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56. BERLINALE Die auffällige Präsenz des deutschen Films belegt vor allem eins: Es gibt wieder eine ganze Riege von Regisseuren, die mehr als einen Film fürs Kino machen

"Das könnte mal ein Großer werden", ist ein Satz, der von den kundigen Rändern der Fußballbeobachtung überliefert ist. Wer ein Talent erblickt, das Hoffnungen weckt, der prophezeit ihm eine glorreiche Zukunft. Die Einlösung des Versprechens besteht zumeist nur in Kontinuität: Die Weiterentwicklung hin zum bedeutenden Spieler meint nicht mehr, als dass ein Talent verletzungsfrei durch seine besten Jahre kommt. Der physisch belastbare Michael Ballack ist ein Beleg dafür, der für Blessuren anfällige Deisler ein Gegenbeispiel. Große Spieler waren einfach selten krank.

Im Kino ist die Verfassung des Einzelnen weniger wichtig, weil sein Weg nicht von ihm allein abhängt. Verletzungen werden von anderen zugefügt, und von diesen anderen gibt es in Deutschlands Filmförderverwaltungsindustrie viele. Die Berlinale zeigt in diesem Jahr so viele deutsche Filme, dass Moritz de Hadeln, ihr einstiger, legendär deutschunwilliger Leiter mehrere Hände bräuchte, um sie an seine Fingern abzuzählen. Das Erfreuliche und gänzlich Anti-Nationale daran ist, dass es sich dabei nicht um eine krampfhafte Ranküne gegen den Schatten de Hadelns handelt. Der deutsche Film hat in den letzten Jahren einen qualitativen Sprung gemacht. Heute erscheinen in einem Jahr mehr interessante Filme als in den gesamten neunziger Jahren.

Und in der Spitze lässt sich diese positive Entwicklung vor allem an einem Umstand ablesen: der Kontinuität. Die prägenden Regisseure des derzeitigen deutschen Kinos sind um die vierzig und haben sich auch dadurch etabliert, dass sie seit Jahren regelmäßig arbeiten. Dabei ist nicht so wichtig, dass jeder neue Film den vorangegangenen übertrifft, sondern wichtiger, dass ein nicht völlig geglückter Film nicht sofort zur Verbannung auf die Ersatzbank führt. Hans-Christian Schmid ist einer von ihnen, der zuletzt mit Lichter und nun mit Requiem im Wettbewerb vertreten ist.

Oskar Roehler ist ein anderer. Und was für einer. Eigentlich ist Roehler, abgesehen von Die Unberührbare, den de Hadeln einst übersah, noch kein Film so richtig geglückt, aber gerade im kraftvollen Scheitern, in der krawalligen Übertretung, im lauthalsen Fehlen liegt der Reiz seines Oeuvres. Dass Roehler nun mit einer Verfilmung von Michel Houellebecqs Roman Elementarteilchen an den Start geht, mag auf den ersten Blick überraschen. Was soll man 2006 mit der Bearbeitung eines Modebuchs von 1998 wollen, das spätestens seit 1999 zutiefst vergessen ist? Auf den zweiten Blick liegt für Roehler nichts näher als das, was vom Grunde her aus Houellebecqs philosophisch angedicktem Erotikeintopf schimmert. Wie den französischen Autor könnte man den deutschen Filmemacher einen Zyniker nennen, der sich keine Illusionen darüber macht, dass körperliche Liebe etwas ist, das man sich kaufen kann. Im Gegensatz zu Houellebecq ist Roehler, bei aller Einsicht in die Kaputtheit der ökonomisierten und mediatisierten Menschen, aber überdies ein Romantiker. Seine Protagonisten haben den lächerlichen Kampf um die Vereinbarkeit von Sex und Liebe nicht aufgegeben. Wie in Agnes und seine Brüder präsentiert Elementarteilchen verschiedene Strategien, zum Glück durchzubrechen. Michael (Christian Ulmen) und Bruno (Moritz Bleibtreu) sind zwei Halbbrüder, die als Spätfolge ihrer 68er Kindheit unter einer sexuell befreiten Hippie-Mutter (Nina Hoss) ein unerledigtes Liebesleben mit sich herumschleppen. Während der erfolgreiche Biologe Michael sein Triebleben völlig sublimiert hat und auf die Entkoppelung der Fortpflanzung von der Paarung hinarbeitet, ringt der in einer Ehe unbefriedigte Lehrer Bruno tagtäglich mit seiner Lust, die sich an der unbedarften Attraktivität seiner Schülerinnen entzündet. Die beste Szene des Films zeigt einen Annährungsversuch getrieben aus einem Missverständnis: Weil Bruno nur an Sex denkt, muss er das undeutliche Interesse einer Elevin als Avance begreifen. Den Irrtum deckt Roehler unaufgeregt, ja gefühlvoll auf. Eine Männerhand legt sich auf ein Mädchenknie, eine Mädchenhand ergreift die Männerhand, um sie nach einem Moment des Wartens langsam, aber bestimmt zurückzuweisen. Kein Klischee, keine Karikatur, kein Witz: Das ist der - in gewisser Weise: unroehlerhafte - Ton, der in Elementarteilchen herrscht. Eine leichte Ernsthaftigkeit, eine zärtliche Verzweiflung, die am Ende des Films zu seinem Mangel wird. Es passiert nichts mehr: Christian Ulmen setzt, trotz späten Glücks mit der Jugendliebe (Franka Potente), sein unbeteiligt-scheues Grinsen nicht ab, und der furiose Moritz Bleibtreu braucht absichtsvoll zu lange, um sich zu der Behinderung seiner neu entdeckten Zuneigung (Martina Gedeck) zu bekennen. Der gereifte Roehler hat den krakehligen Houellebecq befriedet, aber das ein wenig zu sehr.

Um einen Getriebenen geht es auch Matthias Glasner. Mit Die Mediocren und Sexy Sadie hatte Glasner Mitte der neunziger Jahre Gestaltungswillen angemeldet, wurde aber nach seinem stilvoll gescheiterten Film Fandango 1998 ans Fernsehen ausgeliehen. Nun erzählt er mit dem Wettbewerbsbeitrag Der freie Wille in fast drei Stunden das Schicksal eines Vergewaltigers, der - mit den Worten von Peter Lorres Kinderschänder aus M - Eine Stadt sucht einen Mörder - nicht will, sondern muss. Theo (Jürgen Vogel) ist das Opfer seiner Täterschaft, ohne dass ihm das mildernde Umstände einbringen würde; bewusst spart Glasner die Vorgeschichte seines Vergewaltigers aus. In erbarmungsloser Chronologie zeigt er eine erste Tat in ungekürzter Härte und Trostlosigkeit, um nach neun Jahren Maßregelvollzug den versuchten Weg in eine Normalität an der Seite von Nettie (Sabine Timoteo) zu begleiten, die auf eine Art auch eine Entlassene ist: Sie versucht, aus dem Gefängnis von zu viel Vaterliebe auszubrechen. Vom Fernsehen unterscheiden Der freie Wille (anders als Sexy Sadie oder Fandango) nicht die fahlen Bilder, sondern auch die Langsamkeit. Durch sie wird, ähnlich wie bei Roehlers Behutsamkeit, ein Verständnis der Figuren möglich, das sich aus ihnen ergibt und nicht aus den Vorstellungen, die man von Vergewaltigern und ihren möglicherweise erlösenden Liebschaften im Kopf hat. Der sattsam bekannte Jürgen Vogel entdeckt so neue Nuancen an seinem Spiel, die erschütternd direkte Sabine Timoteo dürfte als Anwärterin auf einen Darstellerpreis gelten.

Das Mittelfeld des deutschen Auftritts auf der Berlinale, verteilt auf Forum und Panorama, bestimmen zweite Filme von in bestem Sinne solidem Nachwuchs. Henner Winckler und Ulrich Köhler haben nach ihren viel versprechenden Debüts (Klassenfahrt und Bungalow) erneut formal asketische Werke vorgelegt, die unter dem Begriff der "Berliner Schule" subsumiert einen guten Eindruck davon liefern, was ein Kino sein kann, das "deutsch" als ästhetische Kategorie versteht. Lucy beziehungsweise Montag kommen die Fenster erzählen in dokumentarisch genauer Beobachtung von zwei Müttern, die eine selbst noch Kind, die andere als Ärztin am Beginn eines - wenn auch modernen - bürgerlichen Familienlebens. Für beide Frauen, auch für ihre Männer, äußert sich der Konflikt im Bestehen auf individueller Freiheit bei gleichzeitigem Verlust derselben durch Verantwortung. Wo Lucy sich von ihrem eigentlich nicht unsympathischen und in den Fragen der Vaterrolle prinzipiell aufgeschlossenen Freund wieder trennt, kehrt die junge Ärztin bei Ulrich Köhler nach einem Ausflug in einen würdelos gealterten Hotelbau aus den siebziger Jahren mitten in den erhabenen Wäldern des Harzes zurück, wenngleich mit ungewisser Perspektive. Ein wenig leidet Montag kommen die Fenster am selbst auferlegten Schweigen, an den auf eine Grundtraurigkeit gedimmten Emotionen, die zugleich den attraktiven Stil der Enthaltsamkeit ausmachen.

Den größten Ausfall im deutschen Kader bildete überraschenderweise Dominik Grafs Film Der rote Kakadu, dessen verquaste Liebesgeschichte im Künstlermilieu des Dresden vor dem Mauerbau weder ein Gespür für das Künstlermilieu in Dresden vor dem Mauerbau erkennen ließ, noch eine dramaturgisch überzeugende Liebesgeschichte. Vanessa Jopp hatte mit Vergiss Amerika vor Jahren die Latte gar nicht erst so hoch gehängt wie Grafs Reputation steht; Komm näher spazierte als verlogener Sozialkitsch vom vermuteten wahren Berliner Leben der so genannten einfachen Menschen dennoch spielend drunter durch.

Die Abwehr des deutschen Kinos, also der üblicherweise zuverlässige Dokumentarfilm enttäuschte hingegen nicht. Winfried Junge verschob das Ende seines so reichen wie rührenden Lebensbegleitungsprojekts der Kinder von Golzow mit Und wenn sie nicht gestorben sind... ein weiteres Mal. In seinem insgesamt fast fünfstündigen Auftakt zum Abschluss kommen Nebenfiguren - Christian, Ilona, Petra, der zweite Jürgen und Winfried - zum Zug. Die beiden Frauen haben die Zusammenarbeit vor Jahren aufgekündigt, aber gerade durch die Fragmente ihrer Biographien scheint eine Wahrheit über das Leben in der DDR, die die Bilder verständlicherweise nicht zeigen können. Um die Wahrheit über den DDR-Sport geht es Marcus Welsch. Sein Portrait einer ehemaligen DDR-Spitzenvolleyballerin (Katharina Bullin - Und ich dachte, ich wär´ die Größte) zeigt, wie menschenverachtendes Doping für den Sieg der sozialistischen Sache eine Biographie zerstört hat. Mit starkem Willen kämpft Katharina Bullin gegen ihren kaputten Körper, der ihr kaum mehr eine angenehme Schlafposition gestattet. Und gegen eine Vergangenheit, in der Verletzung kein Hindernis, sondern ein Mittel dazu war, eine Große zu werden.


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