Den meisten Menschen kann man den Namen Lothar Reher nicht einfach sagen, man muss ihn erklären. Bei einigen wenigen dagegen entfaltet er die Wirkung eines Codeworts, das den Zugang zu einem Reservat aus Erinnerung, Kennerschaft und Respekt freigibt. Die Prominenz von Lothar Reher ist die eines Menschen, der es in seinem Metier weit gebracht hat, das aber ein Metier ist - auch wenn die einigen wenigen nicht zu unrecht Kunst dazu sagen - in dem Autorschaft kein Kriterium der Wahrnehmung ist.
Lothar Reher ist Buchgestalter. Auch Fotograf, Grafiker, Maler, aber das gehört alles dazu: zum Buchgestalter. Bekannt gemacht haben ihn die Reihen bei dem Verlag Volk und Welt: Ex Libris, Erkundungen, die weiße Lyrik-Reihe, die Dramen-Reihe, vor allem aber Spektrum, die so genannte schwarze Reihe. Minimalistische Klarheit - das Schwarz, das Weiß, die gleichberechtigten im Rechteck angeordneten Schriften, Autor, Reihenname, Titel, Gattungsbezeichnung - und zugleich, als Gegengift gegen die Kühle, Fotos, Collagen, auch klar, aber konkret, widersprüchlich, tief.
Von Reher stammt der Umschlag zu Thomas Brussigs Wendeburleske Helden wie wir, und wer das Buch auch nur vom Sehen kennt, der wird, wann immer er den Titel hört, das Cover-Bild vor Augen haben, diesen antiken Unterleibstorso eines Mannes, nackt, "mit dem Piepel", sagt Reher, und am rechten Bein versehrt. Reher sagt auch, mit der Schrift habe er sich ein wenig verrannt. Die spätere Vefilmung hat nicht erst versucht, ein eigenes Plakat, mit Darstellern oder so, dagegen zu zu setzen. So zeugt der "Piepel" von jener ikonischen Kraft, die einen gelungenen Buchumschlag auszeichnet: das Bild ist mit dem Buch und das Buch mit dem Bild untrennbar verbunden. Alle Menschen, die Brussigs Buch kennen, kennen Rehers Umschlag, aber nicht seinen Namen. Das ist das Los des Typografen.
In Eisenhüttenstadt
Die Spurensuche nach Lothar Reher beginnt in Eisenhüttenstadt. Dort sitzt in einem renovierten Kindergarten das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. In einem noch nicht renovierten Flügel des Gebäudes lagert das Bucharchiv von Volk und Welt, hinter Aufbau in der DDR die Nummer zwei, der Verlag für die internationale Literatur. 2001 hatte der Verlag die Wende nicht überlebt, die Bücher kamen nach Eisenhüttenstadt. Da lagern sie wild, kaum erfasst, das Dokumentationszentrum ist klein, vier Mitarbeiter, ein wenig erinnert alles an Opas Dachboden, auf dem Doktoranden und andere Interessierte sich ihre eigene Ordnung der versunkenen Zeit schaffen können. 2003 hat das Zentrum eine Ausstellung organisiert, in der auch zwei Filmschnipsel aus dem Rundfunkarchiv gezeigt wurden, auf denen Reher zu sehen ist.
Der eine, noch in schwarz-weiß, datiert von 1962, gedreht zum 15. Geburtstag des Verlags, man sieht den jugendlich-dandyhaften Reher, wie er sich mit der Verlagsspitze, alles ältere Herren und Damen, die Herren in Anzügen, über Bücher beugt. Es wird erzählt vom Volk-und-Welt-Stil, "knapp, prägnant, überlegt, überlegen, frech", und mancher Schwierigkeit, also wie "unser Buchgestalter, der Herr Reher" Tag und Nacht neben den Druckmaschinen saß, damit ein Majakowski-Band fertig wurde. Das ist die eine Sorte Geschichten von der Buchgestaltung in der DDR, die Materialknappheit, Papierzuteilung, Schriftenmangel. Die andere Sorte handelt von dem paradiesischen Personalstand, der künstlerischen Freiheit, insofern ihr Warenförmigkeit egal sein konnte, der Bedeutung des künstlerischen Leiters, der Reher ab 1964 war, der sich eben mit über die Manuskripte beugen und Bücher "abschießen" konnte.
Der zweite Schnipsel stammt vom Ende der siebziger Jahre, in Farbe, Reher in seinem Atelier, das Fernsehen zu Gast, das dem Fotoband Mecklenburg Aufmerksamkeit verschaffen will. Fritz-Rudolf Fries hatte Texte verfasst, Reher Fotos gemacht. Außerdem führt er die Marmorierkunst vor, eine Kunstform, die "nicht nur in der DDR einmalig sein dürfte"; auf einen Algenabsud werden per Pipette Farben aufgebracht, die sich nicht vermischen, sondern nur verdrängen, spezielles Papier drauf, mit einer Bürste aus Schweinsborsten drüber gestrichen, zum Trocknen aufgehängt.
Das "Mecklenburg"-Buch
Bei all dem kann man Reher zuschauen, der virtuos wie ein Marimbaphonspieler die Pipetten, Schweinsborsten und Papiere bedient. Auf die Frage, ob ihm als Buchgestalter langweilig geworden sei, antwortet Reher: "Jaaa, det sollte eigentlich sein, vielleicht...", und man merkt, dass ihm das Unwohlsein bereitet, das Reden in die Kameras, und auch das Reden über seine Kunst. Am Ende kommt aber ein schöner Satz heraus, eine Definition von Kunst, wie sie nur jemand liefern kann, für den Kunst immer auch mit Gebrauch zu tun hat, der Gebrauchsgegenstände als Kunst ansieht. Er wollte, sagt Reher, "einmal Dinge machen, die keinen Auftraggeber haben." Zum Mecklenburg-Buch gibt es noch Fragen, das sähe ja alles aus wie 19. Jahrhundert, hätten Leser geklagt, wie es heißt, was vermutlich nur heißt, dass die Auftraggeber nicht zufrieden waren, die zwar zeigen wollten, dass Mecklenburg nicht nur aus Neubauten besteht, sich die Idylle aber anders vorgestellt hatten als auf den kontrastreichen Fotografien des kargen Landes.
Und Reher antwortet wieder so einen Reher-Satz mit "Jaaa" am Anfang, dass er frei von der "Belastung der Repräsentanz" habe fotografieren wollen. Wieder so ein Satz, bei dem man sich fragt, warum Reher, obwohl es einige Ausstellungen gab ab 1971, Wien, Berlin, Karl-Marx-Stadt, Wiesbaden, nicht Künstler geworden, sondern Buchgestalter geblieben ist. Eine Vermutung: Weil bei der Typografie der "Auftrag" durch das Buch so vieldeutig ist, dass für die Kunst noch genug Platz ist. Und weil umgekehrt die Freiheit der Kunst so groß ist, dass ein "Auftrag" nicht mehr erkennbar wird.
In Berlin. André Kahane am Telefon, Grafiker, Anfang der siebziger Jahre für eineinhalb Jahre bei Volk und Welt, frisch von der Schule aus Weißensee, "ich kann doch gar nichts erzählen", und legt aber gleich los, der Reher sei Setzer geworden, weil seine Mutter ihm mit auf den Weg gegeben habe, "gedruckt und gelogen wird immer, das hat er mir wirklich erzählt". Später in seinem Büro in Prenzlauer Berg: Reher sei – als Chef zwar nicht ganz leicht, rauer Ton, Nettigkeiten gab´s nicht, aber sehr erfrischend – der "fantasievollste, kreativste, beweglichste Buchgestalter der DDR" gewesen. Beweglich meint die Fähigkeit Rehers, als selbst gestaltender künstlerischer Leiter Aufträge abzugeben, vielfältige Stile zu engagieren. Auf seinen Reihen, erzählt Reher später, habe er nie gesessen, bei den Erkundungen etwa die Gestaltung nach ein paar Büchern abgegeben. Spektrum war die Ausnahme, bis auf einen hat er alle Bände gemacht, ursprünglich aber hatte er damit andere beauftragen wollen, und am Ende nur selbst entworfen, weil ihn die drei Vorschläge nicht überzeugten.
In Berlin
Berlin-Lichtenberg, am Tierpark, Neubausiedlung, ein Ramschmarkt, der Plattenbau, in dem Heiner Müller gewohnt hat bis 1993, seit ein paar Jahren erinnert eine Tafel daran. Hoch oben wohnt Axel Bertram, Gebrauchsgrafiker, Professor in Weißensee, auch Buchgestalter. Die Wohnung aufs Akkurateste und Geschmackvollste eingerichtet, die Bücherwände ein Paradies für Bibliophile. Bertram erzählt, wie auch Kahane, von den Schwierigkeiten mit den Schriften, die jeder Gestalter trickreich sich beschaffte, kopierte, hortete. Zu Reher sagt er "Toleranz, Robustheit, Durchsetzungsvermögen", die "schwarze Reihe" ein "Geniestreich", eine kühne Frechheit, nur schwarz und weiß, vor allem schwarz.
"Reihen funktionieren nur über eine gewisse Zeit", die Schwierigkeit besteht darin, dass der Umschlag zur Reihe und zum Buch passen müsse. Willy Fleckhaus, der für Suhrkamp etwa die legendäre Edition und die Bibliothek gestaltet hat, sei da viel enger gewesen, und irgendwann passt der Umschlag dann zwar noch zur Reihe, aber nicht mehr zum Buch. Diesem Minimalismus hat sich Reher durch das Foto auf der Umschlagseite entschlagen, das durch den schwarzen Grund Tiefe bekommt. "Szenographie", sagt Bertram, für Reher sei alles Material gewesen, das er wie auf einer Bühne inszeniert hat.
Schließlich bei Lothar Reher selbst. Berlin-Pankow, knarzende Altbauwohnung, akkurat wäre das falsche Wort, eher ein Museum von Rehers ziellosem und doch absichtsvollem Sammeln, in dem er seit dreißig Jahren wohnt. "Den Tisch hier hat mir Gertrude Heym geschenkt, och, hat der Stefan getobt." Für die erste Frau von Stefan Heym hat Reher seine erste Reihe entworfen.
Geboren wurde Reher in Westpreußen, noch vor dem Krieg kam die Familie nach Berlin, die Setzerlehre fing er an, weil erst die Mutter, dann der Vater starb, deswegen kein Gymnasium, sondern nach der 7. Klasse von der Schule ab. Diese Woche ist Reher 75 geworden, aber der "Siebenklassenschüler", als den er sich selbst gern bezeichnet, ist lebendig geblieben. Reher ist ein anregender, wie gesagt, erfrischender Erzähler, Anekdoten, durchsetzt mit wörtlicher Rede, Berliner Dialekt, kräftigen Ausdrücken, freudigem Lachen.
Nach Süddeutschland
Reher ist Schelm und Raubein zugleich, er erzählt, wie er als junger Mann den großen John Heartfield angefahren hat, "der war immer so misstrauisch und so nervös", oder, "det war och Piraterie", wie er zu den drei Entwürfen, die ein Grafiker für den damaligen künstlerischen Leiter Walter Berger bei ihm abgab, seinen hinzufügte und dem Vorgesetzten, der Grafiker habe gerade geliefert, vier präsentierte. Am Ende musste er beichten, dass der ausgewählte von ihm stammte. Trickreich ist er immer geblieben. Als nach der Wende Verlagsvertreter ihn in "seinem Büro" besuchen wollen, simulierte er einen Betrieb in seiner Wohnung mit lauter Freunden.
Für seine Entwicklung, sagt er, sei Glück wichtig gewesen, und die Fähigkeit, Entscheidungen herbeizuführen, zu erzwingen. Ganz am Anfang kam Fritz J. Raddatz zu ihm, auch so jung, aber studiert, stellvertretender Lektor, ein Buch mit Texten zu Riemenschneider, man würde ihm, Reher, Kataloge aus der Staatsbibliothek holen, dann könne er die Illustrationen auswählen. Tausend Riemenschneider-Fotos später ist kein geeignetes dabei, distanzierte Kunstfotografie, und Reher schlägt Raddatz vor, nach Süddeutschland zu fahren, um die Plastiken selbst zu fotografieren, acht Tage lang, "det war die längste Reise meines Lebens, kam mir vor wie halbes Jahr, so intensiv war das". Raddatz willigt ein, am Ende erscheint der Band mit Rehers Fotografien, die viel subjektiver sind als die Museumsbilder. "Ich habe die Distanz überwunden", sagt Reher, und vielleicht ist das auch ein Satz, der für das Leben gilt, etwas, dass sich nur ein "Siebenklassenschüler" traut.
Lothar Reher ist kein reflexiver Mensch in dem Sinne, dass er sein Tun, seine Kunst erklären könnte in sauberen Sätzen. Die Philosophien über das Tote,Morbide seiner Collagen und Fotos, die Statuen, die Totenköpfe, die Stillleben, sind ihm fremd. Reher sieht darin nur Form, einfach, drastisch, brauchbar. "Mit nem Totenkopp und nem Akt krieg ich jedes Buch illustriert", hat er denen im Verlag gesagt, man hat sich schließlich auf einen Akt und einen "Totenkopp" pro Jahr geeinigt. "Die im Verlag wollten auch immer Worte", wo er, der Grafiker, der reduzieren muss im Bild, einfach macht, probiert.
Er hat eine eigene Sprache, die bildhaft ist und von Betonungen lebt. Obwohl häufig ein Wort, das im durch den Kopf geht, "sich nicht entscheidet zum Wort", also ausgesprochen zu werden, erklärt Reher dann doch noch seine Theorie von einer Reihe, nämlich das jedes Buch nicht nur dazu passen, sondern der Reihe auch etwas Neues hinzufügen müsse, sie fortschreiben. Die Originalentwürfe für Spektrum, die einzigen, die er aufgehoben hat, hat er Anfang der neunziger Jahre der Berlinischen Galerie übergeben. Vor ein paar Jahren kam ein kleiner Verlag auf ihn zu und fragte nach einer Neuauflage der "schwarzen Reihe", Reher machte Umschläge, die daran erinnerten, aber anders waren. Später ging der Verlag ein.
Reher erzählt ohne Groll von den Brüchen im Leben und Arbeiten, etwas säuerlicher wird die Stimme, als es um Volk und Welt geht nach der Wende und das Ende. Sein Ende als künstlerischer Leiter bei dem Verlag 1978, nach allem Hickhack um die Erklärung gegen die Biermann-Ausbürgerung, scheint sich in ein Arbeitsleben zu fügen, das mit dem Verlag gewachsen ist und das damals wie der Verlag erwachsen genug war für die Selbständigkeit.
Seit einem Jahr ist Lothar Reher "am Abtrainieren", wie er sagt, und lacht. Er macht kaum mehr Arbeiten, eigentlich müsste er jetzt schreiben, ein Buch, seine Geschichten, es gibt ein paar Ideen. Aber mit dem Schreiben, dem Verfassen von Büchern tue er sich so schwer. Obwohl der Name Lothar Reher dann endlich mal auf dem Titel stünde. Alleine. Als Autor.
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