er im ersten Video noch mit seinem Zelt in einer der beiden modrigen Hütten, deren löchrige Steinwände und undichtes Dach keinerlei Schutz vor der Kälte boten, hat er sich nun eine kleine isolierte Holzkabine in die Hütte gezimmert. Martijn gräbt Kanäle für die Wasserleitungen, legt ein Gemüsebeet an, verkabelt Akkus und Solarpanels, macht Lagerfeuer, backt Brot, ist ein freier Mann. Seine Videos heben sich ab von den schnellen Schnitten, Musikeinspielungen und sonstigen Reizüberflutungen, die man von anderen Blogs, wie beispielsweise denen des New Yorkers Casey Neistat gewohnt ist. Martijns Videos sind Entschleunigung – die bloggisierte Yogastunde. Vor malerischen Landschaften schlägt Martijn einen Nagel nach dem anderen in ein Brett und man sieht ihm dabei in 5-minütigen Einstellungen zu, die sich zu 30-60 minütigen Videoblogs aneinanderreihen.

Corona plus Youtube gleich Homesteading

Nun könnte man vermuten, dass ich hier auf eine sehr spezielle Nische gestoßen bin. Interessant für ein paar isolierte Corona-Kranke mit viel Zeit, aber in keinem Fall massentauglich. Wie falsch man damit liegen würde! Martijns Kanal ist kräftig gewachsen, seit ich ihn im Oktober 2021 entdeckt habe. Sein erstes Video wurde mittlerweile 4,8 Millionen Mal geklickt, seine restlichen Blogs haben zwischen 200.000 und 400.000 Klicks. Der Kanal selbst zählt über 429.000 Abonnenten (Stand Dezember 2022). Martijn ist nicht alleine. Seine Videos lassen sich zur sogenannten Homesteading Bewegung zählen. Wortwörtlich übersetzt sich das als „Instandsetzen“, meint darüber hinaus aber vor allem einen selbstversorgenden und genügsamen Lebensstil.

Homesteading Videos sind beliebt auf Youtube. Ein Blick in die Statistik zeigt, dass gerade durch Corona das Interesse deutlich gestiegen ist. Ähnlich wie man politisch davon spricht, sich von der Globalisierung abzuwenden, scheint es auch auf individueller Ebene ein gesteigertes Interesse an lokaler Versorgung zu geben.

Interessant ist hierbei Martijn Doolaards eigener Lebensweg. Bekannt wurde er nämlich ursprünglich durch seine Reisereportagen, als er für mehrere Jahre mit seinem Fahrrad um die Welt fuhr. Ein Nutzer schreibt unter das erste Video von Martijn, was wohl erstrebenswerter sei: tausend verschiedene Orte einmal, oder einen Ort auf tausend verschiedene Weisen zu erleben. Es scheint, als habe Martijn die gleiche Frage umgetrieben.

Homesteading Videos wie die von Martijn Doolaard geben der durch Corona aufgezwungenen Immobilität ein Format. Der begrenzte Blick auf die eigenen vier Wände wird hier ins Positive gekehrt. Arbeiten, wie einen Tisch zu zimmern, den Boden zu fegen oder das Blumenbeet zu pflegen, sind keine notwendige Plackerei, sondern werden zu Oasen der Resonanzerfahrung mit der unmittelbaren Wirklichkeit.

Gerade nun, da die Pandemie sich ihrem Ende neigt und die Zeit wieder knapp wird, sind es Videos, wie die von Martijn, die manchen nostalgisch von einem langsameren Leben träumen lassen. Zugleich zeigt Martijn, wie sich dieses „ursprüngliche" mit dem modernen Leben verbinden lässt. Solarpanels liefern Strom für Kühlschrank, Dusche, Werkzeuge, Handy und Laptop. Martijn erwähnt, dass er aus seinem Refugium in seinem Beruf als Webdesigner völlig remote arbeiten könne.

Simulierte Authentizität

Dieser Realismus lässt Martijns Lebensentwurf fast greifbar erscheinen, entzaubert mir die Videos aber auch ein wenig. Ach stimmt, der muss ja auch Geld verdienen, denke ich mir. Warum kann das, was man sieht auch nicht einfach mal so sein, einfach nur so? Warum muss Authentizität eigentlich immer simuliert sein?

Das romantische Bild von Martijns Leben in den Bergen bekommt einen weiteren Kratzer, als ich auf das Video des YouTubes George Dunnett mit dem Titel „How Much YouTube Paid Me for My Tiny House Video“ stoße. Völlig im Unklaren darüber, wie viel Geld man mit Youtube verdienen kann, staune ich nicht schlecht, als Dunnett berichtet, er habe für sein 11-millionenfach geklicktes Video über 52.000 $ von Youtube bekommen. Überträgt man das auf Martijn Doolaard, so wird dieser mit seinen Videos in einem Jahr über 100.000$ verdient haben. Mittlerweile dürfte er mit seinen Videos pro Monat ein Einkommen von etwa 10.000$ erwirtschaften.

Der bescheidene Lebensstil – und vor allem: die Inszenierung dieser Bescheidenheit – macht Martijn zu einem reichen Mann. Dabei ermöglichen Martijn und die vielen anderen Homesteader auf Youtube sich ihr abgeschiedenes Leben mit den Einnahmen aus einer Werbemaschine, die genau deshalb funktioniert, weil ihre Zuschauer zum Gegenteil animiert werden.

Wenn das Medium die ‚Message‘ ist, dann wären das einfache Leben Martijns und das Idyll der Dolomiten reine Kulisse zur Inszenierung einer Sehnsucht, die notwendigerweise Sehnsucht bleiben muss, wenn das Youtube-Video von der neuesten iPhone Werbung unterbrochen wird oder Martijn Produktwerbung für japanische Messer, Camping-Öfen oder Power-Converter in seinen Videos einbaut.

Influencer, so argumentieren Wolfgang M. Schmitt und Ole Nymoen in ihrem gleichnamigen Buch, sind Werbekörper. Sie agieren antiaufklärerisch, weil sie scheinbar intime Einblicke in ihr Privatleben geben. Doch in Wahrheit sind diese Einblicke nichts anderes sind als eine Dauerwerbeshow, bei der Werbung keine Unterbrechung mehr ist, sondern schon die eigentliche Unterhaltung.

Die Produktplatzierungen in Martijns Videos sind eine Ausnahme. Im engen Sinne ist er kein Influencer. Seine Videos lassen sich nicht auf die Werbung reduzieren. Einem Film spricht man auch nicht seine Qualitäten ab, weil davor ein Werbeblock läuft.

Dennoch glaube ich, dass die Werbung zentral ist, um die Faszination seiner Videos zu verstehen. Wenn sie denn erfolgreich ist, geht es bei der klassischen Werbung nie nur darum, zum Kauf eines materiellen Produkts anzuregen. Entscheidend ist, dass auch immer eine immaterielle Sehnsucht hervorgerufen wird – ein fantastisches Bild davon, wer wir sein könnten, wie uns andere sehen könnten. Und noch entscheidender ist, dass diese immaterielle Sehnsucht nie vollständig durch das materielle Produkt befriedigt wird. Man wird konstant enttäuscht, aber gerade so viel, dass man auch in Zukunft darauf reinfallen möchte.

Und so spielen auch die Videos von Martijn mit einer Sehnsucht. Das Produkt ist Martijn selbst, den die Zuschauer:innen Woche für Woche mit ihren Klicks weiter finanzieren. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben, die Martijn verkörpert, wird mit jeder Werbeunterbrechung enttäuscht. So kann die Sehnsucht Sehnsucht bleiben.

Natürlich kann man auch all das ignorieren und die unendlich schöne Szenerie in Martijns Videos genießen. Wahrscheinlich werde ich genau das auch in Zukunft tun. Ich kann mich damit abfinden, dass mit meiner Sehnsucht gespielt wird.

Und doch schwingt bei dem ganzen eine Traurigkeit mit, dass es eine riesige Masse an Technologie braucht – riesige Serverfarmen auf der anderen Seite des Atlantiks, Tausende von Programmierern, die einen Algorithmus schreiben, der mir durch Millionen Zeilen an Code das richtige Video zur richtigen Zeit mit der richtigen Werbung, anbietet, mit einem Link der auf einen von tausenden zu mir passenden Onlinestores verweist– dass es all das braucht, nur damit ich daran teilhaben kann, wie ein netter Mensch sich in der Ruhe unberührter Natur mit seinen Händen im Schreinern eines Tisches verwirklichen kann.

Dieser Artikel erschien im Original auf aboutkollektiv.de

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Max Pieper

Geschichten über den Fortschritt und uns.

Max Pieper

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