Der Geist der Buchhaltung ist dem Museum nicht fremd. Das Museum ordnet und bilanziert, seine Zahlenkolonnen sind die Zeitalter, sein Schlussstrich die Gegenwart, in der es steht. Von da aus schaut es zurück und stellt aus, was vom Gewesenen für die Zukunft zu behalten ist. Dagegen ist nichts zu sagen.
Pikant wird dieses Ordnungsprinzip, wenn etwas ins Museum kommt, das nichts weniger als totale und gelebte Gegenwart für sich beansprucht. Rock! Jugend und Musik in Deutschland - über den Titel mögen die Philologen streiten - heißt eine Ausstellung, die das Bonner Haus der Geschichte zur Zeit im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig präsentiert. Damit verbindet sich die Frage, wie man ein Lebensgefühl ausstellen will, das sich an etwas Ephemerem wie Musik entzündet. Der zeitgeschichtlichen Unterfütterung der Populärkultur eignet etwas seltsam Sprödes. Die Artefakte, auf die sich die Schau stützt, sind die zum Überdruss fetischisierten Elvis-Uniformen, Beatles-Plattencover und Breakdance-Uniformen, die - wiewohl sie unbedingter Teil der Pop-Historie sind - aus ihrem Kontext gelöst und in Vitrinen verbannt der Lebendigkeit beraubt werden, die sie versprühen sollen. Die Distanz zum ausgestellten Objekt ist aufgehoben, weil der Betrachter, anders als bei gotischen Kirchenfenstern, den Jute-Beutel des Gammlers aus eigener Anschauung, wenn nicht eigenem Gebrauch kennt. So verdirbt der museale Ernst im Nachhinein das luftige Spiel der Zeichen, mit denen sich in der Alltagsinszenierung des Einzelnen Distinktion herstellen ließ. Anders gesagt: Der Bravo-Starschnitt der norwegischen Band A-ha war im Kinderzimmer stolzer Ausdruck geglückter Sammlerleidenschaft und diente der Befriedigung früher Sehnsüchte nach Identifikation. Im Museum wirkt das lebensgroße Poster dagegen als langweiliges Indiz einer ethnologischen Beweisführung.
Ethnologie heißt hier Nostalgie, weil die verschiedenen Stämme innerhalb von 50 Jahren Populärkultur von sich selbst besichtigt werden. Das ist nicht gänzlich unattraktiv. Der Besucher darf den Eindruck erhalten, dass sich um seine Biographie gekümmert wird. Das Publikumsinteresse ist identisch mit den Einschaltquoten von Revival-Sendungen wie der 80er-Jahre-Show, und so zuckt unweigerlich die Hüfte der älteren Dame, wenn Elvis erklingt, durchfährt einen der wohlige Schauder von verlorener Hoffnung, wenn Scott McKenzies Flower-Power-Hymne If you´re goin´ to San Francisco pathetisch durch das Jetzt tönt, wippt der Fuß des kahl gewordenen Altrockers vor alten Rockpalast-Aufzeichnungen. Des Menschen Recht auf Sentimentalität bricht sich uneingeschränkt Bahn, während der Erkenntnisgewinn in eine Sackgasse führt: Was hier an Gefühlen mobilisiert wird, erledigt die Shuffle-Funktion des iPods zu jeder Zeit.
Aufschlussreich ist die Ausstellung zum einen, wo sie zeitgeschichtlich im politischen Sinne werden kann, wo "Rock" als Chiffre für gesellschaftliche Subversion funktioniert. Für die Bundesrepublik endet der Zeitraum in den siebziger Jahren, in der DDR reicht die Diskussion um die "Zersetzungskraft" von Popmusik bis in die Herbsttage 1989, wenn Toni Krahl, Gerhard Gundermann und andere auf eine "Klarstellung" über den Verlauf eines Gesprächs mit FDJ-Funktionären in der Zeitung Junge Welt drängen. So kann man sehen, wie ähnlich die Nomenklatura beider deutscher Staaten anfänglich auf das Überschwappen der "transatlantischen Veitstanzmusik" reagiert. Die SED gesteht der Jugend scheinbar ihren eigenen Takt zu, "Hauptsache, sie bleibt taktvoll", während sich mit ähnlichen Ressentiments beladen die Boulevardblätter des Westens über den Berliner Waldbühnen-Auftritt der Rolling Stones ereifern. Tanzstundenfilme aus Ost und West vom Anfang der sechziger Jahre zeigen, wie die durch Verweigerung aufbegehrende Jugend ("Ich gammle, bis ich ein Ziel gefunden habe") auf den patriarchalischen Geist des Nationalsozialismus trifft. Mit bekanntem Ausgang: Wo im Westen eine Liberalisierung der Gesellschaft eintritt, an deren Ende man heute in einer Ausstellung wie dieser über den repressiven Ton von einst schmunzelt, werden die langen Haare im Osten kriminalisiert und zum Fall für die Staatssicherheit, die die Beat-Demo vom Leipziger Leuschnerplatz oder die Blueser-Treffen in Altenburg akribisch überwacht.
In der Bundesrepublik ist das Schicksal des Pop als dominierender Alltagskultur schon in den Anfängen vorgezeichnet. Der Tagebuch-Eintrag einer passionierten Elvis-Anhängerin tröstet sich über die nur kurze Begegnung mit dem verehrten Sänger bei einem Aufenthalt in Hamburg damit hinweg, dass immerhin "mein linker Arm in der Nordsee-Zeitung zu sehen" war. Der Reiz medialer Verwertbarkeit des scheinbar unschuldigen Rock entfaltet hier bereits Wirkung. Vor diesem Hintergrund ist die Liberalisierung der Bundesrepublik nicht allein als großzügige Toleranz einer freien Gesellschaft zu verstehen, sondern auch als die Einsicht geschäftstüchtiger Unternehmer, dass sich mit dem, was Moralaposteln Magenschmerzen bereitet, Geld verdienen lässt. Die Schwierigkeiten des Ostens mit dem Transfer westlichen Lebensgefühls in die abgeschlossene "Zone" dagegen verdanken sich nicht zuletzt dem Umstand, dass keine Industrie bereitstand, die daraus hätte Kapital schlagen wollen. So wird die Geschichte der DDR-Jugendkultur für einen westlich dominierten Blick am Ende wieder zur Ethnologie. Die Nachfrage nach Selbstverwirklichung in den Farben und Formen des Pop konnte statt durch Angebote zumeist nur durch Nachmachen befriedigt werden. In diesem Sinne liefert die DDR, wenn man nach einer spezifisch deutschen Populärkultur fragt, vermutlich die besseren Antworten. Der Gürtel für das Funkgerät von Puhdys-Gitarrist Dieter "Quaster" Hertrampf ist ebenso selbst gemacht wie das Outfit von Silly-Sängerin Tamara Danz oder die Hitlisten, die Paul Kellas aufgezeichnet hat. In Anlehnung an die durch Verkäufe - und manchmal auch Einflussnahme der Plattenlabels - erstellten Charts des Westradios, befragte Kellas junge Menschen in Bars und Clubs wöchentlich nach ihren Favoriten. Den Moment der Kommerzialisierung, dem in der späten DDR durch Lizenzplatten und Westverwandtschaft vorgearbeitet worden war, hat Peggy Meinfelder in einem Kunstprojekt erfasst, für das sie junge DDR-Bürger nach der Verwendung ihrer 100 DM Begrüßungsgeld gefragt hat.
Aufschlussreich zum zweiten ist die Leipziger Schau aber vor allem durch den Rahmen, den sie setzt. Wenn Pop, obschon unter Reibungsverlusten, so übersichtlich und unaufgeregt in ein Museum passt, wenn die MTV-Revolution schon brav historisiert als Übergang vom dilettantischen Videoclip zum aufwendigen und schließlich zur Herrschaft der Klingelton-Charts auf einer Monitorwand gezeigt werden kann, dann hat sich "Rock", wie wir ihn kennen, erledigt. Das ist die These, die die Ausstellung durch ihre Existenz manifest macht: Pop und Jugendkultur als eine Erzählung von dauerhafter Subversion funktionieren nicht mehr. Was unterm Strich bleibt, ist offen. Oder, um es mit einer Frage aus dem Bewerberbogen von Deutschland sucht den Superstar zu sagen: "Warum willst Du Deutschlands Superstar werden?"
Noch bis 17. April im Zeitgeschichtlichen Forum in Leipzig, von 25. Mai bis 15. Oktober im Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn. Katalog, Chr. Links-Verlag, Berlin 2005, 19,90 EUR
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