Die neue Ordnung

Realitätsflucht Politik und Medien rutschen in atemberaubendem Tempo nach rechts – Ausdruck einer tiefen Verunsicherung
Ausgabe 26/2018

Anfang vergangener Woche, als Markus Söders Entdeckung des „Asyltourismus“ schon mediale Wirkung entfaltete, erschien eine kurze Agenturmeldung. Die bestätigte, was der Tagesspiegel schon im Mai vermeldet hatte: Die Bundesregierung führt in ihrer Statistik über Opfer rechter Gewalt nun 83 Tote seit 1990 (für die Zeit davor gibt es keine Zahlen).

Dass eine breite Öffentlichkeit davon Notiz genommen hätte, lässt sich schwerlich behaupten. Vom Neuigkeitswert betrachtet ist das Thema zweifach ein Downer: In einer unbekannten Vorgeschichte wird nachträglich eine Korrektur vorgenommen. Von ein paar Expertinnen abgesehen, weiß kein Mensch, dass man offiziell bislang 76 Todesopfer rechter Gewalt zählte; wenn das Thema für eine Unterhaltungsshow nicht so abtörnend wäre, könnte sich Wer wird Millionär? daraus die Millionenfrage basteln.

Die Ignoranz lebt davon, dass außer den NSU-Morden (10 Tote) und den Brandschlägen von Mölln (3) und Solingen (5) keine der Taten gewusst wird: Namen von Opfern wie Günter Schwannecke, Beate Fischer oder Dieter Eich haben im kollektiven Gedächtnis keine Spuren hinterlassen. Zur Verunklarung der richtigen Antwort trägt bei, dass bei den Zahlen von Todesopfern rechter Gewalt verschiedene Angaben kursieren; Journalisten und Verbände kommen bei ihren Statistiken entsprechend auf weit höhere Zahlen als die Bundesregierung (150 bis fast 200 Tote).

Der ganze Komplex ist ein blinder Fleck in Geschichte und Gegenwart der Bundesrepublik. Etwas, das durchrutscht, etwas, das nicht auf den Titelseiten des Boulevards hysterisiert wird, etwas, das die Bevölkerung nicht beunruhigt, etwas, das kein politisches Handeln auf den Plan ruft. Oder zumindest nur langsam: dass die Zahlen jetzt korrigiert wurden, ist Folge des NSU-Untersuchungsausschusses, der die mangelhafte polizeiliche Erfassung kritisiert hatte; dass sie öffentlich wurden, verdankt sich Politikerinnen wie Petra Pau (Die Linke), die regelmäßig Anfragen stellen. Aus Sicht der desinteressierten Öffentlichkeit in Zeiten des „Vogelschisses“ wirkt das allenfalls rührend – wo die Musik doch scheinbar gerade ganz woanders spielt.

Komfortable Theorie

Dabei berührt die Ignoranz gegenüber rechter Gewalt zentrale Punkte in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Sie ist, erstens, ein Beispiel dafür, was – um es einmal mit der manipulativen Selbstviktimisierung der AfD und ihrer angeschlossenen rechtsextremen Netzwerke zu sagen – „verschwiegen“ wird. Jahrelang werden Menschen umgebracht nach dem immer gleichen Muster, aber medial wird daraus keine große Geschichte, kein Skandal.

Das weist, zweitens, auf die Grundgestimmtheit unserer Gesellschaft hin (und kann damit als einfaches Dementi des AfD-Gebrülls von der „linksgrünversifften“ Hegemonie dienen, das – wie letztlich alle diskursiven Attacken der nur sogenannten Neuen Rechten in den letzten Jahren – als Einfallstor in die öffentliche Debatte taugt). Schon das weihevolle Wundenlecken nach Trumps Wahlsieg hätte diesbezüglich stutzig machen können. Denn schuld an Trump sollte angeblich der Einsatz für Transgender-Toiletten gewesen sein – selbstzerknirscht formuliert von Publizisten, die noch nie ein Argument aufgewendet hatten für jene „Identitätspolitik“, mit der es nun angeblich „übertrieben“ worden war. Wie kann man das glaubhaft finden?

Mülltrennung, veganes Essen und eine verbale Aufgeschlossenheit gegenüber der Ehe für alle mögen für bürgerliche Schichten in einen zeitgemäßen Lebensstil integrierbar sein. Die Ignoranz gegenüber den Opfern rechter Gewalt beleuchtet aber eine viel tiefer sitzende Empathielosigkeit, die zu hinterfragen scheinbar naturgegebene Grundstimmungen unserer Gesellschaft beträfe. Denn die Antwort auf die Frage, warum die vielen Toten schweigendes Desinteresse bewirkten, liefert der gesellschaftliche Status der Opfer: Nicht-Weiße, Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte. Angehörige jener Schicht also, die von der Leistungsgesellschaft eh als Verlierer missachtet werden (schon weil sonst die Idee einer Leistungsgesellschaft weniger glorreich wirkte).

Und so erscheint, drittens, die Ignoranz gegenüber Opfern rechter Gewalt bei bürgerlichen Schichten als notwendige Voraussetzung dafür, sich das Märchen des eigenen Nicht-Ideologisch-Seins zu erzählen („ideologisch“ sind allein die alle belehren und bekehren wollenden Linken), die Geschichte der eigenen Liberalität, die es in einer komfortablen Extremismustheorie schön hat. Mitte ist, wer immerfort beide Extreme ablehnt – achten Sie mal darauf, wie oft bei Bekenntnissen gegen rechte Gewalt der strukturell ganz anders disponierte Linksextremismus ungefragt mit abgelehnt wird, während kein bürgerlicher Sprecher auf die Idee käme, angesichts der, grob gesagt, G20-Krawalle in Hamburg zu bekennen, er finde die NSU-Morde aber auch schlimm.

Sich nach rechts öffnen zu können – wie es Politik und Medien gerade in atemberaubender, selbstvergessener Geschwindigkeit tun –, um dem schlechten Gewissen des eigenen Privilegiertseins zu entkommen, das mit „links“ assoziiert wird, bedarf der Ignoranz gegenüber Opfern rechter Gewalt. Ohne die Entkoppelung von den Konsequenzen rechten Denkens, als die eine Gewalt erscheint, die zur völkisch-autoritären Ideologie gehört (die rechte Rhetorik gibt sich wenig Mühe, das zu bemänteln) und sich zuerst immer gegen die Schwächsten richtet, wären der bürgerlichen Mitte Ausweichbewegungen vor ihrer eigenen Selbstblindheit verstellt.

1A-„Compact“-Cover

Wirksame Politik gegen das menschenverachtende Gelärm der AfD wäre die weitsichtige Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums – eine Idee, auf die die SPD nicht mal dann kommt, wenn sie zum Schatten ihrer selbst geschrumpft ist. Ein Beispiel wäre eine Wohnungsbaupolitik, die dem Immobilienmarkt Grenzen setzte und mit sozialer Durchmischung aller Viertel für gesellschaftlichen Frieden sorgte.

Es ist bezeichnend, dass die sich als mackernder Problemlöser gerierende CSU auf diesem Feld das „Baukindergeld“ als politische Lösung verkauft, die Steuern in die Taschen einiger weniger verteilt, die keine Angst haben sollen, nicht mehr dazuzugehören. Und es ist fatal, was Erkenntnisse aus dem Berliner Untersuchungsausschuss zum Breitscheidplatz-Attentat nahelegen: dass die Beobachtung des späteren Attentäters abgebrochen worden sei, weil die betreffenden LKA-Beamten für die Symbolpolitik des CDU-Innensenators gebraucht worden seien, der sich vor den Abgeordnetenhauswahlen als starker Mann gegen ein der Immobilienspekulation sich widersetzendes Hausprojekt profilieren wollte.

Die bittere Ironie der Flucht nach rechts, für die Medien und Politik in den letzten Tagen noch einmal einen Gang höher geschaltet haben, besteht darin, dass sie mit der Mimesis an die Politiktrolle von der AfD und der ihr verbundenen Organe ohne Not aufgeben, was sie einmal stark oder wenigstens ausgemacht hat. Eine FAZ, in der Reizwörter kompilierende Herausgeber-Kommentare rechte Realitätsverleugnung kopieren; eine Zeit, die die Junge Freiheit nachäfft („Ein Mord, der etwas ändern muss“); ein Stern, der mit einem 1A-Compact-Cover daherkommt („Das zerrissene Land: Der Mordfall Susanna F. und das Ende von Merkels Flüchtlingspolitik“) – all das wirkt schwach, weil getrieben von einem unreflektierten Gefühl des eigenen Bedeutungsverlusts, dem damit nur Vorschub geleistet wird (statt mit hintergründiger Recherche den Vorteil gegenüber den Hassschleudern von rechts auszuspielen).

Ähnliches gilt für die Politik, wo der parteiintern entmachtete Horst Seehofer zum Mittel gegen Söders Abstiegsangst bei der kommenden Landtagswahl geworden ist. Und wo Söder selbst – und mit ihm der blasse österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der seine Wahl erkauft hat durch den Pakt mit einer wenig zimperlichen, neonazistisch grundierten FPÖ – durch sein rechtes, Politik verknappendes Wording („Asyltourismus“, „Belehrungsdemokratie“) das System demoliert, das ihm Gestaltungsspielraum gestattet hat.

Die CSU hat sich ihre Geschichte lange als Fähigkeit zur Integration des rechten Rands erzählt. Man kann diese Geschichte aber auch anders betrachten: als Verhinderung einer Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von rechter Ideologie und der ihr innewohnenden Gewalt. Die Aufklärung des Oktober-Attentats im rechten Terrorjahr 1980 wurde von dieser CSU sabotiert. Das Oktober-Attentat ist bis heute der terroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik, der die meisten Opfer gefordert hat.

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