In Berlin hängen Wahlplakate. Auf einem ist ein Mann mit jugendlichem Aussehen und seriösem Auftritt zu sehen. Der Mann heißt Peter Pawlowski, er gehört der FDP an, und der Slogan, mit dem er für sich wirbt, lautet: „Freiheit statt Bevormundung“.
Und? Könnten desillusionierte Beobachter des politischen Geschäfts fragen, nur eine weitere nichtssagende Werbeformel, Wahlversprechen funktionieren nicht wie Pizzabestellungen. Und? Könnten selbst weniger desillusionierte Beobachter fragen, ein Wahlslogan ist kein Parteiprogramm, wie soll man in drei Worten politische Inhalte transportieren.
Aber darum geht es nicht. Man muss die Slogans der Parteien ernst nehmen, weil die Parteien, wenn sie bei Wahlen erfolgreich sein wollen, die Sorgen der Wähler ernst nehmen müssen. Slogans sind der Versuch, dem Wähler seine Wünsche von den Lippen abzulesen, Antizipation seiner Sehnsüchte. Und an dieser Stelle ergibt sich bei Peter Pawlowski Diskussionsbedarf: Warum das, wozu Freiheit die Alternative sein soll, Bevormundung ist, erklärt sich in einer Gesellschaft, die sich frei und demokratisch nennt, keineswegs von selbst. Welche Bevormundung, vor allem: durch wen, meint Peter Pawlowski, wenn er Freiheit als Antidot empfiehlt?
Ein Anruf in der FDP-Fraktion Berlin-Mitte führt nicht weiter. Die freundliche Frau am Telefon ist überfragt, es ist der erste Tag nach dem Urlaub. Sie gibt die E-Mail-Adresse von Peter Pawlowski heraus, der allerdings nicht antwortet. Oder nicht mehr rechtzeitig; die Recherche war doch sehr kurzfristig.
Wenn der Wecker klingelt
Beim Versuch, sich einen Reim zu machen auf die „Bevormundung“, die Peter Pawlowski meint, hilft: wiederum Werbung. In einem aktuellen Spot für das Internetfernsehen der Telekom kann man, passend zum Start der Fußball-Bundesliga, Uli Hoeneß sehen, der Präsident des FC Bayern München und Wurstfabrikant ist. Hoeneß fährt mit Kindern Karussell und erzählt, warum Kompromisse eigentlich eine gute Sache sind. Dann sieht man Hoeneß beim Tischfußballspielen, Grillen und Fernsehgucken mit Hund, und Hoeneß erklärt, wo er keine Kompromisse macht: beim Fußball, Würschtelmachen und Fernsehen.
Das mag auf den ersten Blick eher traurig als einleuchtend wirken. Der Fußball und das Würschtelmachen beschreiben erfolgreich das Selbstverständnis von Hoeneß. Wenn das Selbstverständliche nun unter dem Vorwand einer im Grunde asozialen Kompromisslosigkeit durchgeboxt werden muss, dann stimmt etwas nicht. Denn Kompromisslosigkeit steht plötzlich für das, was man in anderen Zeiten mit Freiheit, Selbstbestimmung oder Erfüllung umschrieben hätte.
Wie die Kompromisslosigkeit zum Substitut von Freiheit werden konnte und mit der Bevormundung zusammenhängt, die Peter Pawlowski möglicherweise im Sinn hat, macht ein anderer Spot aus der gleichen Kampagne deutlich. In ihm betet der Schauspieler Christoph Waltz das Mantra einer fremdbestimmten Angestelltenexistenz herunter, zu sehen sind dazu im Zeitraffer Bilder eines hektischen Großstadttages: „Wir stehen auf, wenn der Wecker klingelt. Wir rennen, wenn wir Termine haben. Wir folgen Regeln, Vorschriften, Plänen, wir richten uns nach 1.000 Dingen.“
In Ketten gelegt
Dieses Szenario ließe sich durchaus unter den Begriff Bevormundung fassen. Eine Bevormundung, die zwar kein Subjekt kennt, aber durch eine nachempfindbare Gefühlswelt legitimiert wird. Der Werbespot kalkuliert, wie möglicherweise Peter Pawlowski, mit dem Unbehagen an dieser Liste aus Anforderungen, rechnet mit der Erlösung von einer Getriebenheit, die als Fluchtpunkt zum stressigen Arbeitstag immer an die sedierte Ruhe von Wellness-Einrichtungen denken lässt – für den Fall, dass das Internetfernsehen der Telekom mit seinen zahllosen Optionen eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist.
Solches Unbehagen lässt sich vielleicht deshalb so deutlich und so grob wie im Begriff der Bevormundung artikulieren, weil das Gegenüber so diffus ist: Schuld kann man am eigenen Gehetztsein keinem geben außer dem Konformismus, in den man sich jeden Tag beim Einhalten von Terminen und Arbeitspensum fügt. Das führt zu einem Missverhältnis, bei dem die Beschreibungen des Unbehagens überwiegen. Der Journalist Adam Soboczynski etwa hat vor kurzem in der Zeit eine rührende Vermischtes-Meldung als Folie für eine solche Form der Kulturkritik genommen.
Es handelt sich um die Geschichte des dislozierten Pinguins, der mittlerweile „Happy Feet“ genannt wird. Er war von der Antarktis bis nach Neuseeland geschwommen, hatte dort Sand mit Schnee verwechselt und gefressen, weshalb ihm der Magen mehrfach ausgepumpt werden musste. Soboczynski erkennt darin eine für den Menschen „arttypische, repressive Fürsorge“, indem er unterstellt, dass der Pinguin den Sand aus Verzweiflung und zum Selbstmord entschlossen zu sich genommen habe. Der Mensch bevormundet die Kreatur: „In welch seltsame Welt der Pinguin doch geraten ist. Eben noch empfand er sich auf dem Gipfel seiner Freiheit, schon aber ist er in Ketten gelegt und soll seinen Rettern auch noch dankbar sein.“
Keine Olympischen Spiele
Mag sein, dass es so gewesen ist. Kann aber auch sein, dass Soboczynski in seinem Brass auf die repressive Welt etwas verwechselt. Froh darüber, endlich ein Subjekt seines Unbehagens gefunden zu haben, den Menschen, identifiziert er sich in seinen Träumen von Wildnis und Freiheit mit dem Pinguin, der kompromisslos den Freitod einer Rettung durch Fürsorge vorzieht.
Dabei ist es womöglich hilfreicher – und das gälte auch für Peter Pawlowski und seine Wähler – in diesem Fall nicht flugs zum Tier überzulaufen, sondern Mensch zu bleiben und das Tier lediglich als Symbol begreifen, das den eigenen Konformismus sichtbar macht. Das wäre die Geschichte, die der Filmemacher Christian Petzold bei den Dreharbeiten zu Dreileben erzählt hat. Dreileben ist ein Projekt, bei dem drei Regisseure (neben Petzold Dominik Graf und Christoph Hochhäusler) je eigene Langfilme am gleichen Ort und um den gleichen Kriminalfall herum entwickelt haben: Ein Straftäter (Stefan Kurt) ist aus einer Anstalt ausgebrochen.
Für Petzold steckt in dieser Flucht eine Standardsituation gesellschaftlicher Träume: Häufig in den „ungeraden Sommern“, in denen keine sportlichen Großereignisse wie Olympische Spiele oder Fußball-Weltmeisterschaften die Zeit verkürzen (was eine interessante Verbindung zu dem Uli-Hoeneß-Spot bedeutet), entfliehe ein Tier oder auch ein Verbrecher (Dieter Zurwehme). Irgendwann solidarisiere sich die Gesellschaft mit dem Entflohenem, weil der Sommer lang ist, und die Freizeit, die er verspricht gerade nicht als verschieden von der gewöhnlichen „Ausbeuterarbeit“ wahrgenommen wird. Stattdessen erblickten die Menschen im verirrten Tier ein Symbol jener Freiheit, die sie nicht haben können.
Man muss sich die Bevormundung von Happy Feet als Akt solidarischer Bewunderung vorstellen.
Peter Pawlowski will am 18. September gewählt werden. Christian Petzolds Dreileben-Teil Etwas Besseres als den Tod ist am 29. August ab 20.15 Uhr in der ARD zu sehen, gefolgt von Dominik Grafs Komm mir nicht nach (21.45 Uhr) und Christoph Hochhäuslers Eine Minute Dunkel (23.30 Uhr), dazwischen gibt's nur die Tagesthemen und das Wetter. Happy Feet soll demnächst in einer Kühlbox zum 50.Breitengrad gebracht werden, um von dort aus in die Antarktis zurückzuschwimmen
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