Der Börsenhandel ist auch nicht mehr, was er mal war, könnte man kulturpessimistisch seufzen, wenn man dieser Tage ins Kino geht. Als Bud Fox, gespielt von Charlie Sheen, Mitte der achtziger Jahre in Oliver Stones Film Wall Street ins Manhattan seiner Träume fuhr, um Karriere als Börsenbroker zu machen, benutzte er noch die U-Bahn. Abends war er in der Vorortkneipe unter all den gewöhnlichen Menschen, die keine Anzüge tragen und die nicht gierig die Zahlentabellen im Wall Street Journal überfliegen, zumindest noch nicht fremd.
Natürlich kann man sich seine sentimentalen Nochs sparen, denn vermutlich waren all diese Setzungen Stones schon damals romantische Flausen: Manipulationen des Publikums, um ihm mit dem all American guy Bud Fox ein Identifikationsangebot vorzusetzen, das die Lektion vom sich beschleunigenden und realwirtschaftlich entkoppelnden Investmentbanking leichter lernen lässt. Aber es ist durchaus interessant, Martin Scorseses jüngsten Film The Wolf of Wall Street gegen diese Bilder zu halten. Dessen Handlung setzt nämlich ungefähr zur gleichen Zeit ein wie Stones Wall Street, also Mitte der achtziger Jahre. Und auch wenn die geschäftlichen und privaten Korruptionen des Jordan Belfort, gespielt von Leonardo DiCaprio, noch im alten Jahrhundert enden, also vor dem Platzen der Dotcom-Blase und der Lehman-Bros.-Pleite, erzählt Scorsese im Wissen um die Entwicklung, die die Finanzwirtschaft in den letzten 25 Jahren zurückgelegt hat.
Zwischen zwei Amerikas
Von heute aus betrachtet ist Wall Street ein fast rührend sozialdemokratischer Versuch, die Dämonen der Enthemmung durch Moral zu bändigen, einen gesellschaftlichen Ausgleich zumindest auf ideeller Ebene herzustellen, wenn der Gewinner sonst schon alles kriegt. Wall Street ist, der amerikanischste aller Konflikte, eine Geschichte von Vätern und Söhnen. Oder besser: eine Geschichte von Vätern und Sohn, denn die Prüfung für Bud Fox besteht darin, sich zwischen zwei Vätern zu entscheiden, zwischen seinem richtigen, einem Flugzeugmonteur (gespielt von Sheens tatsächlichem Vater Martin), und dem bewunderten, dem Finanzinvestor Gordon Gekko (Michael Douglas).
Bud Fox stand auf der Schwelle zwischen zwei Amerikas, die durch die beiden Vaterfiguren verkörpert wurden, und dass Wall Street am Ende durch Läuterung seines Helden und gar eine Aussage vor Gericht den neuen Vater, den grinsenden Neoliberalismus, als den falschen zu erweisen versucht, hat ihm nichts genutzt. Gordon Gekko ist im aufreizend haifischartigen Spiel von Michael Douglas zu einer ikonischen Figur geworden, deren Habitus und Reden alles überstrahlen, was der Film an Moral oder auch Empörung dagegen zu mobilisieren versuchte.
Wall Street war der Film, der junge Menschen wie Jordan Belfort, dessen Lebensgeschichte Scorsese nun erzählt, fürs Investmentbanking begeistert hat. Das sind die merkwürdigen Rückkopplungseffekte zwischen Kunst und Leben, die einen Einwand wie Kapitalismuskritik locker übertönen: dass eine Figur wie Gekko gerade ob ihrer Bösartigkeit und ihres Zynismus zum Role Model für Heerscharen von Börsenmaklern geworden ist. Was diese Strahlkraft angeht, ist Gekko in der jüngeren Zeit nur Tony Montana vergleichbar, dem von Al Pacino gespielten Mafioso aus Brian De Palmas Film Scarface (1983).
Mit The Wolf of Wall Street stellt Martin Scorsese, auch mit Blick auf sein eigenes Werk, die Verbindung zwischen dem Tony-Montana- und dem Gordon-Gekko-Business her. In Hexenkessel (Originaltitel: Mean Streets, 1973), Good Fellas (1990) und Casino (1995) trug das Gangstertum, von dem Scorsese erzählte, bei aller versteckten oder offeneren Fasziniertheit kriminelle Züge. Diese Mafiosi waren Figuren, die von der anderen Seite des Gesetzes kommend durch ökonomischen Erfolg in die bürgerliche Sphäre der Gesellschaft strebten.
Gesellschaft als Pyramidenspiel
Mit den Brokern wie Jordan Belfort verhält es sich genau umgekehrt: Sie kommen aus der bürgerlichen Sphäre der Gesellschaft, die in The Wolf of Wall Street nicht näher bestimmt wird, organisieren ihren Aufstieg aber über illegale Geschäfte. Die zu beschreiben gibt Scorsese sich nicht erst Mühe: Es interessiere doch eh keinen, sagt Leonard DiCaprio, der sich im Film mehrmals direkt an den Zuschauer wendet.
Auf der Ebene der Arbeit versuchte Oliver Stone zumindest anzudeuten, wie die Finanzwirtschaft funktioniert. In Wall Street konnte man immerhin auf den Rechner von Bud Fox schauen, bewertete Gordon Gekko mit Wichtigtuer-Ratschlägen die Informationen seines Zöglings und eiferte der Schüler dem Vorbild nach in der Annahme, es ginge darum, besonders viele Informationen besonders früh zu haben, um die richtigen Aktien von den richtigen Unternehmen zu kaufen (um später festzustellen, dass die Unternehmen keine Rolle spielten, solange man mit ihrer Zerlegung Geld verdienen konnte).
Bei Scorsese erfährt man aus The Wolf of Wall Street nichts darüber, wie der Aktienhandel von Belfort abläuft. Man erfährt noch nicht einmal etwas über Arbeit im eigentlichen Sinne. Die Bilder (Kamera: Rodrigo Prieto) zeigen den Erfolg immer nur aus der Perspektive von DiCaprios Belfort: von vorn. Seinen Erfolg begründet „Wolfi“ durch das Verticken von außerbörslichen Kleinstwerten, dokumentiert wird der durch Ansichten der wachsenden Bürofläche von „Stratton Oakmont Inc.“ und steigender Mitarbeiterzahl. Scorsese zappt sich durch diese Bilder, in denen Belfort zur Ansprache vor seine Angestellten wie ein Guru erscheint.
Das, was der Film über die Finanzwirtschaft verbreitet, ist entkoppelt selbst von Bemäntelungen durch Sinn. Würde man The Wolf of Wall Street als Karriereanleitung lesen wollen, so bestünde die Botschaft darin, dass man nur irgendeinen Namen benötigt von irgendetwas, das Wertpapierähnlichkeit suggeriert, um das dann irgendjemandem zu verkaufen, der sich immer irgendwie finden lässt: die Gesellschaft als Pyramidenspiel. Wie in einer Sekte wird Belfort zu Beginn von Mark Hanna (Matthew McConaughey) in den Klub aufgenommen und in die Regeln eingewiesen: Es geht allein um Umverteilung zu den eigenen Gunsten.
Der FBI-Ermittler: antriebslos
Der zweite auffällige Unterschied zu Wall Street beziehungsweise der Konvention des amerikanischen Films ist die Abwesenheit eines Vater-Konflikts. Der Vater von Belfort (gespielt von Regisseur Rob Reiner) wird als cholerischer „Mad Max“ zur scheinbaren Kontrolle in der Firma angestellt. Er regt sich für die Galerie über hohe Restaurantrechnungen auf und ist wie sämtliche Figuren allenfalls eine Karikatur (das Personal ist generell eher drollig als smart, was einfache Lacher generieren soll).
Zudem mangelt es The Wolf of Wall Street an einem zwingenden Antagonismus: Der FBI-Ermittler Denham (Kyle Chandler), der Belforts Machenschaften schließlich vor Gericht und ihn für 22 Monate ins Gefängnis bringt, ist ein schweigsam-bescheidener Charakter, der schon zu antriebslos wirkt für ein Katz-und-Maus-Spiel, das dieser Film hätte auch sein können. Auf einer politischen Ebene könnte man darin einen desillusionierten Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse erkennen: Der Sieg des obszönen Kapitals, wie Belfort es repräsentiert, ist so total, dass ein überzeugter Polizist daran nichts Grundsätzliches ändern kann und nicht mal mehr im Kino noch zum Helden wird.
Wohlstandsprätention bis zum Überdruss
Für die filmischen Qualitäten verursacht diese Erzählweise allerdings arge Probleme. The Wolf of Wall Street mangelt es Spannung, der Film hat keine Form, weil er sich seine Dramaturgie selbst inflationiert durch billige Posen, die an die Stelle von Exposition, Peripetie oder Klimax treten. Jordan Belfort wird so leicht reich, dass es keinen Spaß macht. Und dieser Reichtum macht erst recht keinen Spaß. Das – ebenfalls seit Wall Street existierende – Vokabular der Wohlstandsprätention wird bis zum Überdruss durchbuchstabiert: Koks, Yachten, High Heels, Drinks, nackte Frauen, Blow-Jobs auf dem Rücksitz.
In den USA hat es zum Start eine kleine Diskussion gegeben, ob Scorsese seinen Protagonisten glorifiziere, der, heute kaum vermindert reich, Verkaufsseminare gibt. Die realistische Antwort lautet: Was denn sonst? Das hängt allerdings nicht an einzelnen Szenen des bravourös spielendenDiCaprios, sondern allein an der Perspektive, aus der dieser Film erzählt wird. Die Systemrelevanz dieses irrelevanten Films beginnt mit der Entscheidung, die Rechte an den Memoiren von Jordan Belfort für eine Verfilmung zu kaufen. Ein Außerhalb des Irrsinns kann es so nicht geben.
Wie weit die Wirkmacht des Kinos reicht, kann man an flankierenden Erzählungen sehen wie dem Spiegel-Artikel von Alexander Osang. Der will seinen Besuch bei dem FBI-Ermittler, der als Vorbild für Denham diente, unbedingt in Literatur verwandeln – und hält es deshalb für eine gute Idee, das durchschnittliche Leben des Polizisten permanent gegen den Reichtum von Belfort abzuwerten, was immer das mit diesem Leben zu tun hat. Der einzige Trost angesichts solch tiefsitzender Erfolgsgläubigkeit ist da vielleicht, dass selbst künftigen Investmentbankern die Figur des Jordan Belfort in The Wolf of Wall Street einfach zu blöd ist, um damit an Karriere zu glauben.
The Wolf of Wallstreet Martin Scorsese USA 2014, 179 Minuten
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