In der Dokumentation Die Mitte, die kürzlich in den Kinos zu sehen war, begibt sich der Filmemacher Stanislaw Mucha auf die Suche nach dem geographischen Mittelpunkt unseres Kontinents. Mucha findet gleich mehr als ein Dutzend Orte, die dank verschiedenster Berechnungsgrundlagen für sich in Anspruch nehmen, das Herz Europas zu sein. Gemeinsam ist den Flecken vom Hessischen bis nach Litauen dabei, dass sie allesamt in der Provinz liegen. Das ist ein Paradox des Kontinents, der genaugenommen auch nur ein halber ist: die Mitte befindet sich immer außerhalb des Zentrums.
Diesen Verdacht nährt nun zum elften Mal die Kunstausstellung Rohkunstbau, die im eineinhalb Autostunden entfernten Südosten Berlins stattfindet. In Groß Leuthen, einem Ort von herausragender Unauffälligkeit am Anfang des Spreewalds: 700 Einwohner, Kirche, See, Wasserschloss und eine nie fertig gewordene Veranstaltungshalle aus Beton. Die renovierte Kirche steht Besuchern allzeit offen, und der See ist von melancholischer Größe und erhabener Friedfertigkeit, weshalb er den Badenden mit dem Gefühl entlässt, dass es so schnell so schön nicht wieder werden wird. Jedes Mal aufs Neue. Im Ort weisen Schilder einen großen Zeltplatz aus, den man vom Schloss aus aber nicht sieht, ohne darüber böse zu sein. Der Zeltplatz trägt den Namen Euro-Camping, was ein erstes Indiz auf die Präsenz des Kontinents selbst in seinen kleinsten Teilen gibt. Überall ist Europa die Maßeinheit von Größe und Bedeutsamkeit, wo diese nicht gegeben sind.
Relativ bedeutsam geworden ist Groß Leuthen nicht wegen des Zeltens am See, sondern dank des Wasserschlosses und der unfertigen Veranstaltungshalle. Der Rohbau ist ein stilles Mahnmal der Wende. Die dort vorgesehenen Arbeiterfestspiele entfielen 1990, weil es die DDR nicht mehr gab, die sie veranstalten wollte. 1994 begründete der damalige Medizinstudent Arvid Boellert gemeinsam mit Kai Uwe Rettig in dem Leerraum die Rohkunstbau, die im Laufe der Zeit auch jenseits der Kreisstadt Lübben wahrgenommen wurde. Vor fünf Jahren zog die Rohkunstbau in das eigenwillige Wasserschloss, dessen Fundamente aus dem Mittelalter stammen und angesichts dessen jetziger Form man vergeblich nach einer Zeit sucht, die dort nicht ihre Spuren hinterlassen hat. Nach dem zweiten Weltkrieg zum Waisenhaus umfunktioniert, dient der Ostflügel noch heute als Heim für Kinder und Jugendliche.
War die Rohkunstbau in ihren Anfängen eine Ausstellung lokaler Künstler, finden sich unter den zwölf Namen der von Mark Gisbourne und Boellert kuratierten Schau gerade mal zwei deutsche (Thomas Florschuetz, Cornelia Schleime). Und betrachtet man weiterhin die Länder, aus denen Yehudit Sasportas, Lina Kim, Shilpa Gupta oder Chen Shaofeng stammen - nämlich: Israel, Brasilien, Indien und China -, werden selbst die räumlichen Assoziationen gesprengt, die der Titel der Ausstellung nahe legt: Ein europäisches Portrait #2. Der Beschleunigungsphilosoph Paul Virilio hat schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, dass Landkarten sich nicht mehr nach gemessenen räumlichen Entfernungen richten, sondern an der Geschwindigkeit orientieren sollten, die man braucht, um sie zurückzulegen. Analog dazu wäre ein Wahrnehmungsplan für unsere globalisierte Zeit vorstellbar, und wenn die Kunst-Welt am Groß Leuthener See ihr Zelt aufschlägt, dann liegt das Dorf plötzlich nahe bei Berlin und weit entfernt von Gröditsch, Liebchel oder Neubükchen.
Shilpa Gupta hat in einem marmornen Badezimmer des Schlosses eine Installation eingerichtet, die von den korrigierten Distanzen einer kleiner werdenden Welt zeugt. In die Wanne werden, mehrfach gespiegelt, sich drehende Häuser im Kolonialstil projiziert, die schließlich im Ausfluss des Bades verschwinden. Die stilistischen Statthalter sind Erinnerungen der Künstlerin an ihren Kindheitsort der - seinerzeit über hundert Kilometer von Bombay entfernt gelegen - heute einverleibt ist von der wachsenden Metropole. In der Installation ist die Verdichtung von Raum und Zeit in die Bewegung des Strudels übersetzt, der Welt und Geschichte erfasst hat.
Dass man zur Kunstbetrachtung auf einem Badewannenrand Platz nimmt, ist Programm der Rohkunstbau, die ihr europäisches Porträt mit den Mitteln von Groß Leuthen ausgemalt wissen will. Es geht nicht um eine Leistungsschau der Provinz für den Rest der Welt, sondern darum, die Welt in der Provinz sichtbar zu machen. Passend zum Begleitprogramm aus Performances, Kino und Lesungen ("Von der Metropole ins Dorf") kann man an der Kasse T-Shirts mit dem Aufdruck "Metropole" oder "Dorf" erwerben, wobei es im Sinne der Ausstellung eigentlich egal ist, für welche Variante man sich entscheidet. Die Umstülpung, die Metropole dahin setzt, wo vorher Dorf war, führt am deutlichsten das beinahe vollständig abgehangene Schloss vor, in dessen Dunkel mit verschiedensten Mitteln von der nicht mehr sichtbaren Umgebung berichtet wird. Der Österreicher Markus Huemer hat im Foyer eine Projektion installiert, die die Vögel des Sees virtuell in den Eingangsbereich des Schlosses holt. Kristina Incuraite aus Litauen lässt eine Dorfbewohnerin zu zwei unmerklich dunkler werden Bildern die Geschichte eines Unfalls aus Liebe erzählen, die sich im 17. Jahrhundert im See ereignet haben soll. Außen und Innen verknüpft dagegen der Pole Miroslav Balka, der als Reminiszenz an kollektives Duschen vergangener Tage einen riesigen weißen Seifenhalter in einem der oberen Zimmer aufgestellt hat. Das dazugehörige Stück Seife findet sich erst, wenn der Betrachter den Blick durch das Fenster auf den See richtet, auf dem eine nicht minder große weiße Boje schwimmt.
Das wohl schönste Projekt zur Ausweitung Groß Leuthens in globale Dimension hat Chen Shaofeng unternommen. Normalerweise auf dem chinesischen Land unterwegs hat der Maler zweiundfünfzig Dorfbewohner zum Porträt gebeten und ihnen zugleich einen Pinsel in die Hand gedrückt. Die Doppelporträts zeigen jeweils den von Shaofeng gemalten Dorfbewohner sowie 250 zeichnerische Mutmaßungen über den Künstler. So entsteht das facettenreiche Antlitz von Groß Leuthen. Und indem der Künstler in seinem eigenen Werk verschwindet, gleichwohl er vielfach anwesend scheint, macht sich das Dorf sein Bild von der Welt.
XI. Rohkunstbau, noch geöffnet bis 22. August, Mittwoch bis Freitag 16 bis 19 Uhr, wochenends 10 bis 19 Uhr. Der Katalog kostet 20 EUR.
(Anfahrt: mit dem Auto: BAB 13, Abfahrt Halbe / Teupitz Richtung Lübben, Groß Leuthen liegt an der B 179; mit der Bahn: RE 14 oder RB 2 Richtung Cottbus bis Lübben, weiter nach Groß Leuthen mit dem Bus oder am WE mit der Niederlausitzer Eisenbahn)
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